Opferfamilie zeigt Ex-Verfassungsschützer an

Erstveröffentlicht: 
05.10.2016

Anwälte der Angehörigen eines NSU-Opfers gehen gegen einen Ex-Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz wegen Strafvereitelung vor. Er hatte vorsätzlich Akten zur Vernichtung freigegeben.

 

Angehörige des von der rechtsextremistischen Gruppe NSU ermordeten Mehmet Kubasik und deren Rechtsanwälte haben Strafanzeige gegen einen Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) erstattet. Die Anzeige wurde am Mittwoch in Köln gestellt, wie Recherchen der „Welt“ ergaben. Die Zeitung hatte vergangene Woche berichtet, dass ein ehemaliger Referatsleiter des BfV mit dem Tarnnamen „Lothar Lingen“ gegenüber der Bundesanwaltschaft zugegeben hat, dass er im November 2011 die Akten von Thüringer V-Männern vorsätzlich vernichten ließ.

 

Lingen hat im Oktober 2014 in einer Zeugenaussage gesagt: „Vernichtete Akten können … nicht mehr geprüft werden.“ Er hat dabei ausgeführt, dass ihm klar gewesen sei, dass die vielen V-Männer des Bundesamtes in Thüringen – Lingen sprach von „acht, neun oder zehn Fällen“ – in der Öffentlichkeit die Frage aufgeworfen hätten, „aus welchem Grunde die Verfassungsschutzbehörden über die terroristischen Aktivitäten der drei eigentlich nicht informiert worden sind“.

Mit „den dreien“ meinte der ehemalige führende BfV-Mitarbeiter Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt – die mutmaßlichen Gründungsmitglieder des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Lingen sagte der Bundesanwaltschaft außerdem: „Die nackten Zahlen sprachen ja dafür, dass wir wussten, was da läuft, was aber nicht der Fall war.“

 

Antonia von der Behrens, Anwältin der Familie von Mehmet Kubasik, der im April 2006 von Mitgliedern des NSU in Dortmund erschossen worden ist, gibt sich mit der Erklärung Lingens nicht zufrieden: „Lingen hat seine bisherigen unglaubhaften Angaben, er habe die Akten vernichten lassen, um sich unnütze Arbeit zu ersparen, selbst widerlegt.“ Er habe in der Zeugenaussage „die zielgerichtete Vernichtung zugestanden“. 

 

BfV macht schon länger keine gute Figur


Mehrere Anwälte von NSU-Opfern, darunter auch Sebastian Scharmer, haben nun gemeinsam bei der Staatsanwaltschaft Köln Strafanzeige gegen Lothar Lingen und weitere unbekannte Mitarbeiter erstattet. Die Vorwürfe unter anderem: Strafvereitelung und Urkundenunterdrückung.

 

Die Witwe des Opfers Mehmet Kubasik, Elif, steht hinter der Anzeige: „Ich möchte wissen, ob der Verfassungsschutz Informationen hatte, mit denen der Mord an meinem Mann hätte verhindert werden können.“ Und: „Uns ist Aufklärung versprochen worden, aber das Gegenteil ist der Fall.“

 

Im NSU-Komplex macht das Bundesamt für Verfassungsschutz seit Längerem keine gute Figur. Immer wieder geht es um V-Leute, die das Amt im Umfeld des NSU geführt hat. Die Behörde gibt zwar zu, dass diese rechtsextremistischen Informanten den Mitgliedern und den Unterstützern des NSU nahe gekommen sind. Die V-Männer hätten aber trotzdem von den konkreten Taten des NSU oder etwaigen Planungen nichts mitbekommen.

 

An diesem Urteil kommen jedoch aufgrund der Aktenvernichtung erneut Zweifel auf. Die Anwälte der Opfer vermuten, dass die Dokumente bewusst beseitigt worden sind, um die Wahrheit zu verschleiern. Das BfV bestreitet diesen Vorwurf. 

 

„Systematisch getäuscht und hintergangen“


Petra Pau, Obfrau der Linke-Fraktion im NSU-Ausschuss, hat jedoch aufgrund der jüngsten Erkenntnisse Zweifel am Aufklärungswillen des Verfassungsschutzes. Schon im ersten NSU-Untersuchungsausschuss seien die Abgeordneten offenbar vom Kölner Amt und dem Bundesinnenministerium „systematisch getäuscht und hintergangen“ worden, so Pau gegenüber der „Welt“.

 

Dass Lingen alleine gehandelt hat, glaubt sie nicht: „Das BfV versucht nach wie vor, die Verantwortung seiner V-Leute, seiner V-Mann-Führer und seines Führungspersonals für das Staatsversagen im NSU-Komplex zu vertuschen: Indem der Vorsatz und der Umfang bei der Aktenvernichtung dem Parlament bis jetzt verschwiegen wurde.“

 

Dass Dokumente im BfV geschreddert worden sind, wurde erstmals im Sommer 2012 publik. Damals war bekannt geworden, dass der Referatsleiter Lothar Lingen eine Archivarin genötigt hatte, Akten von V-Männern vernichten zu lassen. Verschiedene NSU-Opferanwälte hatten deshalb schon im Jahr 2012 Lingen angezeigt. Die Kölner Staatsanwaltschaft hatte jedoch damals kein Verfahren eröffnet – es hätten keine Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verstrickung des BfV gewonnen werden können, schrieb der zuständige Staatsanwalt in seiner Begründung.

 

Die NSU-Opferanwälte bemängeln nun allerdings in ihrer Anzeige, dass die Staatsanwaltschaft den Fall auf der Grundlage falscher Annahmen bewertet habe. So hielten die Kölner Ankläger die V-Leute, deren Akten man beseitigt hatte, für „Randfiguren“, zudem hätte das BfV alle vernichteten Akten rekonstruieren können. Beide Annahmen sind falsch und inzwischen widerlegt. Zumindest ein Teil der vernichteten Akten ist unwiederbringlich zerstört. 

 

Lothar Lingen wurde inzwischen versetzt


Für Lothar Lingen ist die Aktenvernichtung nicht folgenlos geblieben. Er hat gegenüber der Bundesanwaltschaft zugegeben, dass er disziplinarrechtlich belangt worden ist. Wie genau, erklärte er allerdings nicht. Für Lingen gab es zudem eine weitere Konsequenz: Er ist aus dem BfV versetzt worden und arbeitet inzwischen im Bundesverwaltungsamt.

 

Vergangene Woche nun musste er als Zeuge im NSU-Ausschuss aussagen. Dort hatte er zunächst konfus gewirkt und erklärt, er verweigere die Aussage, weil er sich vertraulich gegenüber der Bundesanwaltschaft geäußert habe. Offenbar hatte Lingen angenommen, dass er bestimmte Informationen vor dem NSU-Ausschuss des Bundestags und damit vor dem Parlament geheim halten darf und muss.

 

Die Bundesanwälte hatten ihrerseits das exklusive Wissen aus der Aussage von Lothar Lingen nicht mit anderen Teilnehmern des NSU-Prozesses in München geteilt. Als einige der Nebenklagevertreter im August 2015 die Ladung von Lothar Lingen als Zeuge in dem Verfahren beantragt hatten, erwiderten die Bundesanwälte, dass an der Behauptung, die Akten seien durch Lingen gezielt liquidiert worden, nichts dran sei. 

 

Anzeige auch gegen die Bundesanwälte selbst


Die Nebenklagevertreter hätten dabei ins „Blaue hinein und entgegen allen bislang vorliegenden Erkenntnissen“ spekuliert. Tatsächlich hätten die Ankläger es damals schon besser wissen müssen, da sie zu dem Zeitpunkt längst Lingen in Karlsruhe vernommen hatten.

 

Die Bundesanwaltschaft war vor Kurzem ebenfalls in die Kritik geraten, da sie noch im Jahr 2014 Asservate hat vernichten lassen. Sie gehörten einem der wichtigsten Unterstützer von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, wie die „Welt“ am 19. September berichtet hatte. Karlsruhe sprach von einem Versehen – dennoch haben auch in diesem Fall Nebenklagevertreter Anzeige wegen Strafvereitelung gestellt. Angezeigt wurden unter anderem die Bundesanwälte selber.

 

Was bislang in der neu entflammten Diskussion um vernichtete Akten untergeht: Die von Lothar Lingen initiierte Aktenbeseitigung war nur der Anfang im Bundesamt für Verfassungsschutz. Schon der Abschlussbericht des ersten NSU-Ausschusses des Bundestags hielt fest, dass bis zum Sommer 2012 insgesamt 310 Akten in der Behörde geschreddert worden sind. Auch bei diesen Akten ging es zum Teil um einen wichtigen Unterstützer des späteren NSU: Jan Werner. Es waren wiederum Werners Notizbücher, die die Bundesanwaltschaft im November 2014 vernichten ließ.