Made in China: Süsser Klebereis und Peitsche

Erstveröffentlicht: 
25.03.2016

Die Proletarier finden sich bei der Umstrukturierung der chinesischen Wirtschaft auf der Verliererseite wieder. Sie wehren sich. Das ist neu. Die Partei reagiert flexibel.

 

In den Strassen von Shuangyashan in der nordöstlichen Provinz Heilongjiang war nichts mehr wie früher. Zu Tausenden gingen Entlassene auf die Strasse. Die Stadt nahe der russischen Grenze lebte Jahrzehnte gut vom Kohlebergbau. Bei der staatlichen Mine Longmay als Kumpel angestellt zu sein, bedeutete bis vor kurzem so etwas wie die in China sprichwörtliche „eiserne Reisschale“, einen Job auf Lebenszeit.

 

Damit ist es vorbei. Die Partei macht jetzt offenbar Ernst mit dem gross angekündigten Versprechen, schmerzhafte Strukturreformen durchzusetzen. Es geht im Jahre 37 der Reform darum, die Volkswirtschaft auf ein „nachhaltiges Wachstum“ einzustimmen. Dazu gehört auch der Abbau von Überkapazitäten in grossen Staatsbetrieben. Betroffen sind insbesondere der Kohlebergbau und die Stahlindustrie, aber auch die Sektoren Bau, Aluminium, Glas, Zement und Schiffbau.

 

Rücksichtslos die Axt anlegen

 

Premierminister Li Kejiang – die Nummer 2 der Partei – brachte es auf den Punkt: „An diese Zombie-Unternehmen mit absoluter Überkapazität müssen wir rücksichtslos die Axt anlegen“. Parteichef Xi Jinping wiederum sagte offen, dass dem Markt grössere Bedeutung zukommen müsse. „Sich am Markt bewähren“, heisse fortan die Devise.

 

Kein Wunder, die staatlichen Unternehmen produzierten trotz nachlassender Nachfrage munter weiter am Markt vorbei. Wurden zum Beispiel 2008 noch 132 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr ausgestossen, waren es sechs Jahre später bereits 327 Millionen Tonnen. Auch die staatlichen Zemtentproduzenten erhöhten trotz sinkender Nachfrage die Produktion von 450 Millionen Tonnen (2008) auf 850 Millionen (2014). Zombie-Unternehmen sind also staatliche Konglomerate, die durch Kredite von Staatsbanken mit niedrigen Zinsen künstlich am Leben gehalten werden.

 

Nach Angaben von Arbeits- und Sozialminister Yin Weimin sollen in einem ersten Schritt der Reform nun 1,3 Millionen Kumpels und 500'000 Stahlarbeiter entlassen werden. Das Ganze soll abgefedert werden mit einem Sozialfonds der Zentralregierung von 100 Milliarden Yuan (rund 15 Mrd. Schweizer Franken). Damit sollen Umschulung und Überbrückungshilfen finanziert werden.

 

Nach dem ersten sollen jedoch bald weitere Reformschritte folgen. Bis 2020 stehen weitere Massenentlassungen an. Ökonomen gehen in ihren Schätzungen von zwei bis vier Millionen zusätzlichen Entlassungen aus. Etwas Ähnliches erlebte China bereits in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, als der damalige Premierminister Zhu Rongji hart durchgegriffen hatte. Rund 25 Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen verloren ihre Stelle. Zwei Drittel davon fanden dank Umschulung und Überbrückungszahlung wieder einen Job.

 

Wir wollen essen!


In de Strassen von Shuangyashan ging es den Tausenden von Kumpels zunächst nicht um Überbrückungshilfen. Vielmehr forderten die Protestierenden Lohnrückstände ein. „KP, gib uns unser Geld zurück! Wir wollen überleben!! Wir wollen essen!!!“ hiess es auf Spruchbändern. Die Bitterkeit ist gross, denn die Stadt lebt vom Kohlebergbau. Doch jetzt werden von den rund 240'000 Angestellten 100'000 ihren Arbeitsplatz verlieren. Auch in andern Regionen des Chinesischen Rostgürtels im Nordosten beginnen sich die Arbeiter zu wehren, so beispielshalber im Stahlunternehmen Tonghua in der Provinz Jilin.

 

Doch es sind nicht nur die mit Überkapazitäten produzierenden Staatsbetriebe, die Stellen streichen. Auch rund 3'000 Kilometer südwestlich von Shuangyashan in der Provinz Guangdong (Kanton) nahe Hong Kong wird umstrukturiert. Firmen, meist privat und viele aus Hong Kong, entlassen Arbeiter zu Zehntausenden und schliessen ganze Fabriken. Vielen, die noch Arbeit haben, wurden die Löhne drastisch gekürzt und die Arbeitszeit verlängert.

 

Es kam zu Hunderten von Streiks und Demonstrationen. Guangdong galt bis vor kurzem als „Werkstatt der Welt“. Dort wurde von Textilien, Schuhen über Eisschränke und Möbel bis hin zu mobilen Telephonen und Computern alles hergestellt, was das westliche Herz im Zeichen von „Geiz ist geil“ begehrte. Zu unschlagbaren Preisen. Alles, was global Rang und Namen hat – von Foxconn (iPhone etc.) und Sony über Samsung, Hewlett-Packard, Intel oder Microsoft bis IBM, PepsiCo und dem Nike-Lieferanten Yue Yuen – war und ist vertreten.

 

Das Neue Normale


Doch jetzt, beim Paradigmenwechsel der chinesischen Wirtschaft, verändert sich viel und schnell. Die Löhne und Sozialleistungen schnellten in die Höhe (Durchschnittslohn 1990: 100 $, 2015: 600 $). Viele Unternehmen wandern ab, zum Beispiel nach Vietnam, Kambodscha, Indonesien, Bangladesh oder Pakistan. Die Zeiten des billigen Kapitals, des billigen Landes und der billigen Arbeitskräfte sind in China endgültig vorbei.

 

Ziel der Umstrukturierung: Innovation, Umweltfreundlichkeit, Erreichen einer längeren Wertschöpfungskette. Das gesamtwirtschaftliche Wachstum ist mit 6,9 Prozent (2015) immer noch beachtlich, wenn auch in den letzten Jahren sinkend. Oder, wie sich Parteichef Xi Jinping wie aus einem kapitalistischen Lehrbuch ökonomisch korrekt auszudrücken pflegt: „Das Neue Normale“.

 

Was allerdings die allmächtige Partei umtreibt, ist die Furcht vor sozialen Unruhen, oder parteichinesisch ausgedrückt vor „sozialem Chaos“. Die Legitimität der Partei beim Volk beruht nämlich zum grossen Teil auf wirtschaftlichem Erfolg. So mancher Kaiser hat das „Mandat des Himmels“, also die Macht, durch Unruhen verloren. Das wissen die roten Mandarine sehr wohl. Die Studenten- und Arbeiterunruhen auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen in Peking 1989 wurden ausgelöst durch Hyperinflation und Überhitzung der Wirtschaft. Damals schlugen die wirtschaftlichen alsbald in politische Forderungen um. Das versucht derzeit die Führung sowohl im Norden wie im Süden des Landes zu verhindern.

 

Mehr Konsultationen

 

Es gibt viele unabhängige Gruppen und Aktivisten, die von Fall zu Fall das Beste für die Arbeiter und Arbeiterinnen herausholen wollen. Die heutige Generation der rund 250 Millionen Wanderarbeiter ist bedeutend besser ausgebildet als noch vor zwanzig Jahren. Der Migrant, die Migrantin kennt die Rechte, und auch die Erwartungen sind bedeutend höher.

 

Ein neues Element hat zudem die Aktivitäten der Protestierenden radikal verändert: die sozialen Medien. Auf all das reagieren die Behörden flexibel. Sie versuchen sich anzupassen, um den sozialen Unmut im Griff zu behalten und die Deutungshoheit zu bewahren. Mit Zucker-Klebereis und Peitsche sollen die Proletarier im Sinne der Partei gefügig gemacht werden.

 

Auf den einzigen von der KP gesteuerten Gewerkschaftsverband des Landes – die All-China Federation of Trade Unions (ACFTU) – wird zusätzlicher Druck ausgeübt, sich mehr und effektiver für die Rechte der Arbeitenden einzusetzen. Die ACFTU soll nicht mehr wie früher meist mit dem Management gemeinsame Sache machen. Das Arbeitsmotto heisst: weniger Konfrontation, mehr Konsultationen. Sogar Gesamtarbeitsverträge darf jetzt die ACFTU abschliessen.

 

Die führende Klasse


Immerhin steht in der Verfassung des Gewerkschaftsbundes schwarz auf weiss: „Die Arbeiterklasse ist die führende Klasse in China“. Dennoch vereinnahmt die Partei Kapitalismus und freien Markt und nimmt Privatunternehmer als Parteimitglieder auf.

 

Das verpflichtet. Bis zu einem gewissen Punkt. Gehen Forderungen oder Streiks – offiziell verboten – zu weit, wird die Peitsche ausgepackt. Das geht von Verhaftungen über Gefängnisstrafen bis hin zur gewaltsamen Auflösung von Demonstrationen und Streiks. Analoge und digitale Medien werden in ihrer Berichterstattung strengstens kontrolliert.

 

Insgesamt aber verhält sich die Regierung, verglichen mit ihrem Verhalten gegenüber andern politisch Inkorrekten, erstaunlich konziliant. Von Fall zu Fall wird analysiert und entschieden. Diese Flexibilität freilich soll nicht die Arbeiter stärken, denn freie Arbeitervereinigungen oder Gewerkschaften sind und bleiben tabu. Vielmehr soll „soziales Chaos“ verhindert werden. Soziales Chaos nämlich, das machte schon Reformübervater Deng Xiaoping anhand der Beispiele „Grosse Proletarische Kulturrevolution“ (1966-76) und den „Tiananmen-Zwischenfällen“ (1989) klar, schadet der Wirtschaft und dem Wohlergehen des Volkes.