"Mein Körper wird mit jedem Tag schwächer"

Erstveröffentlicht: 
27.11.2016
Die Bomben fallen auf den belagerten Ostteil von Aleppo, Hilfslieferungen bleiben aus. Deshalb ist das Schlimmste jetzt der Hunger, schreibt uns Zouhir al-Shimale.

Von Zouhir al-Shimale, Aleppo

 

Syriens Machthaber Baschar al-Assad und sein Verbündeter Russland fliegen seit Tagen erneut heftige Luftangriffe auf Aleppo. Bei den Angriffen auf den belagerten Ostteil der Stadt werden auch Brandbomben und Bunkerbrecher eingesetzt. Jeden Tag kommen viele Menschen ums Leben. Die Lage für die rund 280.000 eingeschlossenen Zivilisten wird immer aussichtsloser. Sie haben keinen Zugang zu Trinkwasser, Medikamenten und Strom, die Nahrungsmittel werden dramatisch knapp. Wenn die Führung um Assad nicht bald die nötigen Genehmigungen und Sicherheitsgarantien für Hilfslieferungen zulässt, droht den Bewohnern eine Hungerkatastrophe.


Anfang Februar dieses Jahres hatte uns der syrische Journalist Zouhir al-Shimale aus dem von Rebellen kontrollierten Bezirk Saif al-Dola in Aleppo geschrieben. Seither stehen wir in regelmäßigem Kontakt. In den vergangenen Tagen hat er uns erneut eine lange E-Mail geschrieben, die wir hier veröffentlichen. 

 

"Vor ein paar Tagen war mein Geburtstag. Es sollte eigentlich ein besonderer Tag sein. Aber ich bin nicht einmal mehr dankbar dafür, dass ich in so eine brutale Welt hineingeboren wurde. Denn so muss ich jeden Tag diesen Horror erleben.

 

Es gab keine Geburtstagsfeier, keinen Kuchen, keine Kerzen, keine Süßigkeiten. Es gab überhaupt nichts zu essen und nicht einmal etwas zu trinken. Meine Familie ist weit weg, in West-Aleppo. Sehr wahrscheinlich werde ich sie nie wieder sehen. Was für ein trauriger, einsamer Geburtstag das war.

 

Die Bomben fallen wieder jeden Tag auf Ost-Aleppo. Die Angriffe von Assad, Putin und ihren Verbündeten sind brutaler als jemals zuvor. Doch das Schlimmste ist jetzt der Hunger.

 

Die Lebensmittelreserven in Ost-Aleppo sind nahezu komplett aufgebraucht. Die Läden sind leer. Wir haben kein Obst mehr, keine Milch, keine Eier. Nur noch etwas Reis, Nudeln, Linsen. Ich spüre das. Mein Körper wird mit jedem Tag schwächer. Ich habe kaum noch Energie. Wir werden verhungern, das ist völlig klar. Unsere Essensreserven in Ost-Aleppo reichen nur noch für ein paar Tage. Und sie sind unbezahlbar geworden. Für ein kleines Brot zahlt man umgerechnet 8 US-Dollar. Das kann sich kaum jemand leisten.

 

Jeden Morgen wache ich mit knurrendem Magen auf und überlege, wo und wie ich mir etwas zu essen besorgen kann. Es wird immer schwieriger. Manchmal muss ich eine Stunde laufen, um noch irgendwo Linsen oder Reis zu finden. Es fällt mir zunehmend schwerer, die weiten Strecken zu laufen. Heute habe ich endlich etwas Brot gefunden, das erste seit sieben Tagen. Wenn ich Glück habe, kann ich mir am Tag eine kleine Mahlzeit zubereiten. Wenn ich Pech habe, gibt es gar nichts. 

 

Aleppo in Syrien


Seit Donald Trump die US-Wahlen gewonnen hat, eskaliert hier alles. Trump will mit den Russen und Assad kooperieren. Er will nur noch gegen den IS vorgehen und plant scheinbar eine politische Lösung für Syrien, bei der Assad an der Macht bleibt. Das ist für viele hier unvorstellbar. Assad und Putin bomben Syrien in Schutt und Asche und werden dafür am Ende noch belohnt. Das ist eine entsetzliche Entwicklung. Allerdings muss man sagen, dass auch Obama nichts unternommen hat, um uns Syrern zu helfen. Im Grunde ist es egal, wer da an der Macht ist. Wir werden sterben und die ganze Welt weiß das.

 

Das Regime rückt immer weiter auf Ost-Aleppo vor. Und die Rebellen, die Ost-Aleppo kontrollieren, sind tief gespalten. Sie wollen nicht unter einer Führerschaft sein, mehr noch, sie bekämpfen sich bis aufs Blut. Jeder will die Macht haben. Die Oppositionsgruppen kämpfen gegeneinander, anstatt Korridore zu schaffen, damit wir Hilfspakete erhalten können. Sie bekämpfen sich, während das Assad-Regime, Russland und die Verbündeten ihre gesamten Kräfte sammeln, um Ost-Aleppo ganz auszuradieren.

 

Das geht allein auf unsere Kosten. Es interessiert niemanden, ob wir die nächsten Tage überleben oder nicht. Wir sitzen in einem großen Gefängnis fest und verhungern. Mit jedem Tag verringert sich unsere Chance, hier lebend herauszukommen. 

 

Schreiende Mütter mit ihren toten Babys im Arm


 

 

Manchmal kann ich immer noch nicht glauben, dass ich wirklich in diesen Krieg geraten bin. Noch vor wenigen Jahren habe ich an der Universität studiert. Wir haben 2011 friedlich gegen einen Diktator protestiert, ohne Waffen, nur mit Transparenten und unseren Stimmen. Heute löscht Baschar al-Assad vor den Augen der Weltöffentlichkeit seine eigene Bevölkerung aus. Das ist es, was mit uns passiert: Wir werden ausgelöscht und niemand hilft uns. 

 

Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich einmal solche Zeilen unter solchen Bedingungen schreiben würde. Mit dem Lärm der Kampfflieger über mir, den Explosionen und Schießereien unten auf der Straße. Dass ich kaum Strom haben werde, fast kein Wasser und Essen, dass ich mich nicht frei bewegen kann. Nicht nur, weil mich in jeder Sekunde eine Streubombe oder ein Bunkerbrecher treffen könnten. Sondern auch, weil immer mehr bewaffnete Männer durch die Straßen ziehen, die Zivilisten kidnappen oder umbringen. Deswegen bleibe ich nach Anbruch der Dunkelheit zu Hause, verriegele meine Tür und hoffe, dass ich die Nacht überstehe. 

 

Diese verzerrten, müden, verzweifelten Gesichter


Das einzige, was mich noch am Leben hält, ist der Gedanke an meine Mutter. Für sie kämpfe ich mich jeden Tag durch diese Hölle. Ich denke immer an sie, während im Minutentakt die Bomben um mich herum einschlagen, während ich zu den Kratern renne, die die letzte Explosion in meinem Viertel hinterlassen hat. Wenn ich dort die schreienden Mütter sehe, die ihre toten Babys im Arm halten. 

 

Den Ausdruck auf ihren schmerzerfüllten Gesichtern werde ich nie vergessen. Diese verzerrten, müden, eingefallenen, verzweifelten Gesichter. Wenn ich so etwas erlebt habe, kann ich in den Tagen danach nicht schlafen. Ich denke oft, dass ich lieber tot wäre, als dieses Grauen sehen zu müssen.

 

Die Zukunft ist für mich ein dicker grauer Nebel. Mich erdrückt diese Ungewissheit, ich weiß nicht, ob ich das noch länger aushalte. Ich habe Angst, die Hoffnung gänzlich zu verlieren. Ich fürchte, total verrückt zu werden, nach allem, was ich hier gesehen habe. Selbst wenn ich hier rauskomme – was für ein Mensch werde ich dann sein? Werde ich zu einem Monster, das unfähig ist, Gefühle zu haben? Werde ich komplett abgestumpft sein? Mich quälen diese Fragen in jeder Sekunde. Die wichtigste lautet: Werde ich das hier überleben oder nicht? Und das kann mir niemand beantworten."   


Bearbeitet und übersetzt von Andrea Backhaus