Minderjährige Flüchtlinge - Verlorene Menschen

Erstveröffentlicht: 
27.07.2017

Jugendliche, die allein aus ihrer Heimat fliehen, machen sich oft älter, als sie sind. Sie werden in Deutschland dann wie Erwachsene behandelt. Eine Geschichte über Augenschein und Behördenwillkür.

 

An einem klaren Sommermorgen sitzt Zoya auf einem Hartschalensitz im Foyer der Ausländerbehörde und wartet auf die Erlösung. Sie hat eine Nummer gezogen und ihren Rucksack unter sich auf das fleckige Linoleum gelegt, an der Wand gegenüber blinken rote Leuchtziffern. Es ist Montag, der Tag, an dem sich entscheiden soll, ob ihr Leben als 16 Jahre altes Mädchen weitergeht – oder ob sie als 24 Jahre alte Frau zurechtkommen muss. Zoya Qassemi, rundliche Wangen und lange Haare, trägt einen Rock, Leggins und Turnschuhe. Vor einem Monat hat sie ihren Pass eingereicht, und wenn es gut läuft, wird die Behörde das Dokument als Beleg akzeptieren. „Und dann bekomme ich mein wahres Alter zurück“, sagt sie fast tonlos.

 

Zoyas Geschichte handelt davon, wie leicht Jugendliche, die allein aus fremden Ländern geflüchtet sind, in Deutschland durch die Raster fallen. Es geht um das Wirrwarr der Berliner Behörden, um gekaufte Papiere und widersprüchliche Daten.

 

Wenn minderjährige Flüchtlinge einreisen und sich nicht ausweisen können, prüft das Landesjugendamt ihre Angaben bei einer qualifizierten Inaugenscheinnahme. 2016 begutachtete die Behörde rund 1900 junge Menschen und stufte 400 als volljährig ein. In diesem Jahr ging die Zahl der Inaugenscheinnahmen wegen der sinkenden Zugangszahlen auf bisher knapp 300 zurück. 140 Mal fiel das Urteil volljährig.

 

Wie häufig Fehleinschätzungen passieren, ist nirgends erfasst. Aber es gibt ein paar Details, die viele Fälle gemeinsam haben. „Es gibt keinen roten Faden, wie man solche Fälle lösen kann“, sagt ein Psychologe, der in einer Notunterkunft für Flüchtlinge arbeitet. Er will anonym bleiben, weil er nicht befugt ist, öffentlich zu sprechen. Er ist unter den erwachsenen Männern in dem Heim bereits fünf Mal auf junge Menschen gestoßen, die er zweifellos für Teenager hielt: „Die Jugendlichen sind auf sich allein gestellt in einem Land, wo jeder weiß, wie schwierig Asylverfahren sind – im Prinzip sind das verlorene Menschen.“

 

Zoya hebt den Kopf, als ein Mitarbeiter in den Warteraum tritt; er reicht ihr ein Schreiben, sie soll in vier Wochen wiederkommen, die Polizei braucht noch Zeit, um ihren Pass zu prüfen, sagt der Mann kühl. „Wir glauben nämlich, dass das Ding gefälscht ist.“

 

Sie hastet zur U-Bahn, Tränen laufen über ihre Wangen, aber sie will noch zur Schule, trotz allem. In ihrer Klasse in Kabul war sie Zweitbeste, in ihrer Willkommensklasse langweilt sie sich bereits.

 

Auch Jawid Shirzad möchte gern lernen. Bloß ist er noch nie zur Schule gegangen, nicht in Berlin und nicht im Iran, wo er aufgewachsen ist. Schon mit sechs arbeitete er, auf Baustellen meist, einer von zwei Millionen afghanischen Flüchtlingen im Iran. Jetzt lebt er in Berlin – in einem Heim für erwachsene Flüchtlinge. Wenn es stimmt, was er sagt, ist er 17 Jahre alt. Ein Mopp schwarzer Haare fällt schräg in sein glattes Gesicht, er sitzt in einem Büroraum des Heims, zieht die Schultern zusammen, als wolle er sich noch schmaler machen, als er ist. Jawid hat schon mehr erlebt, als seine Seele verkraftet hat; es ist nicht möglich, mit ihm über seine Flucht zu sprechen. „Es gefällt mir gut in Berlin“, sagt er, „ich habe auch einen deutschen Papa und eine deutsche Mama.“ Ein älteres Paar, das sich ehrenamtlich um ihn kümmert. Als Minderjähriger hätte er Anspruch auf Schulbildung, auf Förderung auf Jugendhilfe. Nichts davon bekommt er, weil er bei den Behörden als Mann Ende 20 erfasst ist.

 

Zoya und Jawid heißen eigentlich anders. Ihre echten Namen sollen verschwiegen werden, sie sind ja auf die Berliner Behörden angewiesen. Sie kommen aus unterschiedlichen Welten, Zoya, die aus einer gut situierten Familie in Kabul stammt, und auf der anderen Seite Jawid, der frühere Kinderarbeiter. Aber beide haben in Deutschland Zuflucht gesucht, weil sie in ihrer Heimat nicht sicher waren, allein, ohne Familie.

 

An einem Nachmittag Anfang Juni sitzt Zoya Qassemi an einem Holztisch in einer Charlottenburger Altbauwohnung, neben ihr Maria Wegener, die ihre Vormundschaft beantragt hat, auch ihr Name ist geändert. „Es ist wirklich grotesk“, sagt sie, „niemand, der Zoya gesehen hat, hält sie für volljährig.“ Wegener, eine schmale Frau Ende 50, ist aufgebracht. „Wir werden mürbe gemacht. Wie lange soll man das durchhalten?“ Sie hat viel Zeit investiert, ist mit Zoya von einer Behörde zur nächsten gefahren, überall wurden sie weiterverwiesen. Gegen die Altersfestsetzung haben sie Klage erhoben.

 

Zoyas Mutter starb bei ihrer Geburt, der Vater, ein ehemaliger hoher Offizier, wurde entführt und kehrte mit lauter Narben zurück, aber das weiß sie nur von Verwandten, sie hat keinen Kontakt, ihr Bruder hat sie großgezogen. Um ihre Flucht möglich zu machen, besorgte der ihr einen gefälschten Pass. Als Minderjährige hätte sie Afghanistan nicht ohne ihre Eltern verlassen dürfen.

 

In Berlin landete sie am 15. März 2017, wurde in einer Erstaufnahmestelle für Minderjährige in Zehlendorf untergebracht. Bei ihrer Inaugenscheinnahme am folgenden Tag gab es keine Zweifel an ihrem Alter, die Senatsjugendverwaltung stellte fest, „dass die Stimme der Antragstellerin jung klinge und sie keine Stirnfalten oder Halsfalten habe, sie besitze die schlanke Statur einer Jugendlichen“. So steht es in der Stellungnahme der Behörde zu der Klage. Die Ausländerbehörde nimmt von jedem Flüchtling Fingerabdrücke, gleicht sie mit der Datenbank Eurodac ab. Dabei kamen die Daten aus dem falschen Pass hoch. Zoya sagt, ihr sei nur kurz mitgeteilt worden, dass das Jugendamt nicht mehr für sie zuständig sei, sie solle sich im Ankunftszentrum im Hangar 5 von Tempelhof melden. 

 

Unstimmigkeiten und fehlerhafte Übersetzungen


Bei einer Inaugenscheinnahme sind eine Fachkraft des Landesjugendamts und ein weiterer Sozialarbeiter oder Psychologe anwesend. Die Gespräche dauern etwa 30 Minuten. Zoya sagt, sie habe das Gefühl gehabt, dass der Übersetzer sie nicht richtig versteht – ein Iraner, der Farsi spricht, in Afghanistan wird Dari gesprochen. Der Bericht der Senatsjugendverwaltung strotzt vor Unstimmigkeiten. Wie die Fakten so durcheinandergerieten, ist unklar – die Behörde wertet es als Zeichen dafür, dass Zoya lügt. „Der Vortrag der Antragstellerin ist insgesamt widersprüchlich und deshalb völlig unglaubhaft.“ Maria Wegener schüttelt den Kopf. „Sie hatte nie die Chance, ihre komplizierte Geschichte zu erzählen. Nicht im ersten Gespräch und im folgenden nicht.“

 

2015 kamen mehr als 4200 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Berlin, 2016 waren es knapp 1400. Seit Ende 2015 regelt das Sozialgesetzbuch, § 42f SGB VIII, wie eine Altersfeststellung ablaufen muss. Das Landesjugendamt kann seine Entscheidung in eigener Verantwortung treffen, an andere Behörden ist es nicht gebunden. Damit steht das Jugendamt vor einer heiklen Aufgabe: Es kommt vor, dass sich Erwachsene als jünger ausgeben. Denn minderjährige Flüchtlinge sind bessergestellt als volljährige – deswegen sind sie auch teurer, die Unterbringung und Versorgung kostet pro Monat zwischen 3000 und 4000 Euro.

 

Andrea Petzenhammer vom Verein Encourage, der ehrenamtliche Vormünder vermittelt, hört seit einigen Monaten häufiger von jungen Menschen, die nachträglich für volljährig erklärt werden, vor allem Afrikaner sind betroffen, aber zunehmend auch Afghanen. „Viele machen sich an den Grenzen älter, weil sie als Minderjährige nicht weitergelassen würden“, sagt sie, und diese Angaben hängen ihnen dann nach. Zwar seien Fehler bei der Alterseinschätzung nie ausschließen, zumal viele der Jugendlichen mit äußerst komplexen Geschichten kommen. „Aber dann müsste es auch Wege geben, falsche Entscheidungen zu korrigieren.“

 

Wie gewichtet die Senatsjugendverwaltung die Informationen? Eine Sprecherin schreibt, es gebe ein „abgestimmtes Verfahren zur Änderung von Geburtsdaten“, daran seien neben der Senatsverwaltung die Ausländerbehörde, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten beteiligt. Aber: „Es gilt das Primat der Jugendhilfe.“

 

Jawid Shirzad mag Blumen. Er würde gern mit Pflanzen arbeiten, sagt er. Aber ohne Abschluss? Jawid ist fleißig, wenn er die Chance hat zu lernen; er spricht schon recht gut Deutsch, eine Ehrenamtliche bringt ihm Lesen und Schreiben bei. Aber wie es mit ihm weitergehen wird, ist offen.

 

Vor etwa zwei Jahren schlug er sich über die Balkanroute durch, er wollte nach Skandinavien. In einer deutschen Stadt wurde er aufgegriffen und ins Jugendhilfesystem aufgenommen. „Jawid ist stark traumatisiert. Er wirkt wie ein fröhlicher Junge, aber es gibt Situationen, da wird er getriggert, und dann sackt er richtig weg“, sagt eine Ehrenamtliche, die seinen Fall kennt. Was genau mit ihm geschah, kann nicht geschrieben werden, um ihn zu schützen. Nur so viel: Es gibt Belege dafür, dass er in eine Situation geriet, die für ihn unerträglich war. Jemand gab ihm den Tipp, sich für volljährig erklären zu lassen, und in seiner Not sah er keinen anderen Ausweg. Also ließ er sich von einem Freund im Iran ein gefälschtes Papier schicken, das ihn als Mann Ende 20 auswies.

 

Er wurde daraufhin aus der Jugendhilfe entlassen – die Behörden in Berlin übernahmen die Angaben und lehnen es ab, den Fall anders zu bewerten. Die Ehrenamtliche versteht nicht, dass die Aktenlage mehr zählt als das, was offensichtlich ist: Alle, die Jawid gesehen haben, halten ihn für einen Teenager – er dürfe nicht mal Zigaretten kaufen, ohne nach dem Ausweis gefragt zu werden.

 

Zoyas Leben ist praktisch auf Pause geschaltet. „Jetzt habe ich Angst“, sagt sie, „Ich frage mich die ganze Zeit, was hier mit mir geschehen wird.“ Dass sie allein in eine Sammelunterkunft für Erwachsene zieht, ließ Maria Wegener nicht zu; sie lässt sie bei sich wohnen. Zoya hat nun einen neuen Pass von der afghanischen Botschaft bekommen und eingereicht; sie können nicht mehr viel tun. „Jetzt sind drei Wochen vergangen, in denen wir nichts wissen“, sagt Wegener, „das ist einfach unerträglich.“

 

Gegen die Einschätzung des Landesjugendamtes können Flüchtlinge zwar klagen. Doch die meisten haben keinerlei Nachweis für ihr Alter. „Es ist ein Bereich, in dem es keine eindeutigen Antworten gibt“, sagt Wolfram Geisenheyner, Leiter des Klubheims in Moabit, eines freien Jugendhilfeträgers, „wir können berechnen, wie alt ein Tausende Jahre altes Skelett ist, aber nicht, ob ein Jugendlicher 16 oder 18 ist.“

 

Geisenheyner sitzt in einem Besprechungsraum und geht die Geschichten der Jugendlichen durch, die er betreut hat, einen Afghanen, dessen Alter in Norwegen falsch geschätzt wurde, das sudanesische Mädchen, das an der österreichischen Grenze als zwei Jahre älter registriert wurde, als sie war.

 

Zu den Stoßzeiten 2015, als Tausende Flüchtlinge tagelang vor dem Lageso auf einen Termin warten mussten, war er oft nachts unterwegs, um zu helfen. Dabei sei er öfter auf Jugendliche gestoßen, die nachträglich als volljährig eingestuft worden waren. „Wir haben Leute gefunden, die waren nach drei Tagen Obdachlosigkeit psychisch und physisch am Ende.“ 80 bis 100 Jugendliche hat er beraten, die meisten haben letztlich wieder Jugendhilfe erhalten. „Bei allen, für die wir Kapazitäten hatten, haben wir den Bedarf anerkannt bekommen“, sagt er. „Aber das ist ja das Beunruhigende, weil wir uns nur einen kleinen Teil der Betroffenen ans Bein binden können.“

 

Die Senatsverwaltung weist die Vorwürfe zurück. „Den Mitarbeitern, die Alterseinschätzungen durchführen, ist sehr wohl bewusst, dass ihre Entscheidungen weitreichende Bedeutung für den Lebensweg der jungen Menschen haben“, schreibt die Sprecherin. Lücken in der Unterbringung gebe es nicht; als volljährig eingeschätzte Flüchtlinge würden an die für Erwachsenen zuständigen Stellen übermittelt. Bloß was, wenn sie da nicht zurechtkommen?

 

Wenn es gut läuft, fallen sie dort auf. Der Psychologe, der in der Notunterkunft arbeitet, erinnert sich an einen 15-Jährigen, der in Finnland auf 18 geschätzt worden war: „Der war extrem instabil und drohte, sich umzubringen – er verstand überhaupt nicht, warum er hier ist. Er hat immer wieder gesagt, er will spielen und in die Schule gehen.“ In einer Sammelunterkunft können Minderjährige allzu leicht untergehen, sagt er. „Diese Jugendlichen sind Meister der Verdrängung, aber man merkt, wie leicht sie auseinanderbrechen – es ist wie bei einer Vase, die man mit Tesafilm geflickt hat.“

 

An einem Mittwoch Ende Juni, zwei Tage nach Zoyas Termin in der Ausländerbehörde, schreibt das Landesjugendamt an Maria Wegener: Zoya werde wieder ins Jugendhilfesystem aufgenommen. Wenig später springt das Mädchen über den Hof der Erstaufnahmestelle für Minderjährige in Zehlendorf, zieht einen Rollkoffer hinter sich her. Dann verschwindet Zoya Qassemi, ohne den Kopf zu wenden, durch die Tür.