„Wir werden gestärkt aus der Flüchtlingskrise hervorgehen“

Erstveröffentlicht: 
31.12.2015
DRK-Präsident Rudolf Seiters über das freiwillige Engagement der Deutschen, über die Grenzen des Zumutbaren und Hilfe in den Herkunftsländern Interview: Dieter Wonka

 

Herr Seiters, das bürgerschaftliche Engagement bei der Flüchtlingsbetreuung ist gewaltig. Verändert das Deutschland?


Ganz neu ist dieses Engagement ja nicht. Auch bei der Flut vor zwei Jahren in Ost- und Süddeutschland waren sehr viele ehrenamtliche Helfer im Einsatz. Aber natürlich ist die Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge seit dem Sommer überwältigend, sie hält auch weiter an. In dieser Dimension haben wir das vielleicht in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlebt, aber bisher nicht in der neueren Geschichte der Bundesrepublik. Ohne Zehntausende ehrenamtliche Helfer des DRK und anderer Hilfsorganisationen, aber auch ohne die vielen spontanen Helfer, wäre Deutschland nicht in der Lage gewesen, in diesem Jahr eine Million Flüchtlinge aufzunehmen. Der Staat allein hätte dies gar nicht geschafft. Deshalb bin ich mir sicher, dass die Zivilgesellschaft gestärkt aus dieser Situation hervorgeht. Aus diesem Fundus, aus diesem bürgerschaftlichen Engagement, wird die deutsche ­Gesellschaft auch bei künftigen Herausforderungen ähnlicher Art schöpfen können.


Spenden die Deutschen genug und richtig?


Im Jahr 2015 wurde mehr für das DRK gespendet als im Jahr zuvor. 2014 waren es 29,4 Millionen Euro, 2015 werden es hochgerechnet zum Jahresende etwa 40 Millionen Euro sein. Das ist ein sehr gutes Ergebnis. Die deutliche Steigerung ist vor allem auf die Spenden für die Opfer des Erdbebens in Nepal im Frühjahr und auf die Hilfe für die Flüchtlinge zurückzuführen. Für Nepal wurden 8,2 Millionen Euro gespendet, für die Flüchtlingshilfe bis Mitte Dezember rund 5,5 Millionen Euro. Im Übrigen gibt es vor allem vor Ort viele Sach- und Zeitspenden.


Wie lange können die DRK-Helfer den Großeinsatz in der Flüchtlingshilfe noch durchhalten?


Es ist für das DRK der größte Einsatz seit der Wiedervereinigung Deutschlands vor 25 Jahren. Mittlerweile betreuen rund 20 000 ehrenamtliche und hauptamtliche DRK-Helfer rund um die Uhr mehr als 150 000 Flüchtlinge in 450 Notunterkünften. Wir können noch einiges stemmen. Aber gerade die Belastbarkeit ehrenamtlicher Helfer hat auch ihre Grenzen, zumal der Flüchtlingszustrom ja möglicherweise noch lange anhalten wird. Deshalb fordern wir für derartige Ausnahmesituationen für die Helfer des DRK und anderer Hilfsorganisationen eine vergleichbare Regelung wie bei den Freiwilligen Feuerwehren und beim Technischen Hilfswerk: Deren Helfer haben gegenüber dem Arbeitgeber einen Anspruch auf Freistellung und Lohnfortzahlung.


Wie gut sind die Notunterkünfte auf den Winter vorbereitet?


Zahlreiche Zeltunterkünfte sind in den vergangenen Wochen in winterfeste Quartiere umgewandelt worden. Dennoch müssen nach wie vor Flüchtlinge in beheizbaren Zelten leben, die mit doppelten Wänden und festem Boden ausgestattet sind. Doch auch wenn das derzeit milde Wetter von Vorteil ist: Die Unterbringung zum Beispiel in Turnhallen kann nur eine Notlösung sein. Es darf auch nicht sein, dass regulärer Sportunterricht für Kinder oder der Vereinssport wochenlang ausfällt. Hier müssen sich die Behörden andere Möglichkeiten einfallen lassen. Es geht im neuen Jahr aber nicht nur um die Unterbringung. Flüchtlinge mit Bleibeperspektive müssen auch integriert ­werden. Dazu gehören kostenlose Sprachkurse und ein rascher Zugang zum Arbeitsmarkt. Hier werden wir als DRK unsere Angebote ausbauen.


Bei vielen Naturkatastrophen organisierte das Fernsehen rasch Spendengalas. Bei den Flüchtlingen hält man sich damit eher zurück. Ist das gut so?


Erfahrungsgemäß ist es so, dass die Spendenbereitschaft bei Naturkatastrophen mit weitem Abstand am größten ist. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass das Fernsehen sich danach richtet. Leider finden Spendenaufrufe für den Kampf gegen Ebola oder eben für Bürgerkriegsflüchtlinge in Syrien oder den Nachbarländern nicht so großen Anklang. Dabei ist es wichtig, auch direkt vor Ort zu helfen, um die Lebenssituation zum Beispiel in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu verbessern. Hier sind wir als DRK zu einem großen Teil auf die Bundesregierung angewiesen, um helfen zu können. So konnten wir mithilfe des Auswärtigen Amtes in den vergangenen fünf Jahren in Syrien Hilfsgüter im Wert von rund 60 Millionen Euro zum Einsatz bringen.


Rudolf Seiters hat den größeren Teil seines Lebens in der Politik verbracht. 1958 gründete der Osnabrücker, gerade 21 Jahre alt, die Junge Union in Bohmte. Von 1969 bis 2002 war er CDU-Bundestagsabgeordneter – und zwischendurch Kanzleramtschef unter Helmut Kohl, Bundesinnenminister sowie Vizepräsident des Bundestags. Seit 2003 ist der 78-Jährige Präsident des Deutschen Roten Kreuzes.