NSU-Ausschuss Ex-Neonazi könnte Verfassungsschutz-Präsidenten in Bedrängnis bringen

Erstveröffentlicht: 
16.02.2017

Eine Premiere wird es an diesem Donnerstag im Bundestag geben: Erstmals wird mit Michael von Dolsperg ein Ex-Neonazi und früherer V-Mann des Verfassungsschutzes in einem Untersuchungsausschuss als Zeuge befragt werden. Der heute in Schweden lebende Dolsperg, der einmal Michael See hieß und unter dem Decknamen „Tarif“ von 1995 bis 2001 für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) die militant-rechte Szene unterwanderte und mitsteuerte, wird allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehört. Wohl auch deshalb, weil er mit seinen Aussagen die nach ihm folgenden Zeugen – BfV-Präsident Hans Georg Maaßen und dessen über die NSU-Affäre gestürzter Amtsvorgänger Heinz Fromm – in Schwierigkeiten bringen dürfte.

 

Dolsperg behauptete in einer Vernehmung durch das Bundeskriminalamt 2014, er sei kurz nach dem Abtauchen von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe 1998 von einem befreundeten Neonazi um Hilfe bei der Suche nach einem Unterschlupf für das Trio gebeten worden. Dies will er damals sofort seinem Verbindungsführer vom BfV mitgeteilt haben. Der aber habe ihn nach Rücksprache mit seinen Vorgesetzten zurückgepfiffen. Sollte das stimmen, hätte das Bundesamt die Gelegenheit verpasst, das Trio zu fassen und die späteren Morde zu verhindern.


Das BfV bestritt die Aussage Dolspergs bisher entschieden und verwies stets auf die Aktenlage. Die ist allerdings undurchsichtig. So gehört die Akte von „Tarif“ zu den Spitzelunterlagen aus der Thüringer Naziszene, die kurz nach dem Auffliegen des NSU  2011 im BfV in aller Eile vernichtet wurden. Drei Jahre später  tauchten die Berichte plötzlich wieder auf im Bundesamt, ohne dass sich der angebliche Hinweis des V-Manns auf das Trio darin fand. Ob die Akten aber vollständig sind oder nach 2011 manipuliert wurden, lässt sich nicht mehr nachprüfen.


Die Fall „Tarif“ wird nicht das einzige unangenehme Thema bleiben, dem sich Maaßen und Fromm im Ausschuss stellen müssen. Zu viele Fragen sind zur Rolle des Verfassungsschutzes im NSU-Komplex sind noch immer ungeklärt. Vorab haben deshalb 30 Nebenklägeranwälte aus dem NSU-Prozess in einer Erklärung den Untersuchungsausschuss aufgefordert, sich bei der Befragung nicht mit Ausflüchten abspeisen zu lassen. Der Ausschuss dürfe sich „von diesen Aufklärungsblockierern nicht noch einmal vorführen  lassen“, heißt es darin. Die Anwälte erinnern daran, dass die Verfassungsschutzbehörden die Aufklärung erheblich blockiert haben sollen, indem sie Akten vernichtet, Informationen  zurückgehalten und Untersuchungsausschüsse gezielt in die Irre geführt hätten. Das habe kaum zu Konsequenzen im Geheimdienst geführt: „Vielmehr hat das Bundesamt von der Affäre sogar profitiert: Es hat mehr gesetzliche Kompetenzen, mehr Mittel und mehr Macht bekommen.“


Welche Akten mit Bezug zur deutschen Neonaziszene sind im BfV nach dem Auffliegen des NSU vernichtet worden?

 
Lothar Lingen, Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), hat bereits am 11. November 2011 gegen den Widerstand von Mitarbeitern eine erste Vernichtungsaktion durchgesetzt. Sie betraf Unterlagen von V-Leuten in der Thüringer Neonaziszene. In einer späteren Vernehmung durch das BKA räumte er offen eine Vertuschungsabsicht ein: Es habe eine Rolle gespielt, „dass nach vernichteten Akten in der Zukunft nicht mehr gefragt werden kann“, sagte Lingen. Schließlich sei doch „völlig klar (gewesen), dass sich die Öffentlichkeit sehr für die Quellenlage des BfV in Thüringen interessieren“ werde.


Bis zum Frühsommer 2012 wurden offenbar noch weitere Unterlagen im BfV zerstört. Die Amtsführung bestreitet, von der möglicherweise systematischen Aktenvernichtung gewusst zu haben. Die bereits im November zerstörten V-Mann-Akten wurden später weitgehend rekonstruiert. Ob sie vollständig sind, ist nicht nachprüfbar.


Warum hat das BfV besonders in Thüringen versucht, Spitzel unter Neonazis anzuwerben – und wie erfolgreich war das Bundesamt dabei?

 
Zwischen 1997 und 2005 führte das BfV gleich drei nachrichtendienstliche Operationen in Thüringen, mit denen man Informanten in der Naziszene rekrutieren wollte. Die Operationen trugen die Decknamen „Rennsteig“, „Treibgut“ und „Saphira“. Im Rahmen von „Rennsteig“ hatte das BfV zwischen 1998 und 2002 sieben Neonazis als V-Leute anwerben können. In der Anschlussoperation „Saphira“ wurden zwischen 2003 und 2005 weitere Spitzel verpflichtet. Zur Vorbereitung von „Treibgut“ übersandte das Bundesamt dem LfV Thüringen im Jahr 2000 eine „Liste von 123 potentiellen Zielpersonen für Werbungsmaßnahmen“.


Welche Ergebnisse die angeblich schon 2001 wieder beendete Operation „Treibgut“ brachte, ob sie vielleicht etwas mit der Suche nach Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zu tun hatte, ist bis heute ungeklärt.


Welche Aufgabe erfüllte der Zwickauer Neonazi Ralf Marschner für das BfV?


Ralf Marschner, einer führenden und einflussreichsten Neonazis in und um Zwickau, hat zwischen 1992 und 2002 unter dem Decknamen „Primus“ als V-Mann für das Bundesamt gearbeitet. Das BfV lobte ihn als die damals wichtigste Quelle in der sächsischen Naziszene. Marschner will nach eigenen Angaben keinen Kontakt zu dem Trio gehabt haben, das seit dem Jahr 2000 in Zwickau lebte. Zeugenaussagen und weitere Indizien sprechen jedoch unter anderem dafür, dass Uwe Mundlos in den Jahren 2000 und 2001 in einer damals von Marschner betriebenen Baufirma arbeitete – zu einer Zeit also, als der NSU bereits die ersten Morde begangen hatte.


Über das Bau-Unternehmen, in dem außer Mundlos viele weitere Neonazis beschäftigt waren, liegen dem Bundesamt angeblich keine Informationen vor. Das ist ungewöhnlich, weil über alle anderen Firmen, die Marschner alias „Primus“ in seiner V-Mann-Zeit führte, jeweils eigene Sachakten im Bundesamt vorhanden sind.


Hat das Bundesamt eigene Ermittlungen im Zusammenhang mit dem NSU-Mord in Kassel geführt?


Am 6. April 2006 erschossen die NSU-Täter in einem Kasseler Internetcafé Halit Yozgat. Zur Tatzeit saß im Hinterraum des Ladens Andreas Temme, ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, der kurz vor dem Mord mit seinem V-Mann aus der rechten Szene telefoniert hatte. Eine Tatbeteiligung konnte Temme nie nachgewiesen werden, auch weil seine Vorgesetzten aus dem Landesamt und die hessische Staatsregierung die Ermittlungen der Polizei in diesem Fall behinderten. Welche Rolle das Bundesamt in diesem Fall spielte, ist nie untersucht worden.


Hatte das BfV eigene Verdeckte Ermittler in die rechte Szene eingeschleust?


Das Bundesverfassungsschutzgesetz erlaubt dem Geheimdienst, neben V-Leuten auch eigene hauptamtlicher Mitarbeiter als Verdeckte Ermittler (VE) einzusetzen, um bestimmte Milieus aufzuklären. Ob dies in der Vergangenheit auch in der rechten Szene erfolgte, ist bislang nie geklärt worden. Dabei hatte der frühere Neonazi und angebliche V-Mann Kai Dalek als Zeuge im NSU-Prozess eine dienstliche Anbindung an den Verfassungsschutz angedeutet.


Dalek baute in den 1990er Jahre in Absprache mit dem Geheimdienst den „Thüringer Heimatschutz“ mit auf, in dem das Trio sich radikalisierte. Der Einsatz eines Verdeckten Ermittlers, der organisatorische Funktionen in der Szene ausübt, wäre eine starke und direkte Einflussnahme des Verfassungsschutzes auf die Neonazi-Szene.


Welche Hinweise aus dem Ausland auf rechtsterroristische Aktivitäten in Deutschland erhielt das BfV seit dem Abtauchen des Trios 1998?


Der italienische Geheimdienst AISI hatte am 21. März 2003 das Kölner Bundesamt über ein Treffen europäischer Neonazis im belgischen Waasmunster informiert, an dem im November 2002 auch italienische und deutsche Rechtsextremisten teilgenommen hatten. Eine Quelle des AISI habe demnach berichtet, dass es in vertraulichen Gesprächen am Rande des Treffens um ein Netzwerk militanter europäischer Neonazis gegangen sei.


Dieses Netzwerk, zu dem auch eine deutsche Sektion gehören soll, bilde eine „halb im Untergrund befindliche autonome Basis, losgelöst von offiziellen Verbindungen zu den einschlägig bekannten Bewegungen“, und sei in der Lage, „mittels spontan gebildeter Zellen kriminellen Aktivitäten nachzugehen“, meldete AISI 2003 an das BfV.


Das Bundesamt hatte nach dem Auffliegen des NSU behauptet, kein Wissen über diese AISI-Meldung von 2003 zu haben. Dabei soll dem BfV in der gleichen Zeit noch ein weiterer Bericht eines anderen westlichen Partnerdienstes zugegangen sein, der sich auf Informationen eines britischen oder belgischen V-Manns beruft. Dieser habe demnach 2001/2002 von einem sächsischen Blood&Honour-Aktivisten erfahren, dass in Deutschland bereits eine Zelle aktiv sei, die „Aktionen gegen Ausländer“ durchführe.