Die neue deutsche Frage (I)

Erstveröffentlicht: 
02.11.2010

BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) - Deutsche Außenpolitiker debattieren über ein Ende der "europäische(n) Ordnung von Maastricht". In Berlin gewinne man "zunehmend den Eindruck", Deutschland glaube "alleine schneller, weiter und besser vorwärts kommen" zu können als im europäischen Verbund, heißt es in einem neu veröffentlichten Diskussionspapier aus dem Berliner Büro des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR). So wendeten unter anderem die "industriellen Eliten" der alten Bundesrepublik im Kampf um Weltmarktanteile "ihren Blick schon seit langem von Europa ab". "Jenseits der offiziellen Rhetorik" verliere das seit 1949 gültige außenpolitische Paradigma der europäischen Integration mittlerweile deutlich an Gewicht. Im EU-Ausland sei "auch von besonnenen Gesprächspartnern" inzwischen die sorgenvolle Frage zu hören, "ob man Angst vor einem neuen, nationalen Deutschland haben muss". Gleichzeitig büßten die transatlantischen Bindungen ihre vormalige Kraft ein. Damit "verblassen zwei zusammenhängende Friedensordnungen, die das 20. Jahrhundert bestimmt haben", urteilt der ECFR. Im Mittelpunkt der Verschiebungen steht dem Thinktank zufolge der Machtgewinn der Bundesrepublik seit 1990: Es stelle sich "eine neue 'deutsche Frage' für das 21. Jahrhundert".


Nach deutschem Modell
Wie es in dem Diskussionspapier des ECFR heißt, sei "das europäische Selbstverständnis" der alten Bundesrepublik "spätestens seit der 'Normalisierungspolitik' unter Bundeskanzler Gerhard Schröder erodiert".[1] Bonn habe von 1949 bis 1989, "unterstützt von den USA und angetrieben durch die Erblast des Zweiten Weltkriegs", stets die sogenannte europäische Integration gepflegt. Dabei habe sich die deutsche "finanzielle Großzügigkeit" in "europäischem Machtzuwachs" ausgezahlt: Die Bonner Republik habe "das europäische System weitgehend nach (ihren) sozioökonomischen und juristischen Vorstellungen zu gestalten" vermocht - "siehe Binnenmarkt und Euro". Letztlich sei sie auf diese Weise "zum Hauptpfeiler der EU" geworden. Inzwischen jedoch träten "die schleichenden und langsamen Verschiebungen der letzten zwei Jahrzehnte offen zu Tage": "Die Akzente der deutschen Europapolitik haben sich deutlich verschoben."

Jenseits offizieller Rhetorik
Dem ECFR zufolge tritt die gestärkte Bundesrepublik in der EU heute offener für ihre "nationalen Interessen" ein. Dabei würfen die EU-Staaten der Bundesregierung "zunehmend Alleingänge oder eine Blockade-Haltung vor"; die Berliner Politik werde im europäischen Ausland sogar "teilweise schon als Diktat empfunden". Zwar habe sich der deutsche Außenminister erst kürzlich erneut zur europäischen Integration bekannt. Doch sei völlig unverkennbar, dass sich "jenseits der offiziellen Rhetorik" das außenpolitische Paradigma Deutschlands verschoben habe. Die Autorin des ECFR-Diskussionspapiers, eine innereuropäisch wie transatlantisch bestens vernetzte Außenpolitikerin, konstatiert ein "unterschwellige(s) Denken der neuen 'Berliner Republik', Europa nicht länger zu brauchen".

Alleine schneller
Wie es in dem Papier heißt, wendeten die im Kampf um Weltmarktanteile stehenden "industriellen Eliten" der alten Bundesrepublik den "Blick schon seit langem von Europa ab". Die EU gelte ihnen allenfalls noch als nützliche "Basis für globale Marktstrategien" gegenüber aufstrebenden Mächten wie China, Indien und Brasilien. Zugleich beklagten sie sich "über die unproduktiven europäischen Partner", die Abflüsse aus dem deutschen Staatshaushalt verursachten - übersähen aber gewöhnlich die für sie äußerst vorteilhafte, "fast parasitäre Position", welche die aus der anhaltenden Schwäche der Nachbarstaaten resultierende "deutsche Exportdynamik im europäischen Binnenmarkt innehat". Mit Blick auf das politische Establishment urteilt der ECFR, Deutschland verfüge heute "über mehr ökonomische und gleichzeitig politische Macht" als Frankreich; damit sei die Notwendigkeit, Paris mit seinem politisch-militärischen Potenzial sorgsam einzubinden, nicht mehr im selben Maße wie früher gegeben. "Zusammengefasst", berichtet die Autorin, "gewinnt man in Berlin zunehmend den Eindruck, Deutschland fühle sich von Europa zurückgehalten", es glaube "alleine schneller, weiter und besser vorwärts kommen" zu können.

Das Ende von Maastricht und Jalta
Damit "verblassen zwei zusammenhängende Friedensordnungen, die das 20. Jahrhundert bestimmt haben", heißt es beim ECFR - die "europäische Ordnung von Maastricht" und die "transatlantische Ordnung von Jalta". Denn gleichzeitig mit der Abkehr von Teilen der deutschen Eliten von der EU zögen sich "die USA von dem europäischen Kontinent zurück", wohingegen Europa "unterwegs" sei, "eine Partnerschaft ganz neuer Dimension mit Russland anzustreben".

Medialer Autismus
Angesichts der weltpolitischen Tragweite der aktuellen Umbrüche hat das Berliner Büro des ECFR letzte Woche ein Programm "Deutschland in Europa" gestartet, das die in dem vorliegenden Papier umrissenen Entwicklungen zum Gegenstand ausführlicher Diskussionen machen soll. Teile des Programms sind Diskussionsveranstaltungen sowie das aktuelle Diskussionspapier. Eine mediale Grundlage für eine solche Debatte sei in Deutschland derzeit nicht gegeben, meint der ECFR: "Die deutschen Leitmedien drehen sich zunehmend um 'Berlin' und entwickeln dabei einen gewissen Autismus", der jegliche "Diskursfähigkeit mit dem europäischen Ausland" zunichte mache. Dabei werde "vor allem in Berlin entschieden, ob Europa sein globales Potential im 21. Jahrhundert voll ausschöpfen will und wird". In der EU könne "nichts ohne, geschweige denn gegen Deutschland" geschehen. "Für alle strategischen Zukunftsfelder einer globalen, europäischen Politik (...) kommt Deutschland daher eine Schlüsselrolle zu!", schreibt die Autorin vom ECFR mit Blick auf die nun angestoßene Debatte.

Hauptgewinner
Um die EU zu retten, schlägt das ECFR-Diskussionspapier eine "neue europäische Nüchternheit" vor. In Berlin müsse einerseits evaluiert werden, "welchen Vorteil gerade Deutschland von Europa hat", andererseits, "was Europa kosten soll und darf". "Deutschland muss sich entscheiden", heißt es, "ob es im Alleingang aus der Europäischen Integration herauswachsen möchte, oder - als Hauptdarsteller und Hauptgewinner zugleich - ganz Europa in eine neue globale Rolle im 21. Jahrhundert führen möchte." Den 26 weiteren EU-Mitgliedstaaten legt das ECFR-Papier eine freiwillige Unterordnung nahe. "Die europäischen Partner", heißt es weiter, "sollten indes alles tun, um Deutschland diesen Schritt zu einem solidarischen und starken (...) Europa zu erleichtern".
Über auswärtige Beobachtungen und Einschätzungen zum deutschen Dominanzstreben in der EU und über die EU hinaus berichtet german-foreign-policy.com am morgigen Mittwoch.



[1] Sämtliche Zitate sind entnommen aus: Ulrike Guérot: Wie viel Europa darf es sein? Überlegungen zu Deutschlands Rolle im Europa des 21. Jahrhunderts. Ein Diskussionspapier, ecfr.eu 28.10.2010