[Kairo] Plebiszite und Parasiten

Revolution in Kairo

Das für den 19. März anberaumte Referendum über vorgeschlagene Ergänzungen der ägyptischen Verfassung vermittelt den Leuten das Gefühl, dass der revolutionäre Prozess sein Ende erreicht. Die beschränkte Reichweite der Ergänzungen, die mehrheitlich um Fragen der Wahl kreisen (wie die Beschränkung der Wiederwahl des Präsidenten, die Reduzierung der Amtsperiode des Präsidenten, eine rechtliche Wahlaufsicht...), macht klar, dass die elf Männer des Kommittees zur Erstellung eines Entwurfs für die Ergänzungen nicht im Sinne hatten, die bestehende Ordnung zu kippen, sondern bemüht, einen legalen Rahmen für den Übergang aus Mubaraks Herrschaft zu etablieren.

 

Dennoch hat sich die juristische Community – darunter Menschenrechtsanwälte, Rechtsprofessoren, allgemein praktizierende Anwälte – in den letzten paar Tagen begonnen, sich rund um den Konsens zusammenzufinden, dass eine völlige Neuformulierung der Verfassung notwendiger nächster Schritt des politischen Prozesses ist. Viele Juristen halten die Ergänzungen für einen gefährlichen Rückschritt. In Folge haben viele in der juristischen Community damit begonnen, einen Aufruf zu organisieren, das Referendum zu kassieren und/oder im Protest gegen den gesamten Prozess mit “nein” zu stimmen.

 

Es gibt verschiedene grundlegende Einwände gegen die Ergänzungen zur Verfassung, von denen der bedeutendste sich gegen die ergänzte Version des Artikels 189 und die Implikationen des so geschaffenen Prozesses richtet. Die Ergänzung spricht von einer “Konstituierenden Versammlung, bestehend aus 100 Personen, die in einer gemeinsamen Sitzung der beiden Häuser des Parlaments gewählt werden sollen, die im einem Zeitraum von nicht mehr als sechs Monaten nach Gründung eine neue Verfassung ausarbeiten sollen.”

 

Die Frage, die selbstverständlich allen in den Kopf kommt, ist, wer wohl die Mehrheit in dieser gemeinsamen Sitzung der beiden Häuser des Parlaments haben wird. Viele politische Analysten sagen voraus, dass die Überreste der zuvor herrschenden Nationalen Demokratischen Partei (NDP) zusammen mit der Muslim Bruderschaft am Ende die Mehrheit der Sitze im Parlament einnehmen werden, da diese beiden die organisiertesten Kräfte des Landes sind. Dies schafft eine Situation, in der diese beiden konservativen politischen Fraktionen eine Koalition eingehen und im Wesentlichen ihre eigene Verfassung schreiben können.

 

Die Grundannahme des westlichen, praktizierten konstitutionellen Rechts besteht darin, dass eine Körperschaft, die zum Schreiben einer neuen Verfassung geschaffen wird, ein weites Spektrum an Positionen beinhalten muss, da sie ansonsten von der Bevölkerung als illegitim erachtet wird. Auf ähnliche Weise stehen viele juristische Analysten in Ägypten dem Mangel an einem offenen und repräsentativen Prozess beim Schreiben einer neuen Verfassung extrem skeptisch gegenüber. Es wurde so viel Blut und Hoffnung in die Revolution gesteckt; viele Leute wollen auf keinen Fall, dass die Verfassung von einer konservativen Mehrheit gekapert wird, was andere politische Kräfte aus dem Prozess ausschließt. Aber es bleibt derart wenig Zeit bis zum Referendum, dass unwahrscheinlich ist, eine Kampagne gegen das Referendum bis dahin organisiert werden kann.

 

Diese Situation ist angesichts des derzeitigen Zustands der konstitionellen Gesetzgebung in Ägypten besonders gefährlich. Der rechtliche Status der Machtergreifung durch das Milität nach dem Rücktritt Mubaraks wird von vielen Anwälten skeptisch gesehen. Zudem bestand eine der ersten Handlungen des Obersten Militärrats darin, die Verfassung außer Kraft zu setzen. Im Ergebnis gibt es seit dem Rücktritt Mubaraks eine konstitutionelle Krise in Ägypten.

 

Einige Wissenschaftler argumentieren, dass die Armee, in streng rechtliche Begriffe gefasst, einen Putsch durchführte, der die Verfassung bei ihrer Machtübernahme nach dem Rücktritt Mubaraks ungültig machte. Andere sagen, dass der Fortschritt in Richtung Stabilität unter der Annahme, die Verfassung sei nach wie vor gültig weitergeführt werden soll. Die Sichtweise von Tahani al-Gebali, Ägyptens erste weibliche Richterin und Vize-Präsidentin des Obersten Verfassungsgerichts, bezeichnen die rechtlichen Schwierigkeiten in dieser Angelegenheit. Sie argumentiert, dass die Verabschiedung der Verfassungsergänzungen die Aussetzung der alten Verfassung überschreiben und das Militär so auf gesetzliche Weise blockieren könne, eine legitime Entscheidungsrolle im politischen Prozess des Landes einzunehmen, was ihre Forderung nach Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ungültig mache.

 

Wahlweise macht die Muslim Bruderschaft schon jetzt Pläne für ihr eigenes Erscheinen als bedeutende politische Kraft und wird voraussichtlich dazu aufrufen, im Referendum mit “ja” zu stimmen. Die herausragende Rolle, die Mitglieder der Bruderschaft im Kommittee für den Entwurf der Ergänzungen spielen, stärkt nur die Skepsis der Linken über die Aufrichtigkeit dieses ganzen Prozesses. Die Erwartung eines Verfassungskommittees, das potentiell von NDP und Bruderschaft dominiert wird, gibt vielen Leuten Grund, eine Verschwörung mit der Armee zu vermuten.

 

Dieses Zusammenspiel von Gesetz, Politik und Macht wird wahrscheinlich zentral für die Zukunft der Revolution sein. Das gegenwärtig in Ägypten fehlende Bereitschaft, an rechtlichen und verfassungsrechtlichen Normen festzuhalten, bietet reichlich Gelegenheit, den Prozess zu manipulieren, während sie zugleich die Möglichkeiten reduziert, Missbräuche zu ahnden. Die Fähigkeit der ägyptischen Bevölkerung, den Verlauf dieser Herausforderungen zu beeinflussen wird im Fortgang des Prozesses weiter wachsen.

 

Die Armee zwingt uns eine frühreife ja/nein Entscheidung auf, über die wir in Ägypten alle grübeln. Wie alles in den letzten Wochen, seit die Armee involviert ist, sind die Konsequenzen noch unklar.

 

Von: http://www.occupiedlondon.org/cairo

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Es wundert, dass niemand bei diesem Titel den Mund aufmacht. Mensch-Tier-Vergleiche gehen mal überhaupt nicht! Sollte die Artikelüberschirft tatsächlich von einen oder einer dortigen kommt, dann ist da noch einiges an emanzipatorisch-antifaschistischer Arbeit zu leisten.