[DO] Bericht zum Vortrag: "Ziviler Putsch in der Türkei – Das Verfassungsreferendum im Kontext"

Vortrag: "Ziviler Putsch in der Türkei – Das Verfassungsreferendum im Kontext"

Vor rund 60 Zuhörer*innen ordnete Kerem Schamberger das Referendum zur Einführung eines Präsidialsystems unter dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan in die Strategie eines autoritären Staatsumbaus seitens der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ein. Das anstehende Referendum sieht er als nachträgliche Legitimation eines „zivilen Putsches“ der AKP im Staatsapparat, welche mittlerweile vorbei an demokratischen Prozessen den Staat kontrolliert, mit massiven Repressionen öffentlichen Protest unterbindet und kritische Medien zum schweigen brachte und bringt. In einem einstündigen Vortrag erläuterte Kerem die Entwicklungen in der türkischen Innenpolitik der 2010er Jahre. Wer den Vortrag verpasst hat, kann ihn in ähnlicher Form hier ansehen.

 

Am morgigen Sonntag (16.4.2017) soll in einem Referendum über 18 Änderungen der Verfassung abgestimmt werden, welche unter anderem die Kontrollbefugnisse des Parlamentes gegen den Staatspräsidenten (Misstrauensvotum) abzuschaffen, die Benennung von Ministern und der Mehrheit der höchsten Richter beim Staatspräsidenten zu bündeln und die Neutralität des Staatspräsidenten aufzuheben vorsieht. Die Abstimmung wird von Angriffen auf Gegner der Verfassungsänderung begleitet. Die HAYIR-Kampagne, die unter anderem von der linken, prokurdischen Sammlungspartei HDP (Demokratische Partei der Völker) und der CHP (Republikanische Volkspartei) getragen wird, wurde mehrfach Opfer von Polizeirepression gegen Infostände, Plakatierer und Kundgebungen. Aktuelle sind auch zahlreiche Abgeordnete der HDP, deren Immunität aufgehoben wurde, in Untersuchungshaft und ihre beiden Co-Vorsitzenden unter fadenscheinigen Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt worden. Da die AKP mittlerweile fast die gesamten türkischen Medien kontrolliert, kann auch von einer ausgewogenen Berichterstattung keine Rede sein. Im Gegenteil wurden Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und Rechtssicherheit mittlerweile aufgehoben. Seit einigen Jahren versucht die AKP den Staatsapparat unter ihre Kontrolle zu bringen, was die Verhaftungen Tausender Lehrer*innen, Polizist*innen, Bürgermeister*innen und anderer Vertreter*innen des Staates deutlich machen. Zudem wurden zahlreiche Medieneinrichtungen von der Polizei geschlossen und Journalist*innen verhaftet. Deniz Yücel ist hier nur ein prominentes Beispiel. Spätestens mit den Vierhaftungswellen nach dem, vermutlich inszenierten oder geduldeten, Putsch im November 2016, ist es der AKP gelungen Militär und Polizei unter ihre Kontrolle zu bringen. Kerem machte deutlich, dass AKP und auch NATO wahrscheinlich von dem Putschvorhaben unterrichtet waren und die AKP dieses als Vorwand ihres Staatsumbau nutze.

Kerem sieht die AKP als eine Partei, welche unter der Führung des Vorsitzenden Erdoğans auf eine Alleinherrschaft im Staat ausgerichtet ist. Bündnispartner und Gegner toleriert sie nicht. Ein Beispiel hierfür ist die Wahlwiederholung im Herbst 2015, welche die nach dem Einzug der HDP ins Parlament verlorene absolute Mehrheit der AKP wiederherstellte. Die Parlamentswahlen fanden in einem Klima der Angst, Gewalt und Einschüchterung durch AKP-Anhänger*innen statt und wurden begleitet von einem Krieg gegen die kurdische Bevölkerung im Süden der Türkei. Dennoch gelang der Sprung der HDP über die Zehn-Prozent-Hürde ins Parlament erneut.

Der deutsche Staat steht dabei fest an der Seite der AKP. Die Auftrittsverbote für AKP-Politiker in Deutschland können nicht über die Unterstützung bei der Repression türkischer und kurdischer Linker in Deutschland hinwegtäuschen. So wurden kürzlich Fahnen der YPG (Volksverteidigungseinheiten), der kurdischen PYD (Partei der Demokratischen Union) und nahezu sämtlicher anderer linker kurdischer Organisationen in Deutschland verboten. Zahlreiche Organisationen stehen auf der sog. „Terrorliste“ bzw. werden vom Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ bespitzelt. Neben derzeit zehn in der BRD inhaftierten kurdischen Exilpolitikern stehen aktuell auch zehn türkische Genoss*innen im größten Kommunistenprozess nach den 1950er Jahren in München als angebliche Terrorist*innen vor Gericht. Hier gelte es solidarisch an der Seite unserer von Repression betroffener Genoss*innen zu stehen. Auch die reibungslose Genehmigung von Rüstungsexporten durch die Bundesregierung, wie Leopard-Panzern, wurde als Beleg für die ungebrochene deutsche Unterstützung für das türkische Regime thematisiert. Ein Fazit der Vortrages war die Notwendigkeit breitgetragener Bündnisse in der Türkei, um den Umbau des Staates in eine Diktatur zu verhindern. Des weiteren wurde die Notwendigkeit internationaler Solidarität in Zeiten einer Zunahme autoritärer, antidemokratischer staatlicher Strukturen, wie auch in Ländern wie Ungarn, den USA oder den Philippinen hervorgehoben.

Roter Tresen Dortmund