Ausländerrechtsexperte zu Abschiebungen "Auch Mörder haben Menschenrechte"

Erstveröffentlicht: 
06.06.2017

Ein Afghane hat in einer bayerischen Flüchtlingsunterkunft ein Kind erstochen. Er war als Straftäter bekannt, saß im Gefängnis - doch seine Abschiebung konnte er verhindern. Warum? Ein Rechtsanwalt erklärt die Hintergründe.

 

Victor Pfaff, Jahrgang 1941, ist Mitbegründer der Organisation Pro Asyl und hat sich als Anwalt in Frankfurt auf Ausländer- und Asylrecht spezialisiert.

 

SPIEGEL ONLINE: Herr Pfaff, in Nürnberg und Duisburg wurden Schüler wegen geplanter Abschiebungen aus dem Unterricht geholt. Gleichzeitig konnte ein Afghane, der schon wegen schwerer Brandstiftung im Gefängnis saß, seiner Abschiebung entgehen - wie zuvor der Berlin-Attentäter Anis Amri. Können Sie verstehen, dass viele Menschen diese Diskrepanz nicht begreifen können?

 

Pfaff: Ich verstehe dieses Gefühl sehr gut. Man kann ihm nur die Tatsachen- und Rechtslage entgegensetzen, dass Straftäter unter bestimmten Umständen nach unseren Gesetzen nicht abgeschoben werden dürfen. Zu diesen Fällen gehörte offenbar auch der Täter aus Bayern, anders übrigens als der Terrorist Anis Amri. Und dass andere Menschen, die unser Recht und Gesetz respektiert haben, eben sehr wohl das Land verlassen müssen - wenn ihr Asylverfahren rechtskräftig negativ entschieden ist und keine Gründe für eine sogenannte Duldung vorliegen.

 

SPIEGEL ONLINE: Der Afghane, der im bayerischen Arnschwang einen kleinen Jungen in einer Asylunterkunft erstochen hat, saß mehrere Jahre wegen schwerer Brandstiftung im Gefängnis, stand unter Aufsicht, trug eine Fußfessel. Wieso durfte er trotzdem in Deutschland bleiben?

 

Pfaff: Der Mann ist - so heißt es in Berichten - zum Christentum konvertiert. Ein Gericht hat deshalb seine Abschiebung untersagt. Der Hintergrund ist in solchen Fällen: Wenn jemandem bei Rückkehr in seinem Herkunftsland unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Folter droht, dann darf er nicht abgeschoben werden. Auch Mörder haben Menschenrechte. Das legt Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention fest, das ist unabänderlich. An diesem Recht kommt auch Deutschland nicht vorbei.

 

SPIEGEL ONLINE: Bedeutet das, dass künftig jeder, der seiner Abschiebung entgehen will, sagen kann, er sei jetzt Christ?

 

Pfaff: Nein, so einfach ist es nicht. Auch Christen können abgeschoben werden, auch nach Afghanistan. Dass jemandem dort als Christ unmenschliche Behandlung oder Folter droht, scheint nur plausibel, wenn er seine Konversion bekannt gemacht hat, wenn ihn jemand verraten hat oder wenn er plant, seinen Glauben sichtbar nach außen zeigen. Im Asylverfahren müssen Antragsteller, die angeben, sie seien zum Christentum übergetreten, außerdem belegen, dass sie ihren Glauben auch praktizieren. Man will verhindern, dass sie sich nur deshalb taufen lassen, um ihren Aufenthalt zu sichern. Auch wenn es um den Stopp von Abschiebungen geht, reicht den Gerichten nicht die bloße Taufurkunde. Es muss aus der Konversion eine Verfolgungsgefahr erwachsen. Davon muss der von Abschiebung Bedrohte die Richter überzeugen.

 

SPIEGEL ONLINE: Welche rechtlichen Schritte können abgelehnte Asylbewerber gehen, wenn sie ihre Abschiebung verhindern wollen?

 

Pfaff: Grundsätzlich hat jeder die Möglichkeit, einen Asylfolgeantrag zu stellen - das kann sogar aus dem Gefängnis heraus geschehen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge prüft dann, ob tatsächlich neue Gründe oder neue Beweise für ein zweites Verfahren vorliegen. Kommen die Behörden zu dem Schluss, dass es keine solchen neuen Gründe gibt, steht einer Abschiebung aus rechtlicher Sicht nichts entgegen. Trotzdem kann es dauern, bis eine Abschiebung vollstreckt wird - etwa bis das Herkunftsland sein Einverständnis zur Rücknahme des Menschen erklärt hat, ein Flug gebucht wurde, Begleitpersonal zur Verfügung steht.

 

SPIEGEL ONLINE: Gibt es Möglichkeiten, eine Abschiebung auch in letzter Minute noch abzuwenden?

 

Pfaff: Ja, die Möglichkeit besteht theoretisch bis kurz vor dem Abflug. Denn wie alle Staatsorgane ist auch die Bundespolizei verpflichtet, Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu beachten. Wenn etwa ein Afghane erst am Flughafen plausibel darlegt, dass Familienangehörige jüngst in Afghanistan umgebracht wurden und ihm dasselbe Schicksal droht, müssten die Beamten die Rückführung stoppen.

 

SPIEGEL ONLINE: Wie bewerten Sie den Fall des Afghanen aus Arnschwang?

 

Pfaff: Er ist ein absoluter Extremfall - ein abgelehnter Asylbewerber, der zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, die er auch komplett abgesessen hat und dann hier bleiben darf. Der dann eine Fußfessel trägt und trotzdem eine so schreckliche Tat begeht. Das ist genauso ein Extremfall wie Franco A. Wir sollten an dem Fall aus Bayern nicht die Debatte über den grundsätzlichen Umgang mit afghanischen Asylbewerbern aufhängen.

 

SPIEGEL ONLINE: Nach dem verheerenden Anschlag in Kabul will die Bundesregierung nur noch Straftäter und Gefährder dorthin abschieben. Auch unter den seit Dezember 106 zurückgeführten Afghanen waren viele Straftäter, hieß es stets von offizieller Seite. Wissen Sie, welche Art von Straftaten die Betroffenen begangen haben?

 

Pfaff: Nein, darüber ist mir nichts bekannt. Ich finde es auch nicht akzeptabel, pauschal von Straftätern zu sprechen und damit im Grunde einen Mörder oder Vergewaltiger mit jemandem gleichzusetzen, der im Supermarkt eine Kleinigkeit hat mitgehen lassen.