Anschläge sind "keine Form der politischen Artikulation"

Erstveröffentlicht: 
29.12.2015

Kurt Biedenkopf (CDU), ehemaliger Ministerpräsident Sachsens, lehnt es ab, Pegida-Demonstrationen und rechtsradikale Angriffe auf Flüchtlingsheime in Zusammenhang zu bringen. Diese seien Verbrechen, erstere ein Grundrecht. Zudem brauche es mehr Aufklärung über die Gründe der großen Fluchtbewegung.

 

Der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) hat sich dagegen verwehrt, Pegida-Demonstrationen mit  rechtsradikalen Angriffen auf Flüchtlingsheime in Zusammenhang zu bringen. Er wolle solchen Verbrechen keine politische Bedeutung im engeren Sinne beimessen, sagte der CDU-Politiker im Deutschlandradio Kultur. Bei den Anschlägen handele es sich um Verbrechen und nicht etwa um eine politische Artikulation. Die Pegida-Demonstranten kämen dagegen ihrem Demonstrationsrecht nach. 

 

"Was mich beunruhigt ist, dass man die Täter nicht bekommt"


"Anschläge auf Flüchtlingsheime oder irgendwelche andere Heime oder Häuser sind Vergehen beziehungsweise Verbrechen" sagte Biedenkopf. "Was mich beunruhigt ist, dass man die Täter nicht bekommt oder, wenn man sie erwischt, dass sie noch eine ganz gute Chance haben, nicht verurteilt zu werden." Er wolle solchen Übergriffen aber keine politische Bedeutung im engeren Sinne beimessen. "Denn das ist keine Form der politischen Artikulation", sagte Biedenkopf. Er betone das deshalb, weil er das Gefühl habe, dass solche Vorfälle politisch aufgeladen würden.

 

Wenig Erfahrung mit Flüchtlingen in Ostdeutschland


"Es gibt genug Gründe in Ostdeutschland, nicht nur in Sachsen, warum die Bevölkerung über diesen starken Flüchtlingszustrom beunruhigt ist", sagte Biedenkopf. Die Bevölkerung habe damit keine Erfahrung. Außerdem hätten die Ostdeutschen eine völlige Umstellung ihres Lebens bewältigt. Er habe bereits bei einer Rede in der Dresdner Frauenkirche unter Beifall gesagt, dass man mit den verunsicherten Menschen "Friedensgespräche" über den Flüchtlingsstrom und dessen Konsequenzen führen müsse. Es werde nicht genug darüber diskutiert, warum die Flüchtlinge in so großer Zahl kämen. Stattdessen werde nur darüber gesprochen, wie man mit dem Zustrom fertig werde.

 

"Wenn wir die Ursachen mit den Menschen nicht diskutieren und ihnen plausibel machen, dass die Europäer auch selbst eine große Verantwortung dafür übernehmen müssen, dass das alles passiert, dann müssen sie ja Angst bekommen", sagte der CDU-Politiker. Wenn die Leute wüssten, dass es sich um große Herausforderungen handele, die sich erklären ließen, werde die Sache anders gesehen.

 

Der Jurist, Hochschullehrer und CDU-Politiker Kurt Biedenkopf war von 1990 bis 2002 Ministerpräsident des Freistaates Sachsen. Er lebt heute in Bayern, ist dem Land Sachsen aber weiterhin stark verbunden.


 Das Interview im Wortlaut:

 

Liane von Billerbeck: Anfang Dezember veröffentlichte die Wochenzeitung "Die Zeit" eine Deutschlandkarte der Gewalt, auf der die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte verzeichnet ist. Auffällig war, dass sich besonders viele Vorfälle in Sachsen ereignet haben, auch in absoluten Zahlen, wie im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Wir haben darüber mit dem Mann gesprochen, den man in Sachsen bis heute "König Kurt" nennt, den einstigen Ministerpräsidenten des Bundeslandes, den CDU-Politiker Kurt Biedenkopf. Und ich habe ihn zunächst gefragt, was ihm durch den Kopf geht, wenn er wieder und wieder von Anschlägen auf Flüchtlingsheime in Sachsen hört.

 

Kurt Biedenkopf: Anschläge auf Flüchtlingsheime oder irgendwelche andere Häuser sind Vergehen, beziehungsweise Verbrechen. Was mich beunruhigt, ist, dass man die Täter nicht bekommt, oder, wenn man sie erwischt, dass sie immer noch eine ganz gute Chance haben, nicht verurteilt zu werden. Darüber hinaus möchte ich eigentlich dieser ganzen Entwicklung, soweit es sich um solche Übergriffe auf Häuser oder Heime handelt, keine politische Bedeutung im engeren Sinne zumessen, denn das ist keine Form der politischen Artikulation.

 

von Billerbeck: Herr Biedenkopf, Sie waren von 1990 bis 2002 Ministerpräsident von Sachsen, wohnen jetzt in Bayern, sind dem Land aber bis heute verbunden. Wie beurteilen Sie denn die Situation und das gesellschaftliche Klima in Sachsen, wenn Sie sagen, solche Angriffe haben keine politische Bedeutung im direkten Sinne?

 

Biedenkopf: Ja, gut, ich sage das deshalb, weil ich immer wieder das Gefühl habe, dass man sie politisch auflädt.

 

von Billerbeck: Sind sie das nicht?

 

Biedenkopf: Nein. Natürlich sind sie politisch aufladbar, aber wenn Leute ein Haus anzünden, ist das keine politische Erklärung, sondern ein Verbrechen. Dass wir das sofort der politischen Entwicklung des Landes zurechnen, halte ich für fragwürdig. Es gibt genug andere Möglichkeiten, sich über die politische Situation in Sachsen zu verständigen. Ich habe diese Statistik von der "Zeit" auch gesehen. Ich habe, offen gestanden, nicht allzu viel damit anfangen können, denn es wird zum Beispiel nicht angegeben, wie viele Leute daran beteiligt waren. Es wird nicht angegeben, mit welchen Konsequenzen das gemacht wurde. Es ist sehr schwierig, eine Statistik dieser Art politisch auszuwerten. 

 

Keine Erfahrung mit Flüchtlingen


von Billerbeck: Woher stammen denn nun diese Ressentiments gegenüber Flüchtlingen und auch diese Angst vor Fremden? Das kann man ja auch bei den Pegida-Demonstrationen immer wieder beobachten, dass da solche Parolen kommen. Woher kommt das?

 

Biedenkopf: Ich möchte unter keinen Umständen, dass die Pegida-Demonstrationen mit der Statistik von der "Zeit" in Zusammenhang gebracht wird. Das ist unzulässig. Die Pegida-Demonstrationen sind Ausübung eines ganz entscheidenden demokratischen Grundrechts, nämlich demonstrieren zu dürfen. Und es gibt genug Gründe in Ostdeutschland, nicht nur in Sachsen, sondern in Ostdeutschland, warum die Bevölkerung über diesen starken Flüchtlingszustrom beunruhigt ist. Der wichtigste ist, dass sie keinerlei Erfahrung damit hat. Zweitens, die Menschen in Sachsen wie in anderen ostdeutschen Ländern haben 25 Jahre eine völlige Umstellung ihres Lebens bewältigt, und zwar in einer Tiefe, wie es sich Westdeutsche überhaupt nicht vorstellen können.

 

Ich habe in der Frauenkirche zu ihrem zehnjährigen Weihejubiläum über diese Fragen gesprochen. Die Leute haben das alle völlig verstanden und haben mir außerordentlich dankbar nachher Beifall geklatscht. Ich habe gesagt, wir müssen mit den Menschen, die so verunsichert sind, Friedensgespräche, Gespräche führen, was ist das für ein Phänomen, was hat das für Konsequenzen für uns, und warum kommen die Flüchtlinge?

 

von Billerbeck: Herr Biedenkopf, Sie haben das gerade erwähnt – ich kann mich outen, ich bin auch Ostdeutsche. Ich bin nicht verunsichert, ich habe mir die Welt angesehen, und ...

 

Biedenkopf: Dann sind Sie eine glückliche Ausnahme, viele andere ...

 

von Billerbeck: Ja, aber das, was sie sagen über die Sachsen und auch über einen Teil der Ostdeutschen, klingt so ein bisschen immer noch 25 Jahre nach dem Mauerfall so, als seien das unmündige Kinder, die Anleitung brauchen. Das sind doch erwachsene Menschen.

 

Biedenkopf: Entschuldigen Sie, aber ich glaube nicht, dass wir weiterkommen, wenn wir das immer auf diese Gleise schieben. Ich habe noch nie einen Menschen in Ostdeutschland für unmündig gehalten. Das wissen die Leute in Ostdeutschland besser als Sie offenbar. Ich würde auch nie solche Argumente nutzen, sondern ich möchte etwas anderes: Ich möchte unseren, von Westdeutschland her gesehen eigenen Kenntnisstand wissen und dann fragen, was muss in Ostdeutschland noch erlernt werden. Das hat doch mit "unmündig" nichts zu tun. Wir alle müssen Dinge lernen. Was glauben Sie, wie schwierig es für die Menschen war zu begreifen, dass die Freiheit nicht nur Reisefreiheit bedeutet, sondern Verantwortung in einem großen Umfang, die man bisher so nie hatte.

 

von Billerbeck: Das ist mir schon klar. Meine Frage ist ja auch, kulminiert da nicht in vielen Auseinandersetzungen, die jetzt in der Flüchtlingsfrage gerade passieren, ganz andere Dinge, nämlich verlorenes Vertrauen in die Politik, auch verlorenes Vertrauen in die Demokratie und artikuliert sich eben in Enttäuschung und auch Wut?

 

Biedenkopf: Also, ob es Wut ist, weiß ich nicht, aber Enttäuschung ist es ganz zweifellos. Diese Enttäuschung gibt es auch in Westdeutschland, nur dort wird nicht mehr deshalb demonstriert. Das hängt insbesondere damit zusammen, wenn ich mal meine CDU nehme, dass eine ganze Reihe von wesentlichen Fragestellungen, die die Menschen in Ostdeutschland beschäftigt hat und die man in Deutschland generell als konservativ bezeichnet, dass die in der politischen Diskussion und in der politischen Artikulation kaum noch zu finden sind. Diese Modernisierungsgeschwindigkeit, die wir ja auch in Westdeutschland erleben, ist in Ostdeutschland viel schneller, weil der Weg, den sie zurücklegen müssen, viel weiter ist. 

 

Debatte über die Ursachen der Flüchtlingskrise fehlt  


von Billerbeck: Es gab ja auch einen Angriff in dem sächsischen Ort Heidenau, und der Bürgermeister, dessen Stadt ja dadurch so bekannt oder berüchtigt geworden ist, der hat seinen Kollegen sehr deutlich geraten, auch in der Flüchtlingsfrage immer die Wahrheit zu sagen, auch über Probleme, auch über Unbequemes zu vertreten.

 

Biedenkopf: Ja, da hat er vollkommen recht.

 

von Billerbeck: Außerdem könne er nicht akzeptieren, dass es über Feldbetten hinaus keinen Plan gibt. Ist übrigens ein CDU-Bürgermeister. Sehen Sie das auch so, dass es nicht geht, dass die Wahrheit über Probleme auch bei diesem Thema immer nur scheibchenweise dem Volk zugemutet wird?

 

Biedenkopf: Entweder fehlt die Wahrheit oder diejenigen, die sich damit befassen, haben sie selbst noch nicht verstanden. Denn das ist ja alles sehr plötzlich passiert. Und warum diese Flüchtlinge in so riesengroßen Scharen zu uns kommen, wird bisher öffentlich so gut wie überhaupt nicht diskutiert. Es wird diskutiert, wie werden wir damit fertig, aber es wird nicht diskutiert, warum das alles passiert. Warum haben wir plötzlich diese Explosion an Wanderung von Süd nach Nord mit enormen Aufwendungen der Betroffenen, nach Norden zu kommen.

 

Warum nehmen wir nicht zur Kenntnis, dass wir als Europäer bis Ende des Zweiten Weltkriegs die Länder, aus denen sie kommen, entweder unterworfen haben als Kolonien und ausgebeutet haben oder selbst überhaupt erst geschaffen haben oder vernachlässigt haben. Oder Diktaturen, die dort herrschten, als Kooperationspartner betrachtet haben, wie zum Beispiel Herrn Gaddafi. Diese Debatte gibt es überhaupt nicht. Wenn wir die Ursachen mit den Menschen nicht diskutieren und ihnen plausibel machen, dass die Europäer auch selbst eine große Verantwortung dafür übernehmen müssen, dass das alles passiert, dann müssen sie ja Angst bekommen. Wenn sie aber wissen, dass das eine große Herausforderung ist, die sich aus Verhaltensweisen, aus historischen Quellen und so weiter erklären lässt, sieht man die Sache anders.

 

von Billerbeck: Kurt Biedenkopf war das, der ehemalige Ministerpräsident von Sachsen. Ich danke Ihnen!

 

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

 

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