G20: "Wie Pitbulls auf Speed"

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Erstveröffentlicht: 
19.07.2017
Seit dem G20-Gipfel tauchen vermehrt Berichte von polizeilichen Übergriffen auf. Olaf Scholz beharrt dennoch darauf, dass es keine Polizeigewalt gab.

Von Christoph Twickel, Hamburg

 

Polizeigewalt habe es nicht gegeben, resümierte Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz vergangene Woche nach dem G20-Gipfel, alles andere sei Denunziation. Doch manche Berichte sagen etwas anderes, denn auch zwei Wochen nach dem Gipfel tauchen noch Bilder und Videos von polizeilichen Übergriffen auf, und es laufen auch bereits interne Ermittlungen.

 

Da ist der Faustschlag eines behelmten Polizisten, der einen Mann trifft, der sich vor einen Polizeibus gestellt hat, um die Weiterfahrt zu verhindern. Da ist die Gruppe von Beamten, die am Fischmarkt auf einen Mann mit lila Irokesen-Haarschnitt eintritt, auch als dieser längst am Boden liegt.

 

Auch wenn man nicht immer erkennen kann, was den Übergriffen der Polizisten vorausgegangen ist: Wegzudiskutieren sind sie nicht. Zu Dutzenden sind sie auf Handyvideos und Fernsehkameras dokumentiert.

 

Bei anderen Fällen war keine Kamera dabei. Zum Beispiel bei dem 21-jährigen Psychologiestudenten und Sozialarbeiter Leo Castro aus Bremen. Er gibt an, erst am Samstag nach Hamburg gefahren zu sein, also nach den Krawallen im Schanzenviertel. Er wollte an der Großdemonstration gegen G20 teilnehmen, als Teil einer Gruppe der Linkspartei  Bremen. Am Abend ging er ins Schanzenviertel, bis Wasserwerfer und Polizisten eine Sitzblockade vor der Roten Flora auflösten und die Demonstranten Richtung Pferdemarkt trieben. Dort angekommen, habe er sich in einen Hauseingang gesetzt, sagt er, um zu signalisieren, dass er nicht Teil der Auseinandersetzung sein wolle. 

 

Wie glaubhaft sind die Aussagen?


Plötzlich seien drei Polizisten gekommen. Einer erklärte, man gäbe ihm nur zurück, was seine Leute ihnen in der Schanze angetan hätten. "Ihr könnt mich festnehmen, ich werde mich nicht wehren", will er ihnen zugerufen haben. Dennoch hätten sie ihn geschlagen, andere Polizisten hätten sie umringt, damit die Prügelszene von außen nicht zu sehen sei. Er erinnert sich an Beschimpfungen wie "Dreckszecke", "Muschi" oder "Kanake", Castro hat Migrationshintergrund.

 

Drei Stunden braucht die Polizei, um ihn in die Gefangenensammelstelle nach Hamburg-Harburg zu bringen, wo er bis zum Sonntagnachmittag bleibt. In diesen drei Stunden sollen die Polizisten ihn misshandelt und gedemütigt haben, es fallen angeblich Sätze wie "Wir brechen dir die Knochen" und "Wir bringen dich um!" Ein Polizist habe ihm mit einem Schlag ins Gesicht das Nasenbein gebrochen, die blutunterlaufene Stelle ist deutlich zu sehen, auch nach einer Woche noch.

 

Leo Castro heißt eigentlich anders und er hat noch keine Anzeige erstattet. Seine Anwältin hat ihm erklärt, er müsse mit einer Gegenanzeige rechnen, und dass die Polizisten sich wohl in ihren Aussagen untereinander absprechen würden. Statistisch gesehen haben Strafverfahren gegen Polizisten kaum Chancen, nach Angaben der Recherchegruppe Correctiv kommt es nur in ein Prozent der Fälle zu Anklagen, Verurteilungen von Polizisten werden nicht erfasst.  

 

Aber ist Castro überhaupt glaubhaft? Seine Wunde kann viele Ursachen haben. Möglich ist auch, dass der 21-jährige ein Ammenmärchen erzählt, um der Polizei zu schaden. Andererseits gibt es einige von diesen Geschichten und sie ähneln sich. Die ZEIT hat mit Opfern von Übergriffen gesprochen, hat sich Verletzungen und Röntgenbilder zeigen lassen, hat Zeugen gehört, wo es möglich war, und überprüft, ob sie zum Ablauf der Ereignisse passen, wie man ihn kennt. Polizei und Staatsanwaltschaft können zu diesen Fällen noch keine Aussage treffen, heißt es auf Nachfrage, erst müsse das Dezernat interne Ermittlungen recherchieren. 

 

Die Aufarbeitung von G20 ist in vollem Gang


Da ist zum Beispiel die 26-jährige Spanierin Lola, die bei dem Partyprotestkollektiv Alles Allen aus dem Gängeviertel mitmacht. Alles Allen hatte am Mittwoch vor dem G20 die friedliche Nachttanzdemo organisiert, am Samstagabend zogen rund 20 der Aktivisten einen kleinen Lautsprecherwagen in Richtung Schanzenviertel. "Wir wollten für gute Stimmung sorgen", sagt Lola, eine schmale Frau von 1,60 Metern. Die Straße ist voller Polizisten, um ihr fahrbares Soundsystem sammeln sich rund 50 Leute, sie tanzen und singen auf dem Gehweg.

 

Plötzlich, so berichten Teilnehmer einhellig, stürmt ein Trupp von Polizisten auf die Gruppe zu und prügelt sich den Weg frei zu dem Soundwagen. Die zierliche Lola bekommt einen heftigen Schlag mit einem Schlagstock. "Ich konnte nicht mehr atmen vor Schmerzen", sagt sie. In der Notaufnahme diagnostiziert der Arzt einen Wadenbeinbruch. "Die Beamten ließen von ihren Opfern selbst dann nicht ab, als ein Großteil wimmernd am Boden lag", heißt es in einem Brief, den die Gruppe an Innensenator Grote geschrieben hat. "Stattdessen wurde auf die am Boden liegenden Personen getreten und immer wieder auf sie eingeschlagen." Lola, die seit dem G20 auf Krücken läuft, wohnt in St. Pauli, nur zwei Häuser entfernt von Grotes Wohnung.

 

Der Fall des 41-jährigen Personalberaters B. ist besonders. Denn B., der anonym bleiben will, ist kein Linker, er war nach eigenen Angaben am Samstag als sensationshungriger Hobbyreporter unterwegs. "Ich habe an keiner Demonstration teilgenommen", sagt er. Ein Freund, der bei einer großen Zeitung arbeitet, habe ihm den Auftrag mitgegeben, ein paar "Videos von der Front" zu machen. Als er am Freitagabend an einer Seitenstraße des Schulterblatts vermummte Steinewerfer entdeckte, filmte er los. "Ich hatte ein bisschen Angst, dass man mich für einen Zivilpolizisten hält", sagt er, doch die Steinewerfer ließen ihn in Ruhe. 

 

"Es muss doch Videoaufnahmen davon geben"


Als ein Polizeitrupp herbeistürmte, flohen die Vermummten, der Hobbyfilmer nicht. "Ich wollte mich nicht verdächtig machen." Er habe sich in einen Hauseingang zurückgezogen und die Hände hochgerissen, dann hätten ihn die Polizisten verprügelt. "Die waren wie Pitbulls auf Speed", sagt B. "Ich habe 21 Verletzungen gezählt, sie haben mit den Stiefeln gegen meinen Kopf getreten, mit Vollspann, das war versuchter Totschlag."

 

Als sie nach ein paar Minuten von ihm abgelassen hätten, habe er sich noch zur Straßenecke geschleppt und sei dort zusammengeklappt. Die Notaufnahme im Krankenhaus Barmbek stellt eine Schädelprellung fest, sowie diverse Schürfungen und Prellungen am Körper. B. hat die unbekannten Polizisten angezeigt – wegen versuchten Totschlags und unterlassener Hilfeleistung. "Auf den Wasserwerfern sind doch Kameras, es muss doch Videoaufnahmen davon geben", hofft er. "Das hätte ich niemals gedacht, dass so etwas in Deutschland möglich ist."

 

Zwei Wochen nach dem Gipfel ist die Aufarbeitung der G20-Ereignisse in vollem Gang. Die sozialen Netzwerke füllen sich mit Videos, Berichten und offenen Briefen. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz aber legte am Dienstag nochmal nach und erklärte, der Begriff 'Polizeigewalt' diskreditiere die Polizei als Ganzes und sei ein linker Kampfbegriff. Womöglich hätte er besser sagen sollen: "Wir wissen von Vorwürfen gegen die Polizei. Wir werden sie prüfen."

 

In einer früheren Version des Artikels wird ein Video erwähnt, in dem Polizisten eine Frau von einer Sitzblockade wegtragen und ihr von einem der Beamten Gesicht ins geschlagen wird. Der Filmausschnitt ist von einem früheren Polizeieinsatz und nicht vom G20-Gipfel. Wir haben den entsprechenden Satz entfernt und bitten den Fehler zu entschuldigen.