Unsere lieben Linksautonomen

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Erstveröffentlicht: 
08.08.2017
Nach den G-20-Krawallen in Hamburg schien für viele alles klar: Linksautonome Zentren wie die Rote Flora gehören endlich geschlossen. Doch jetzt herrscht Stillstand. Anwohner arrangieren sich mit der Szene, die Polizei prüft „diverse Optionen“ – und die SPD duckt sich weg. Von Thorsten Fuchs

 

Hamburg. Es wäre doch ganz einfach gewesen. Manchmal, wenn sie durch ihre gesplitterte Schaufensterscheibe hinausschaut, fragt sich Jutta Franck wieder, ob es vielleicht nur ein Megafon gebraucht hätte, damit am Abend des 7. Juli alles ganz anders gekommen wäre.

 

„Wenn es den Jungs aus der Flora auch zu viel war mit der Gewalt“, sagt sie vor ihrer großen Regalwand voller schwarzer Teedosen, „warum ist dann nicht mal einer aufs Dach gestiegen und hat gerufen: Leute, jetzt ein bisschen ruhiger, es reicht?“

 

Die Teehändlerin Jutta Franck, 70 Jahre alt, die langen grauen Haare hochgesteckt zum Dutt, lässt eine Pause, in der sie sich die Frage selbst noch mal zu stellen scheint. „Hätte man doch machen können, oder?“

 

Was man sicher sagen kann: Es ist an diesem Abend niemand mit einem Megafon aufs Dach der Roten Flora gestiegen.

 

Deshalb gingen in jener Nacht Bilder von brennenden Barrikaden und geplünderten Läden um die Welt. Deshalb schlugen die Vermummten auch bei ihr, bei „Tee Stüdemann“, die Scheibe ein. Und deshalb gibt es nun einen neuen mächtigen Streit darüber, was denn nun werden soll aus linksautonomen Zentren wie der Roten Flora, die über Jahrzehnte immer wieder zu Kristallisationspunkten der Gewalt wurden. Warum, das ist nach den Krawallen beim G-20-Gipfel die große Frage, gibt es die eigentlich noch?

 

Das Schanzenviertel in Hamburg, einen Monat nach den Krawallen. Die zerstörten Geldautomaten der Haspa sind mit Metallplatten verhängt, darauf ein Wegweiser zur nächsten Filiale. Beim geplünderten Drogeriemarkt Budni läuft der Notverkauf hinter Sperrholzplatten. An der Roten Flora hängt ein Zettel mit Tipps für den autonomen Leser: „Prahlt nicht mit Straftaten, die ihr (angeblich) gemacht habt“, steht da. Weiterer Hinweis: Die Klamotten aus den Tagen bitte wegschmeißen. „Auch wenn es deine coolsten Schuhe sind, sie sind Knast nicht wert!“ Oben auf der Flora ein bettlakengroßes Plakat: „Alle hassen die Polizei“, steht da auf Französisch.

 

Wenn es nach der CDU ginge, dann gäbe es diese Szenerie so bald nicht mehr. Dann würden hier, wie am 7. Juli, wieder Wasserwerfer auffahren und Spezialeinsatzkommandos aufmarschieren.

 

„Die Rote Flora gehört geschlossen“, sagte CDU-Generalsekretär Peter Tauber schon kurz nach den Krawallen. „So etwas wie die Rote Flora kann man nicht hinnehmen“, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Peter Altmaier, Kanzleramtsminister, verglich die Rote Flora mit Hassprediger-Moscheen.

 

Doch statt der Wasserwerfer rollen jetzt wieder Reisebusse Richtung Rote Flora: langsame Fahrt, die Augen zur Seite, das Autonomenzentrum als Touri-Attraktion.

 

Ein Viertel der Gegensätze


Auf der anderen Straßenseite, auf dem breiten Boulevard vor den portugiesischen Cafés, sitzen Paare und kleine Gruppen mit ihrem Galao. Milchkaffee mit Gruselfaktor. „Da vorne“, erklärt eine etwa 20-Jährige ihren Eltern, „haben sie dann die Barrikaden abgefackelt.“ Schanzen-Realität einen Monat nach den Krawallen.

 

Die Debatte um die Zukunft der Roten Flora ist eine schwierige. Sie handelt von der Ungewissheit, welche Rolle genau ihre Aktivisten bei den Krawallen eigentlich gespielt haben. Sie handelt von einer CDU, deren Hardlinerteile nie ihren Frieden mit der Flora gemacht haben. Von der Hamburger SPD, der das ganze Thema reichlich unangenehm ist und die sich jetzt so gut es geht wegduckt. Und sie handelt von einem Viertel, dessen Bewohner mehrheitlich entsetzt sind über die Gewalt während des G-20-Gipfels. Noch entsetzter wären sie allerdings, wenn die Flora jetzt tatsächlich geräumt würde. Weil sie vielen hier näher ist als der Senat, die Polizei oder gar die CDU.

 

Die Schanze, das ist ein Viertel der Gegensätze. Linke Haltung, aber Mietpreise wie in Blankenese. Alternativer Kiez und Partymeile für die Umlandjugend. Die Schanze hat sich gewandelt. Gegangen sind die Arbeiter, die Ketchup-Fabrik Hela, die Ausländer. Gekommen sind Werbeagenturen, Reedertöchter, Akademikerfamilien. Einige sind aber auch geblieben. Bäcker Stenzel zum Beispiel, der den Autonomen bei ihren Treffen schon mal die Brötchen bringt. Oder Jutta Franck mit ihrem Teeladen.

 

Jutta Franck hat für die Rote Flora gekämpft, auch wenn sie selbst das so nicht formulieren würde. „Ich bin nie auf die Straße gegangen“, sagt sie, als sei das etwas Unanständiges: Demonstrieren. Aber als ein Investor in den Achtzigerjahren das alte Flora-Theater zu einem Musicalhaus umbauen wollte, war es auch ihr zu viel. Das Haus, in dem ihre Mutter seit 1954 ihren Teeladen betrieb, sollte abgerissen werden, für das geplante Parkhaus des neuen Theaters. Dieses eine Mal nun stellte sich Jutta Franck auf die zentrale Kreuzung des Viertels. Das Bild mit ihr, der blonden, langhaarigen Bürgerlichen, ging durch die Presse. Die Autonomen, die die Flora 1989 besetzten, hängten es ins Foyer. So wurde die Teehändlerin Franck ein Teil der Roten Flora. „Gefragt hat mich ja keiner“, sagt sie. Aber ein wenig stolz war sie doch.

 

In all den Jahren seitdem war die Rote Flora ein Ort der Anarchie. Aber ein paar Regeln gab es auch. Zum Beispiel: Zum 1. Mai oder nach dem Schanzenfest gibt es Krawall. Oder auch: Die meisten in der CDU und manche in der SPD verlangen die Räumung. Und: Die Autonomen in der Roten Flora machten so rechtzeitig vor den Krawallen die Tür zu, dass sie juristisch nicht als Draht­zieher zu fassen waren. Noch so eine Regel: Die Läden der Eingeses­senen bleiben verschont. Stenzel, Stüdemanns, Budni hatten nichts zu befürchten. Im Gegensatz zur Deutschen Bank und Boutiquen mit kapitalismusfreundlichen Namen wie „Kauf dich glücklich“. „Manchmal kamen sie sogar am nächsten Tag zu mir und fragten besorgt, ob alles in Ordnung ist“, sagt Jutta Franck.

 

„Eigentlich“, sagt Matthias Bartke, „war die Rote Flora auf einem positiven Weg.“ Bartke ist SPD-Bundestagsabgeordneter, die Schanze gehört zu seinem Wahlkreis. Zudem war er Stiftungsratsvorsitzender der Lawaetz-Stiftung, der das Gebäude seit 2014 gehört. Gerade, so schildert er es, waren die Autonomen so schön auf den Weg der Verbürgerlichung eingebogen. Einige Floristen der ersten Stunde sind inzwischen am rechten Flügel der SPD angekommen. 2013 haben die Autonomen innen renoviert. Auch ein besetztes Haus braucht mal neue Bäder. Es schien ruhiger zu werden um die Rote Flora. Für viele war sie längst das Gegenbild einer so streng auf Wirtschaftlichkeit getrimmten Stadt. Und jetzt das. Einen „herben Rückschlag“, so nennt Bartke die Krawalle.

 

Aber sind die Krawalle an jenem Freitagabend wirklich von der Roten Flora ausgegangen? Genau das ist unklar. Fest steht, dass es Aktivisten aus der Flora waren, die zu der „Welcome to Hell“-Demo am ­Donnerstag aufgerufen und Autonome aus ganz Europa eingeladen hatten. Dass sie Gewalt zuvor auch ausdrücklich gebilligt haben. Aber sonst? Die Autonomen der Roten Flora reagieren derzeit nicht auf Anfragen. Die Polizei erklärt, die Ermittlungen der 170 Beamte starken Sonderkommission Schwarzer Block stünden erst am Anfang.

 

„Anheizen, das können sie“


Die arg dezente Distanzierung von der Gewalt, die dümmlichen Sätze des Flora-Anwalts Andreas Beuth („Warum nicht Pöseldorf?“), alles das hat viele in der Schanze verärgert. „Anheizen, das können sie“, sagt Jutta Franck. „Warum nicht mal beruhigen?“ Aber die Flora schließen, das will auch sie nicht.

 

Natürlich würde er demnächst wieder Brötchen in die Flora bringen, sagt Bäcker Norbert Stenzel. „War doch gar nicht so viel anders als bei früheren Krawallen.“ „Es soll doch niemand glauben, die Leute würden sich einfach in Luft auflösen, wenn man die Flora schließt“, sagt André Sorgenfrei im Buch- und Plattengeschäft Zardoz. „Über die Fehler des Senats und der Polizei redet kaum jemand mehr“, sagt Alvaro Pina, Inhaber des Restaurants „Cantina Popular“. Dabei habe gerade die Polizei mit den über der Stadt kreisenden Hubschraubern und radikaler Rhetorik die Gewalt geradezu herausgefordert. „Die Rote Flora“, glaubt Pina, „wäre nicht mehr als ein Bauernopfer.“

 

Alvaro Pinas Worte haben in der Schanze Gewicht. Was auch an seinen Verbindungen zur St.-Pauli-Prominenz liegt. Die „Cantina Popular“ betreibt er zusammen mit Heinz Strunk, dem Schriftsteller. Und mit Karl-Heinz Dellwo, dem Ex-Terroristen, der in der Schanze inzwischen einen kleinen Verlag betreibt. Wie die Flora überhaupt eine Menge Unterstützer hat. Zum Beispiel auch den Musiker Jan Delay, der immer mal in und vor der Flora spielt. Im September, hat er jetzt angekündigt, spielt er beim „rockgegenselbstverliebtespdärschediegegenunserenwillendiescheisseindiestadtholenundhinterherherumjammern“.

 

Schwierige Zeiten also für Olaf Scholz, den Ersten Bürgermeister. Was tun? „Ich habe nicht vor, 2020 noch über das Thema Rote Flora zu reden“, sagte Scholz in einem ­Interview mit „Bild“. Was das bedeutet, sagte er nicht. Klarheit geht anders. „Bei dem Thema gibt es für uns nichts zu gewinnen“, sagt ein Hamburger Sozialdemokrat. Die politische Sommerpause sei ihm äußerst recht. Luft holen, Zeit gewinnen.

 

Entgehen kann Scholz dem Thema dennoch nicht. Nach den Krawallen traf er sich im Altonaer Rathaus mit geschädigten Anwohnern und Geschäftsleuten. Jutta Franck, die Teehändlerin, war auch dabei. Sie hielt ihm seine Sätze aus der Zeit vor dem Gipfel vor. Dass das Ganze werde wie ein Hafengeburtstag, dass niemand etwas merkt, diese Sätze. Was er entgegnete? Dass er selbst nicht damit gerechnet habe. „Fand ich ein bisschen schwach“, sagt Jutta Franck. „Man hätte doch was ahnen können.“ Jedenfalls wenn man sich auskennt in seiner Stadt.

 

Ihren Schaden übernimmt die Versicherung. Heute kommt endlich der Glaser. Bei der Teehändlerin Jutta Franck immerhin wird er die letzten Spuren beseitigen, die die Randale hinterlassen hat.


 

 

Wie weiter mit der Roten Flora?

Zumindest so weit hat sich Olaf Scholz festgelegt: „Es kann dort nicht so bleiben, wie es ist“, kündigte Hamburgs Erster Bürgermeister jetzt an. „Militante Gewalt darf aus der Roten Flora nicht mehr unterstützt werden.“ Doch was heißt das? Wie kann Hamburg sein Problem mit der Roten Flora lösen? Die wichtigsten Optionen im Überblick:

 

Räumung

Das spricht aus Sicht der Stadt dafür: Es wäre ein eindeutiges Signal, dass die Stadt Aufrufe zur Gewalt und besetzte Räume nicht duldet.

Das spricht dagegen: Die Räumung würde voraussichtlich massive Krawalle bedeuten. Außerdem wäre eine Kündigung auch juristisch schwierig: Besitzer des Gebäudes ist die Lawaetz-Stiftung, nicht die Stadt.

 

Steuerrazzia

Dafür: Die Rote Flora hat offenbar seit ihrem Bestehen keine Abgaben und Gebühren nach den zahlreichen Partys und Konzerten in ihren Räumen gezahlt – von Miete ganz zu schweigen.

Dagegen: Es gibt keine festen Ansprechpartner in der Roten Flora, die Forderungen wären also schwer zu adressieren.

 

Durchsuchung

Dafür: Eine Hausdurchsuchung könnte den Ermittlern wichtige Erkenntnisse darüber bringen, welche Rolle die Rote Flora bei den Krawallen gespielt hat.

Dagegen: Neue Verhältnisse in der Roten Flora würde eine Durchsuchung nicht bringen. Der Widerstand wäre groß.

 

Legalisierung

Dafür: Ein Mietvertrag und verbindliche Regeln wären ein Weg zur Verbürgerlichung und Kon­trollierbarkeit der Roten Flora.

Dagegen: Bislang haben sich die Autonomen auf solche Abmachungen mit der Staatsmacht nie eingelassen.

 

Weiter so

Dafür: Der Fortbestand der Roten Flora in der jetzigen Form wäre für die Stadt der bequemste, weil konfliktärmste Weg.

Dagegen: Nach den Krawallen beim G-20-Gipfel ist ein schlichtes „Weiter so“ der Stadtgesellschaft schwer vermittelbar. Selbst viele Sympathisanten fordern Veränderungen.


 

 

Ermittlungen gegen 170 Krawallmacher und einen Rechtsanwalt

Nachspiel des Krawalls: Die juristische Aufarbeitung der G-20-Krawalle verläuft bislang schleppend. Rund 1500 Randalierer sollen nach Schätzungen der Polizei für die schweren Ausschreitungen während des Gipfels im Schanzenviertel verantwortlich sein. In Untersuchungshaft befinden sich nach Angaben der Hamburger Staatsanwaltschaft aktuell allerdings nur noch 32 Personen.

 

In 107 Verfahren ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen namentlich bekannte Beschuldigte und in 53 Verfahren gegen unbekannt. Die Verdächtigen sollen vor allem Steine und Flaschen auf Polizeibeamte geworfen haben. Von den 13 Verdächtigen, die ein Spezialeinsatzkommando auf dem Dach des Hauses Schulterblatt 1 festgenommen hatte, befindet sich keiner mehr in Haft. Von jenem Dach war nach Einschätzung der Polizei ein Hinterhalt gegen die Beamten vorbereitet worden. Unter den Verdächtigen sind nach Angaben der Justiz auch mehrere Personen aus dem Ausland.

 

Auch Andreas Beuth, Rechtsanwalt und Rote-Flora-Sprecher, ist im Visier der Justiz. Insgesamt sollen 25 Anzeigen gegen Beuth, der seit Jahrzehnten als Anwalt in der linken Szene aktiv ist, vorliegen. Er hatte nach den Krawallen „gewisse Sympathien für solche Aktionen“ bekundet und lediglich kritisiert, dass sie „im eigenen Viertel“ stattfanden. „Warum nicht in Pöseldorf oder Blankenese?“, sagte er. Später sagte er, er habe sich unglücklich ausgedrückt. Wegen seiner Äußerungen ermittelt trotzdem nun die Sonderkommission „Schwarzer Block“ gegen den 63-Jährigen. Der Tatvorwurf gegen Beuth: Belohnung und Billigung von Straftaten. Beuth droht damit eine Geld- oder eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren. Außerdem überprüft die Anwaltskammer seine Zulassung als Rechtsanwalt.