„Wir werden nicht vergessen, was Sie hier abziehen“

Todesanzeige Ulrike Meinhof
Erstveröffentlicht: 
05.05.2016

Zum 40. Todestag von Ulrike Meinhof - „Wir werden nicht vergessen, was Sie hier abziehen“

 

 

Vor 40 Jahren, am Sonntagmorgen des 9. Mai 1976 um 7:34, wird die in Untersuchungshaft gefangen gehaltene Ulrike Marie Meinhof Tod in ihrer Zelle aufgefunden. Ihr Kopf hängt in einer für ihren Kopf viel zu großen 80 cm langen Schlinge, die Ferse ihres linkes Fußes stützt sich auf einem Stuhl. Der Anstaltsarzt Dr. Henk diagnostiziert: „Tod durch Strangulation“. Unverzüglich, fast hektisch, beginnen die Beamten der Vollzugsanstalt, des LKA, der Kripo und die Beamten des Landesjustizministeriums mit der „Begutachtung“ der Leiche. Anwälte von Ulrike Meinhof und auch weitere Gefangene bekommen diese Situation nicht zu Gesicht. Als der erste Anwalt um elf Uhr eintrifft, hat man bereits die Blechwanne mit Leiche heraus geschaffen. Bereits seit 09:20 vermeldet die Presse fleißig den Selbstmord der Frau, wobei allerdings der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin Professor Joachim Rauschke die Untersuchung erst um 09:25 beginnt.

 

„Tod durch Erhängen“? Was ist das für ein Szenario? Und was hat das für uns heute für eine Bedeutung? Der Tod Ulrike Meinhofs lässt sich, nehmen wir an, nicht ohne den Hintergrund des Gerichtsverfahrens, in dem sie Angeklagte war, verstehen. Das Oberlandesgericht Stuttgart wirf ihr u.a. Mord, gemeinschaftlichen Mord und die Gründung der kriminellen Vereinigung Rote Armee Fraktion vor. Außerdem wird sie der „Rädelsführerschaft“ beschuldigt. Ihr wird dafür ein Prozess gemacht. Dieser findet in dem dafür eigens errichteten millionenschweren „Mehrzweckgebäude“ auf dem Vollzugsgelände in Stuttgart-Stammheim statt. Neben Ulrike Meinhof sind auch noch mit ihr Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe beschuldigt und angeklagt.

 

Der Prozess wird knapp ein Jahr vor ihrem Tod, am 21. Mai 1975, eröffnet. Immer wieder werden allerdings Anwälte ausgeschlossen, kriminalisiert und verhaftet. Die Büroräume der Anwälte werden durchsucht. Noch kurz vor Beginn des Prozesses steht Andreas Baader noch im August '75 ohne einen Anwalt seines Vertrauens da. Hans-Heinz Heldmann wird darauf hin sein neuer Anwalt und muss sich innerhalb kürzester Zeit auf einen 1900 Aktenordner beladenen Prozess vorbereiten. Neu geschaffene Gesetze machen es außerdem möglich, Angeklagte von den Prozessverhandlungen auszuschließen. Die Prozessleitung wird ab dem 30. September davon umfassenden Gebrauch machen und den Prozess in weiten Teilen ohne Angeklagte über ihr eigenes Urteil verhandeln.

 

Die Angeklagten selbst sehen sich als verhandlungsunfähig. Alle vier Angeklagten befinden sich seit mindestens drei Jahren in Untersuchungshaft. Ihre Haft ist von beginn an durch Isolation und „Einzelhaft“ geprägt und erinnert an Folter- und Zwangsmethoden. Die sogenannte sensorische Deprivation fasst das Phänomen, das dort angewandt wird, sehr genau. Die daraus resultierenden psychischen und physischen Folgen sind verheerend und vielzählig – Schäden an Ohren, Augen, Zähnen und Muskulatur; überall Schmerzen; Probleme mit Herz und Verdauung, Menstruation und Schlaf; diverse weitere vegetative, psychische oder psychosomatische Beschwerden. Der sich durch die Aktionen der RAF angegriffen gefühlte Staat lässt kein Mittel aus, um auf die Gefangenen einzuwirken. Immer wieder wehren sich diese allerdings mit Hungerstreiks, teils Durststreiks, gegen diese Bedingungen. Zu dem Prozess in Stuttgart-Stammheim ist der körperliche Zustand der Angeklagten außerordentlich schlecht.

 

Die am 9. Mai '76 verstorbene Ulrike Meinhof selbst verbrachte ab Juni 1972 335 Tage im Toten Trakt in Köln-Ossendorf. Totale Isolation, nicht einmal das Fenster kann hier sie öffnen. Sie muss Anstaltskleidung tragen. Gespräche mit ihren Besuchern werden kontrolliert und protokolliert. Vor und nach jedem Besuch muss sich die Gefangene komplett nackt ausziehen. Man versucht sie zu kontrollieren und zu destruieren. Der Toten Trakt selbst entspricht in seiner Anordnung einem Forschungsprojekt der Universität Hamburg-Eppendorf, dem sogenannten Projekt KL-B. Hier wurden die Wirkungen der Isolationshaft unter dem Stichwort „camera silens“ wissenschaftlich erforscht. Ulrike Meinhof wird auch während dieser Zeit, neben dem Projekt KL-B, Objekt des Forschungsprojekts Projekt A 8. Es findet parallel unter der Leitung von Professor Gross in Hamburg-Eppendorf statt und simuliert einen fiktiven sozialen Partner, mit dem das Verhalten der 2. Person entweder konstant gehalten oder manipuliert werden kann. Es wird praktisch an Ulrike Meinhof in Köln eingesetzt. Dazu bringt man Gudrun Ensslin aus der JVA Essen in einen zweiten Traktflügel, um einen 2. fiktiven Partner zu simulieren.

 

Die Verhandlungen in Stuttgart-Stammheim werden trotz allem Vorgefallenen durchgeführt. Der Vorsitzende der Verhandlungen, Theodor Prinzing, bestimmt die Haftbedingungen der vier Angeklagten. Diese sind in dem Vollzugsgebäude nebenan im siebten Stock untergebracht – Einzelzellen, weit abgetrennt von anderweitig Gefangenen. Der Hofgang mit entsprechender Bespitzelung findet im „Käfig“ auf dem Dach des Gebäudes statt. Der Prozess zieht sich in die Länge. Es gibt kaum Beweise. Alle Angeklagten benötigen eigene Anwälte. Anwälte ihres Vertrauens sind allerdings weitgehend ausgeschlossen. So wurden jene Anwälte, die Ulrike Meinhof auch schon vor diesem Prozess einmal vertreten haben, wie Klaus Croissant, Hans-Christian Ströbele oder Heinrich Hannover kriminalisiert oder ausgeschlossen.

 

Die Situation im Gerichtssaal, die mehr an eine große Maschinenhalle erinnert, ist angespannt. Die Kommentare und Anträge, die die Angeklagten und deren Verteidiger von sich geben, werden weitestgehend unterbrochen oder abgewürgt. Oft lässt man die Angeklagten mit Gewalt aus dem Gerichtssaal bringen. Die vertraulichen Gespräche zwischen Anwalt und Angeklagten werden durch die Justiz abgehört. Immer wieder stellen die Verteidiger Ablehnungsanträge wegen Befangenheit gegenüber dem Vorsitzenden Theodor Prinzing. Bereits im Mai 1976 sind es über 60 Ablehnungsanträge. Erst der 85. Ablehnungsantrag im Januar '77 führt dazu, dass Prinzing seinen Hut nehmen muss.

 

Zum Mai '76, knapp ein Jahr nach Beginn des Prozesses, spitzt sich die Lage in dessen Verlauf zu. Die Erklärungen der Angeklagten stehen an. Ulrike Meinhof bereitet sich intensiv mit ihrem Anwalt Axel Azzola auf diesen Akt vor. Die Chancen dabei stehen gar nicht so schlecht, denn die weitreichenden Verfahrensprobleme des Prozesses und der Haftbedingungen stehen Verurteilungen im Weg. Das muss auch die Bundesanwaltschaft zur Kenntnis nehmen. Sie wird sich allerdings nicht geschlagen geben und sich schließlich in jener Nacht von Samstag auf Sonntag von der Gefahr, den Prozess nicht weiter kontrollieren zu können, losmachen. Das Opfer dieses justizialen Vorgehens verliert dabei ihr Leben und wird um 07:34 tot aufgefunden.

 

Nach diesem Szenario kommt viel Trauer, Fassungslosigkeit und Wut in uns hoch. Mit Ulrike Marie Meinhof mussten wir einen Menschen hergeben, der für eine bessere Gesellschaft gekämpft, gedacht und gelebt hat. Ihr ethischer Anspruch, jene Menschen von einer Unterdrückung durch Patriarchat, Imperialismus und Kapital zu befreien, begleitet die nur 41,5 Jahre gewordene Frau durch ihr Leben. Seit 1957 hat sie sich gegen Terror, Aufrüstung und Krieg engagiert und gekämpft. Ihre in der Konkret veröffentlichen Kolumnen haben von 1959 an eine ganze Generation und soziale Bewegung begleitet und voran getrieben. Dieser Verlust wiegt bis heute schwer. Wir haben eine anspruchsvolle Intellektuelle, die bereit war, für ihr Handeln Verantwortung und Konsequenz zu tragen verloren.



Unsere Trauer und Bewusstsein für Dich, Ulrike, wird uns niemals verlassen. Niemals können wir Dich vergessen. Niemals werden über Dich und Deine Umstände schweigen.

Tod dem Faschismus. Tod der Klassenjustiz.


„Wir werden nicht vergessen, was Sie hier abziehen. Und es wird Ihnen auch nicht gelingen, hier einen Prozess durchzuziehen, mit falschen Zeugen, mit falschen Polizeikonstruktionen, und mit dem Desaster. Und Sie werden nicht vermeiden, dass wir verhandlungsunfähig sind, weil wir seit dreieinhalb Jahren gefoltert werden. Das werden Sie nicht vom Tisch kriegen.“
(Ulrike Marie Meinhof; Tonbandaufnahme des Prozesses vom 30. September 1975)