Brandstiftung mit Forderungen – zu den schwedischen Ausschreitungen

Brennende Autos

Vor 30-40 Jahren konnte es sich der Staat leisten, eine Million Wohnungen in zehn Jahren zu BAUEN, jetzt ist er sogar zu arm, um sie zu RENOVIEREN. [1]

Megafonen - "Alby steht nicht zum Verkauf"

Dieser Ausruf ist höchst repräsentativ für den Aktivismus, welcher in den Vorstädten Stockholms in den letzten Jahren gediehen ist. In diesem Fall kommt er von Megafonen („Das Megafon“), eine basisdemokratische Aktivistengruppe, welche 2008 in der Stockholmer Vorstadt Husby von jungen Leuten rund um Prinzipien wie Demokratie, Gemeinwohl, Gemeinschaft, Arbeit und Bildung gegründet worden ist. Der Staat, sagt Megafonen hier, erfüllt seine eigene Aufgabe nicht mehr, welche darin bestehen würde, das materielle Wohlbefinden der Leute durch Wohnungspolitik zu garantieren. Die Ambivalenz dieser Perspektive ist schon klar in der nostalgischen Anspielung auf die Blütezeit des schwedischen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates, repräsentiert durch die staatliche Wohnungspolitik, welche zum Bau von „einer Million Wohnungen“ zwischen 1965 und 1974 führte. Einerseits anerkennt sie Budgetkürzungen, Privatisierungen, Schliessungen usw. als Symptome einer bereits existierenden kapitalistischen Restrukturierung. Andererseits stellen sich ihre Handlungen als Affirmation dessen heraus, was von der Infrastruktur und den politischen Institutionen übrig geblieben ist, welche die schwedische Arbeiteridentität formten, z.B. staatliche Wohnungen.

 

Diese Ambivalenz kann Sinn ergeben: Durch den Kampf gegen das Fortschreiten der Restrukturierung verteidigt man gleichzeitig das, was noch nicht umgestaltet worden ist. Doch dann lässt man ein wesentliches Produkt der Zerstörung der Arbeiteridentität beiseite: das Ende der politischen Existenz des Proletariats in Schweden, welches in den ärmsten Gebieten von der Entwicklung von undeutlichen Ausschreitungen zwischen 2008 und heute begleitet worden ist. Wenn wir die Praktiken dieser Ausschreitungen in Betracht ziehen, erscheint die Ambivalenz jener Art des Aktivismus von Megafonen – die Tatsache, dass er innerhalb jenen Aspekten funktioniert, welche das Ende der Arbeiteridentität verkörpern, und gleichzeitig versucht, sich auf den Überbleibseln dieser Identität zu organisieren – als ein Widerspruch zwischen den Bedingungen, unter welchen er existiert, und seinen Perspektiven. In einer Zeit, wo das Proletariat, welches die es definierende Arbeitskraft verkaufen muss, strukturell vom kollektiven Verhandlungstisch ausgeschlossen ist, bekräftigt dieser Aktivismus durch seine Verurteilung „des Staates“ und seiner verschiedenen Institutionen immer noch die Möglichkeit eines Dialogs und einer Zukunft innerhalb dieser Gesellschaft. Kurz gesagt verteidigt er einen Wohlfahrtsstaat, der nicht mehr existiert.

 

Es wäre verlockend, diesen Widerspruch entlang einer Achse Revolte-Reform zu analysieren, in welcher die Ausschreitungen die zerstörerische Sprache der Brüche und die Aktivisten die konstruktive Sprache der Politik verkörpern würden. Die Ausschreitungen wären eine blosses Symptom der Zerstörung der Arbeiteridentität, während die Aktivisten ein Mittel dagegen suchen würden. Doch wenn man sich die Ereignisse in einer langfristigen Perspektive näher anschaut, ist dieses politische und theoretische Konstrukt nicht passend. Selbstverständlich sind die Ausschreitungen nicht harmonisch mit diesem Aktivismus vereint. Die Praktiken des Anzündens von Autos und Hauptquartieren diverser Institutionen oder des Kampfes gegen die Polizei und die Feuerwehr unterscheiden sich qualitativ von Praktiken wie das Fordern spezifischer politischer Veränderungen und der expliziten Darlegung, was die Funktion von Institutionen sein sollte. Doch in Anbetracht sowohl der Subjekte, welche diese Praktiken ausüben, als auch der Praktiken selbst, ist das Verhältnis zwischen Ausschreitungen und Aktivismus nicht das von zwei klar unterschiedlichen Lagern. Es geht darum, dieses zeitgenössische Verhältnis zwischen Ausschreitungen und Aktivismus in Schweden deutlich zu machen, zu verstehen, was es über die gegenwärtige Periode in einem allgemeineren Sinn aussagt.

 

Sechs Jahre nach den Ausschreitungen in Malmö, fünf Jahre nach den Ausschreitungen in Göteborg und mehr als ein Jahr nach den Ausschreitungen in Stockholm und anderen schwedischen Städten hindert uns der Mangel an Texten über diese Ereignisse sogar daran, zu beschreiben, was während diesen Ausschreitungen geschah. Es braucht also in erster Linie eine Beschreibung der Entstehung sowohl der Ausschreitungen als auch des Aktivismus in den Vororten dieser Städte zwischen 2008 und letztem Jahr. Die Fokussierung auf die Praktiken, aus welchen einerseits die Ausschreitungen, andererseits der Aktivismus zusammengesetzt sind, muss durch eine Darstellung sowohl ihrer historischen Hervorbringung, als auch von dem ergänzt werden, was die sogenannten Vorstädte heutzutage strukturiert. Dies wird uns dazu führen, einen Blick auf das innere Verhältnis der Ausschreitungen und des Aktivismus in diesen Vorstädten zu werfen, und eine Frage zu formulieren, welche über den schwedischen Kontext hinausgeht: jene der gesellschaftlichen und politischen Integration.

 

1. Besetzungen, Kampagnen – und Ausschreitungen


Die „Ausschreitungen von Stockholm“ zwischen dem 19. und dem 27. Mai 2013 entstehen nicht einfach in einem gesellschaftlichen Vakuum. Ihnen gingen andere schwedische Ausschreitungen voraus, v.a. jene in Malmö 2008, welche mit der Besetzung eines öffentlichen Raumes begannen, die Ausschreitungen in Göteborg 2010-2011, welche in der Entstehung einer Bewegung für die Modernisierung der Vorstädte kulminierten, und zu guter Letzt sind die „Ausschreitungen von Stockholm“ 2013 selbst untrennbar mit einer spezifisch auf Stockholm bezogenen Geschichte der Verteidigung öffentlicher Dienstleistungen verbunden. Wenn wir uns die Praktiken dieser Ereignisse näher anschauen, kommt das zerbrechliche Verhältnis zwischen Ausschreitungen und Aktivismus zum Vorschein. Wie wir sehen werden, koexistieren Ausschreitungen in den Vorstädten mit Bürgerprotestbewegungen mit expliziten Forderungen, obwohl sie ihre eigenen spezifischen Taktiken entwickeln. Im schwedischen Kontext sind die Ausschreitungen in den Vorstädten im Kontext der Verteidigung des öffentlichen Raumes oder gegen Mieterhöhungen zutage getreten und als solche können sie als eine Art illegitimer Verhandlungsführung gesehen werden.

 

In diesem Kontext, sowohl in Bezug auf Subjekte, als auch auf Praktiken und politische Resultate, sind die „Ausschreitungen von Stockholm“ 2013 ein Produkt einer längeren zeitgenössischen Geschichte von Ausschreitungen. Wir könnten sagen, dass diese Geschichte in einem Teil von Malmö namens Rosengård im Dezember 2008 begann [2]. Den Ausschreitungen in Rosengård ging eine Besetzung in Herrgården voraus, ein Quartier von Rosengård. Die Besetzung wurde von lokalen Jugendlichen mit einem Immigrationshintergrund und einigen weissen Wohnraumaktivisten aus anderen Teilen der Stadt organisiert. Während 16 Jahren wurde dieses Lokal vom muslimischen Kulturverein als Moschee genutzt, doch auch – eine Tatsache, die in den meisten Berichten über die Ereignisse ausgelassen wird – von 20 anderen Vereinen für kulturelle und Bildungsaktivitäten wie Jugendfreizeitgestaltung, Nachhilfeunterricht und so weiter. Mit den geplanten Renovationen des Quartiers dachte Ilmar Repalu, ein lokaler Sozialdemokrat, sowie ein Repräsentant von Contentus, die Immobilienfirma, welcher die Liegenschaft gehört, dass die Moschee nicht mehr „ins Bild passt“. Um eine solche Haltung zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass Rosengård, in etwa wie Husby in Stockholm oder Backa in Göteborg, ein Gebiet ist, wo als Resultat der in den 1970er Jahren beginnenden Veränderung des Arbeitsmarktes und der wachsenden Arbeitslosigkeit fast nur Einwanderer der ersten oder zweiten Generation wohnen, wovon ein grosser Teil Muslime sind. Diese „Vorstädte“, welche früher Quartiere mit öffentlichen Wohnungen für die Arbeiterklasse waren, sind nun zu einem der seltenen Orte geworden, wo die Mieten und Wohnungen für Neuankömmlinge mit einem Flüchtlings- oder Familiennachzugshintergrund, aber auch für Arbeitslose, Langzeitkrankgeschriebene, ehemalige Häftlinge, Früh- oder kranke Rentner usw. zugänglich sind. Während solche Vorstädte in den 1960er und 1970er Jahren als Rückzugsort für Gangs oder Drogensüchtige wahrgenommen wurden, ist ihr Symbol nun ein anderes Bild der Andersartigkeit: jenes des Einwanderers aus dem Mittleren Osten oder Afrika, häufig mit dem Islam assoziiert. Folglich ist es vom Standpunkt der öffentlichen Behörden ein sehr schmaler Grat zwischen sozialer Renovation und kultureller Erbauung.

 

Die Polizei intervenierte allerdings erst am 12. Dezember, während der dritten Woche der Besetzung, mit voller Kraft im Lokal – Schlammstiefel, Hunde, Schilder, Knüppel und Pfefferspray. Gemäss allen involvierten Parteien war die Nacht nach der Räumung wahrscheinlich die ruhigste der Woche. Immer mehr Leute versammelten sich, um die Besetzung zu verteidigen, die Polizei musste sie also erneut aus dem Lokal heraustragen. Ungefähr eine Stunde später kehrte wieder Ruhe ein, doch die Besetzung dauerte an, sie hatte sich einfach auf den Rasen davor verlagert. Die Leute blieben für mehrere Tage und Nächte im Umkreis der Polizei, sie fuhren mit den Aktivitäten fort, welche gewöhnlich im Gebäude stattfanden. Matratzen wurden ausgelegt für Gebete, junge Leute hingen herum, Tee und Brot wurde serviert, einige ältere Männer bauten Zelte auf, um darin zu schlafen, und eine alte Parabolantenne wurde als Feuerstelle benutzt.

 

Zu Ausschreitungen kam es erst am Montag 18. Dezember. Jugendliche aus dem Quartier, welche an der Besetzung teilgenommen hatten, und ihre Freunde, die meisten davon männlich und jünger als 18, begannen, sich in kleinen Gruppen zu versammeln, und in der Gegend von Herrgården herumzuziehen. Zu Beginn wurden einige Container und Mülleimer in Brand gesetzt und die Scheiben einer anderen Immobilienfirma, Newsec, zerstört. Am Tag danach ging es gleich weiter, während die Polizei begann, aktiver zu intervenieren. Einer der Verhafteten wurde durch Gewalt befreit, ein Offizier wurde zu Boden geschlagen, Steine wurden auf die Feuerwehr geworfen. Schliesslich versammelten sich einige Jugendliche aus dem Quartier und griffen die Bullen an, welche vor dem Lokal standen. Sie warfen Steine auf sie und rannten weg. Währenddessen standen immer noch Kinder, jüngere und ältere Leute vor dem Lokal. Nachdem sie es zwei Tage und Nächte ununterbrochen bewacht hatte, entschied die Polizei, den Zugang zu versperren, indem sie mit Lastwagen grosse Container davor stellte. Dies führte nur dazu, dass der allgemeine Ärger eskalierte. Am Mittwoch verbreiteten sich Brandstiftungen, Angriffe auf die Polizei mit Feuerwerk, Steinen und Glasflaschen sowie Angriffe auf die Büros der lokalen Immobilienfirmen im ganzen Gebiet von Herrgården. Der Polizeiposten im Zentrum von Rosengård wurde angegriffen. Die Leute setzten Mülleimer mitten auf dem Ramels väg, eine zentrale Strasse in Rosengård, in Brand, um den Verkehr zu unterbrechen. Als die Feuerwehr kam, wurde sie mit Feuerwerk und Steinen verjagt. An diesem Mittwoch kamen auch ein Dutzend autonome Aktivisten, einige mit Verbindungen zur Antifaszene, in diesen Teil von Rosengård, doch sie versammelten sich nur sehr kurz, bevor sie alle von der Polizei eingekesselt und verhaftet wurden (19 Leute, welche nicht aus dem Quartier kamen, wurden verhaftet). Am nächsten Tag, Donnerstag, wurde der Polizeiposten im Zentrum von Rosengård komplett zerstört, während die lokalen Büros der Immobilienfirmen Contentus und Newsec zerstört und geplündert wurden (einige Computer und andere Wertgegenstände wurden gestohlen). Schlagkräftige selbst gemachte Bomben begannen in gewissen Gruppen zu zirkulieren. Ganz Rosengård brannte. Die Leute bauten die Barrikaden sogleich wieder auf, nachdem die Polizei sie zerstörte, doch nur wenige griffen die Polizei direkt an, wenn sie kam.

 

Die Polizei, welche am Mittwoch und Donnerstag buchstäblich verjagt worden war, gewann am Freitag die Kontrolle über das Gebiet zurück, sie wurde von Verstärkungen aus den zwei grössten schwedischen Städten, Göteborg und Stockholm, unterstützt. Mehrere Hundert Beamte der Aufstandsbekämpfungseinheit waren nun konstant präsent in Herrgården. Obwohl die lange Phase intensiver Brandstiftungen, der Angriffe auf die Polizei und des Bauens von Barrikaden, welche wir die „Ausschreitungen von Rosengård“ nennen könnten, vorbei war, gingen diese Praktiken weiter. Am 16., 17. und 18. März wurden z.B. mehrere aufgrund der schlechten Müllverwaltung der lokalen Immobilienfirmen überfüllte Mülleimer sowie eine Recyclingstation in Brand gesetzt und Steine auf die ankommende Feuerwehr geworfen [3]. Am 2. Juli 2009 wurden erneut Steine auf die Bullen geworfen und Container am Ramels väg in Brand gesetzt. In Rosengård kam es auch zu kleinen Ausschreitungen im April 2010. Das allgemeine Klima war so angespannt, dass sich Hunderte innerhalb weniger als einem Tag versammelten, als es Berichte gab, dass jemand von den Bullen schlecht behandelt worden war.

 

Während den folgenden Monaten im Jahr 2009 kam es immer häufiger zu Brandstiftung in und um Göteborg, mehrere Stunden entfernt von Malmö. Es wurden auch Steine auf die Polizei geworfen und die Scheiben verschiedener Institutionen zerstört. Am 10. August verhafteten die Bullen eine Person, die des illegalen Waffenbesitzes verdächtigt wurde, und während dieser Verhaftung wurden zehn Kunden eines Ladens in Backa auf die Strasse gezerrt und durchsucht [4]. Am 4. April 2011 verfolgte die Polizei zwei Typen, die einige Jeans in einem Kleiderladen in Göteborg gestohlen hatten, und fuhr mit ihrem Auto in sie, wobei einer schwer verletzt wurde. Es kam am folgenden Tag zu Ausschreitungen, die zwei Nächte dauerten: In Backa wurden Autos angezündet und wieder Steine auf die Polizei geworfen [5]. In der Zwischenzeit war Patrarna („Die Panther“) in Biskopsgården, eine Vorstadt von Göteborg, gegründet worden, eine basisdemokratische Aktivistengruppe, welche, ähnlich wie Megafonen in Stockholm, zum Ziel hat, die Infrastruktur zu verteidigen und den Gemeinschaftssinn zu stärken.

 

In Stockholm war 2008 auch ein entscheidendes Jahr. Die neue Taktik, Brände zu legen, um die Bullen und die Feuerwehr anzuziehen und Steine auf sie zu werfen, wurde in den Vorstädten eingeführt, was eine Veränderung hin zu einer aggressiveren Haltung gegenüber der Polizei markiert. Während die Ausschreitungen in Rosengård im Dezember 2008 im Gang waren, wurden Autos in Brand gesetzt und es kam auch in Tensta im Nordwesten Stockholms zu Konfrontationen mit der Polizei. Anfang 2009 dehnten sich die Ausschreitungen auf die nahen Gebiete Husby und Akalla aus: Bullen berichteten, dass Randalierer schrien, dass sie sie „in Sympathie mit unseren Brüdern in Rosengård“ angriffen. Im Juni 2009 wurde die Feuerwehr in Husby und Tensta angegriffen. Zwischen August und Oktober kam es zu vielen Brandstiftungen in den Quartieren Gottsunda und Stenhagen in der Stadt Uppsala nördlich von Stockholm. Es begann, als eine Polizeipatrouille nach Verstärkung rief, nachdem Steine auf sie geworfen worden waren. Im Oktober 2009, nach einer eine Stunde dauernden Razzia in einem Jugendzentrum, weil ein grüner Laser auf die Polizei gerichtet worden war, brannten etliche Autos in Fittja, eine andere Vorstadt im Norden Stockholms. Im September 2010 beschädigten junge Leute aus dem Quartier die U-Bahn-Station von Husby und griffen den lokalen Polizeiposten aufgrund der Verhaftung von einem Freund von ihnen an [6].

 

Im Verlauf der Jahre 2010 und 2011 konnten die Aktivistengruppen, welche sich seit den 2000er Jahren im Nordwesten Stockholms entwickelt hatten, einige Siege feiern. Es ist wichtig, zu betonen, dass die Leute in Organisationen wie Megafonen aus den Vorstädten wie Husby, Rinkeby und Hässelby kommen, wo sie aktiv sind, und dort leben. Es sind Männer und Frauen, welche älter sind als jene, welche randalieren, sie haben eher eine höhere Bildung, obwohl sie die rassialisierte proletarische Bedingung der Randalierer teilen. Eines der Themen von Megafonen war das Projekt der „Aufwertung Järvas“ (Järvalyftet), welches 2007 begann. Die Stadt Stockholm plant strukturelle Stadtreformen, welche damals u.a. in Husby darin bestanden, die „Verkehrstrennung“ zwischen Strassen und Lebensräumen aufzuheben, die bestehenden Fussgängerbrücken zu demolieren und eine neue Autobahn durch Rinkeby und Tensta zu bauen. Megafonen lehnte das ab und während der Besetzung eines Freizeittreffs in Husby namens Husby Träff, dessen baldige Schliessung geplant war, stellte die Organisation zwei Reihen von Forderungen vor. Erstens die Einsetzung eines lokalen Ausschusses in jedem Quartier, welcher auf „Jobs“ und „Bildung“ fokussiert wäre, was den Einwohnern durch die lokalen Vereine von Husby „wirkliche Macht“ geben würde. Zweitens die Einstellung des Husby strukturplan, des spezifischen Teils der „Aufwertung Järvas“, welcher Husby betraf. Diese Aktionen verhinderten die geplante Schliessung mehrerer Schulen (die Bredbyschule und die Bussenhusschule), der Quartierpost, des lokalen Gesundheitszentrums und des Steuerbüros von Tensta nicht. Doch die Forderung der Einstellung des Husby strukturplan wurde schliesslich mit dem Argument erfüllt, dass es in Anbetracht des Widerstands sinnlos sei, damit fortzufahren. Megafonen schaffte es zudem, den Abriss mehrerer Häuser zu stoppen, die Privatisierung eines Badehauses und schliesslich die Schliessung des Husby Träff zu verhindern [7].

 

Anfang April 2013 kam es im Quartier Risingeplan in Tensta, eine andere Vorstadt im Nordwesten Stockholms, erneut zu Ausschreitungen. Zwei Recyclingstationen und zwei Autos wurden in Brand gesetzt und die gleiche Nacht wurde die Forderung überall im Quartier an die Wände gesprayt: „SENKT DIE MIETEN“ (SÄNK HYRAN). Als die Polizei und die Feuerwehr eintrafen, wurden sie erstaunlicherweise reingelassen, wahrscheinlich, weil die Randalierer wollten, dass die Forderung gesehen wird [8]. Sechs Jahre zuvor betrug die monatliche Miete in diesem Quartier für eine Fünf-Zimmer-Wohnung 7900 schwedische Kronen; zu dieser Zeit mindestens 11700 schwedische Kronen und während den Monaten März und April 2013 wurden die Einwohner informiert, dass es eine retroaktive Mieterhöhung für ein Jahr geben würde [9]. Der Kampf gegen diese Veränderungen nahm zuvor andere Formen als Ausschreitungen an. Einige junge Leute aus dem Quartier lancierten die Kampagne „Die Zukunft von Risingeplan“ (Risingeplans framtid) mit dem expliziten Ziel, mit den Medien zu sprechen, um auf die Probleme ihrer Umgebung aufmerksam zu machen. Die Kampagne hob nicht nur die hohen Mieten hervor, sondern auch die schlechte Behandlung der Einwohner durch Dienstleistungs- und Unterhaltsverantwortliche der Firma [10]. Gleichwohl war der Fokus der Kampagne die lokale Immobilienfirma Tornet, welche Mietwohnungen in Stockholm und in Skåne verwaltet. Zu diesem Zeitpunkt wurde sie aufgrund von Wohnungen und öffentlichen Einrichtungen in schlechtem Zustand (obwohl vor ein paar Jahren renoviert worden war), wie z.B. offen liegende Steckdosen und Kabel, klemmende Kellertüren, nicht isolierte Fenster, Flecken in feuchten Zonen, abbröckelnde Farbe auf Schranktüren, Probleme mit der Toilettenspülung usw., von fast allen gehasst. Mitte April kam es erneut zu Ausschreitungen: Im gleichen Quartier wurde eine Recyclingstation in Brand gesetzt und ein Auto zerstört. Auf umliegenden Wänden und in der Recyclingstation wurde erneut Graffiti mit Forderungen angebracht, die nun zunehmend wie Drohungen tönten: „Senkt die Mieten oder tragt die Konsequenzen“, „Halbiert die Mieten“, „Denkt an die 50%“ und „Hans, du wirst sterben“ (Hans Erik Hjalmar ist der Verwaltungsverantwortliche der 500 Wohnungen) [11].

 

Eine erwähnenswerte Tatsache, welche möglicherweise zur Erhöhung der Spannungen vor den Ausschreitungen in Stockholm beigetragen hat, ist die Tötung eines lokal bekannten 69-jährigen Mannes durch die Polizei in Husby. Gemäss seinen Nachbarn habe er Drohungen gegen die Behörden ausgestossen und als die Polizei nach Verstärkung rief, sperrte er sich in seiner Wohnung ein. Die Polizei öffnete daraufhin die Tür mit Gewalt und warf eine Blendgranate herein und als der Mann aus der Wohnung rannte, wurde er erschossen – Zeugen sagten, schwer bewaffnete Polizisten hätten 14 oder 15 Mal auf ihn geschossen. Nach seinem Tod verfasste die Polizei eine öffentliche Erklärung, in welcher sie behauptete, er sei mit dem Krankenwagen ins Spital gefahren worden, doch gemäss jungen Leuten aus dem Quartier, welche den Vorfall gesehen hatten, sei der Körper des Mannes lange liegen gelassen und dann einfach in einem Leichenwagen abtransportiert worden. Eine Demonstration gegen Polizeigewalt wurde in Husby am 15. Mai von Megafonen organisiert. Wie in Rosengård 2008 kam es nicht unmittelbar zu Ausschreitungen. Während einer Woche stiegen die Spannungen Tag für Tag. Erst sechs Tage später kam es zu Ausschreitungen [12]. Am Abend des 19. Mai lockte eine Gruppe junger Leute die Polizei, die lokale Feuerwehr und die Ambulanz nach Husby, indem sie Dutzende von Autos, einige Lastwagen und eine Garage in Brand setzte. Die Polizei, welche zum Schutz der Feuerwehr da war, wurde bei ihrem Eintreffen mit Steinen und Brandbomben beworfen. Die Ruhe kehrte relativ schnell wieder ein. Der nächste Tag in Husby war mehr oder weniger wie der erste, doch die Anzahl Randalierer war auf über 50 angewachsen. Die Polizei wurde wegen brennenden Autos gerufen und bei ihrem Eintreffen, zusammen mit der Feuerwehr, wurden Steine auf ihre Autos geworfen. Vier Bullen wurden verletzt und die Fenster lokaler Schulen und Läden zerstört. Etwas früher am gleichen Tag, weniger als 24 Stunden nach dem Beginn der Ausschreitungen, veranstaltete die Organisation Megafonen eine Pressekonferenz, während welcher sie die Realität der Segregation und der Polizeigewalt betonte.

 

In der dritten Nacht gingen die Ausschreitungen in Husby weiter, dehnten sich jedoch auch auf Jakobsberg aus, eine nördliche Vorstadt, wo der lokale Polizeiposten angegriffen, ein Kunstzentrum in Brand gesetzt wurde und zwei Schulen beschädigt wurden. Alles in allem wurden 30 Autos verbrannt und acht Leute in dieser Nacht verhaftet. In der vierten Nacht brannte es an 90 verschiedenen Orten. Wie gewöhnlich wurde die Polizei, als sie zur Unterstützung der Feuerwehr eintraf, von allen Seiten mit Steinen beworfen. Ein anderer Polizeiposten wurde in Kista in der Nähe von Husby mit Steinen angegriffen und zwei Polizeiposten im Süden Stockholms wurden beschädigt. In Skogås in der Gemeinde Huddinge wurde ein Restaurant in Brand gesetzt. Die einzige Polizeieinvernahme dieser Nacht war jene eines Mädchens im Teenager-Alter, die verdächtigt wurde, eine Brandstiftung vorzubereiten aufgrund der Brandbeschleuniger, welche sie unter ihrer Jacke trug – sie wurde zu ihren Eltern nach Hause geschickt. Viele andere junge Leute wurden ebenfalls zu ihren Eltern nach Hause geschickt, ohne Einvernahme. Diese vierte Nacht war die erste, während welcher Hunderte von Eltern, Quartierbewohnern und Mitglieder der oben genannten Organisationen auf die Strasse gingen, um die Gewalt und die Brandstiftungen zu beenden. Sie wurden häufig als „Bürgerpatrouillen“ (medborgargarden) bezeichnet. Die Ausschreitungen dehnten sich dann auf die südlichen Vorstädte aus, begleitet von den gleichen Praktiken: in Brand gesetzte Autos, Angriff gegen die Bullen mit Steinen, wenn sie zur Unterstützung der Feuerwehr eintreffen. Ein Polizeiauto wurde in Brand gesetzt und während dieser Nacht brannten in Malmö Autos und es flogen Steine auf die Polizei.

 

In der fünften Nacht wurden Dutzende Autos, drei Schulen und ein Polizeiposten in Brand gesetzt. Das Feuer breitete sich an 70 verschiedenen Orten aus, v.a. in Rinkeby (fünf Autos), Tensta (eine Schule), Kista (ein Kindergarten), Jordbro (ein Auto und ein Supermarkt), Älvsjö (ein Polizeiposten) und Norsborg. Steine wurden in Södertälje auf die Bullen geworfen. Es patrouillierten immer noch Hunderte zur Wiederherstellung der Ruhe freiwillig auf den Strassen und die Polizei war etwas aktiver, denn es kam diese Nacht zu 13 Einvernahmen, alles Leute zwischen 17 und 26. In der sechsten Nacht brannten weniger Autos in Stockholm (30-40), wo Polizeitruppen aus Malmö und Göteborg die lokalen Einheiten verstärkten. Die Ausschreitungen dehnten sich nun auf andere Städte aus, wie z.B. Linköping, 235 km von Stockholm entfernt, wo ein Kindergarten, eine Primarschule und einige Autos brannten; Uppsala, 70 km nördlich von Stockholm, wo eine Schule und ein Auto brannten und Randalierer eine Apotheke beschädigten; Örebro, 160 km nördlich von Stockholm, wo eine Schule und mehrere Autos brannten, ein Polizeiposten angegriffen und ein Bulle verletzt wurde. Die siebte Nacht war vergleichsweise ruhiger: Eine Polizeipatrouille wurde in Vårberg südlich von Stockholm angegriffen; in Jordbro wurden Steine auf die Bullen geworfen, als sie versuchten, einen Jugendlichen zu verhaften. Schliesslich wurden in der achten Nacht weniger als zehn Autos in Brand gesetzt, was, gemäss dem Polizeisprecher, als „Rückkehr zur Normalität“ betrachtet werden konnte.

 

Gewissermassen war also 2008 das Jahr, welches die Ausschreitungen unserer Zeit nach Schweden brachte, wobei eine Praxis davon, die Brandstiftung an Autos und Gebäuden, in gewissen Vororten der grossen Städte alltäglich wurde. Brandstiftung und deren notwendiges Gegenstück, die Intervention der Polizei, sind hier Teil des normalen Lebens. Es wird gesellschaftlich nur als ein „Ereignis“ betrachtet, d.h. in die mediale und politische Sphäre gebracht, wenn es von Konfrontationen mit der Polizei, oder Brandstiftungen an Gebäuden wie z.B. Polizeiposten, Läden und Schulen begleitet wird. Wie wir gesehen haben, können die Ausschreitungen als „Ereignisse“ und in einigen Fällen die Praxis der Brandstiftung nicht von den öffentlichen Erklärungen, den Besetzungen und den Forderungen isoliert werden, welche sie begleiten. Die Praktiken der Ausschreitungen tendieren dazu, mit der Sprache der Forderungen zusammenzufliessen.

 

2. Die schwedische Arbeiterbewegung und ihr Zerfall


Um den Sachverhalt zu verstehen, müssen wir nun überlegen, auf welche Art und Weise die Bedingungen, die Subjekte und die Praktiken der Ausschreitungen historisch hervorgebracht wurden. Was zur gegenwärtigen Situation geführt hat, ist die Krise des schwedischen Modells und der Zerfall der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Die in den frühen 1970er Jahren beginnende Restrukturierung des Kapitals ist nicht gleichbedeutend mit dem Ende des Proletariats; sie hat die Modalitäten seiner Reproduktion verändert, womit diese nicht mehr eine wesentliche, stabile Komponente der Reproduktion des Kapitals ist. Zudem entfaltet sich im Falle Schwedens die Restrukturierung, während das Land ein Zentrum für Einwanderung wird. Die Veränderung der Modalitäten der proletarischen Reproduktion implizieren auch eine Polarisierung dieser Klasse, entlang der Linien der Qualifikationen und der nationalen Herkunft, und meistens beider zusammen.

 

Die Begriffe Integration und Staat werden für unsere Analyse zentral sein. Unser Ansatz impliziert also, uns vom Lohnverhältnis im strikten Sinn zu entfernen, denn wir müssen die Art und Weise beleuchten, wie konkrete Individuen in die materielle Gemeinschaft des Kapitals eintreten und was für ein Verhältnis sie zu ihr haben, eine Art und Weise, die immer spezifisch für sie ist. Deshalb werden wir mit einer Analyse des schwedischen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates und seines Hauptproduktes, der gesellschaftlichen Integration des Proletariats, beginnen, bevor wir die Hauptfolgen der Krise dieser Gesellschaft analysieren [13]. Diese historischen Betrachtungen sollen dazu dienen, die theoretischen Werkzeuge zu einem angemessenen Verständnis der schwedischen „Vorstädte“ und der spezifischen Ausschreitungen der „Vorstädte“ zu schmieden, was, wie wir zu zeigen hoffen, nicht als selbstverständlich betrachtet werden kann.

 

Der schwedische sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat basierte auf zentral regulierter Lohnbestimmung. Ihre Grundlagen wurden im Abkommen von Saltsjöbaden von 1938 zwischen der Svenska Arbetsgivareföreningen (nachfolgend SAF), dem schwedischen Arbeitgeberverband, und der Landsorganisationen i Sverige (nachfolgend LO), der schwedischen Föderation sozialdemokratischer Gewerkschaften, gelegt. Im Rahmen eines eher spät und schnell industrialisierten Landes war es das Aufeinandertreffen eines Bedürfnisses der Bauernschaft und des Proletariats nach Schutz vor den Folgen des Marktes einerseits und eines Kapitals andererseits, das zu immer mehr Konzentration tendierte (durch Investmentbanken und Holdinggesellschaften, Kapitalverflechtung, gleichzeitige Mitgliedschaften in Verwaltungs- und Exekutivgremien usw.). Gemäss dem sogenannten, in den 1960er Jahren ausgearbeiteten Rehn-Meidner-Modell war es die Aufgabe der LO, die Lohnforderungen und -verhandlungen aller ihr angeschlossenen Gewerkschaften zu koordinieren, womit sie eine Lohnnorm für alle von ihnen setzte, welche hoch genug für eine Lohnerhöhung und Gleichheit, doch gleichzeitig niedrig genug sein musste, um die Vollbeschäftigung nicht zu gefährden. Diese „solidarische Lohnpolitik“ (solidarisk lönepolitik), welche sowohl von den Gewerkschaften als auch von der sozialdemokratischen Partei unterstützt wurde, verstärkte in Tat und Wahrheit die Kapitalkonzentration, denn Unternehmen mit intensiver Akkumulation hatten schliesslich relativ niedrige Löhne in Anbetracht ihrer Kapitalakkumulation, während kleinere Unternehmen im Vergleich dazu relativ hohe Löhne hatten. Diese zentral verhandelte Art und Weise der gesellschaftlichen Regulierung garantierte die Reproduktion einer einheitlichen Arbeiteridentität. Die sozialdemokratische Politik war freilich grundlegend eine Verteilungspolitik. Das Sozialwesen war ein gesellschaftlicher Transfer, welcher nicht nur durch hohe Einkommen, Unternehmens-, Verkaufs- und Einkommenssteuern zur Finanzierung der Produktion im öffentlichen Dienstleistungssektor garantiert wurde, sondern auch durch die zentralisierte Lohnpolitik, welche einen Teil der potenziellen Lohnerhöhungen von Arbeitern im exportorientierten Produktionssektor in die Produktivität übersteigende Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienstleistungssektor transferierte [14].

 

Die schwedische sozialdemokratische Arbeiterbewegung kann also als Entwicklungshelferin der schwedischen kapitalistischen Gesellschaft betrachtet werden. Die Gegenleistung für die Verteilungspolitik mit ihren zentralen Lohnverhandlungen und hoher Beschäftigung war für das Kapital nicht weniger als Arbeitsfrieden, Mobilität der Arbeiterschaft, totale Kontrolle über Investitionen sowie über die Organisation und Rationalisierung des Produktionsprozesses. Natürlich wirkte die organisierte Arbeiterschaft sowie Bauern und reformistische Intellektuelle der „wirtschaftlichen“ Macht des Kapitals durch ihre eigene „politische“ Macht entgegen. Doch diese „politische“ Macht, obwohl sie als Volksbewegung und Gegengesellschaft organisiert war und repräsentiert wurde, unterstützte das Kapital in der Suche nach seinem idealen Tempo: Zu hohe Profite, so sagte man, führen zu Lohndrift, zu tiefe zu Arbeitslosigkeit [15]. In diesem Sinne war die schwedische sozialdemokratische Arbeiterbewegung ein gesellschaftlicher Integrationsprozess. Es waren die in der Nachkriegszeit konsolidierten fordistischen Normen der Produktion, welche ihr erlaubten, sich dahingehend zu entwickeln. Eine grosse Produktivitätssteigerung, welche zur Preissenkung der wesentlichen, für die Reproduktion des Proletariats notwendigen Waren führte, konnte Hand in Hand mit einer Erhöhung der Reallöhne gehen. Auf diese Art und Weise wurde die Massenproduktion durch den Massenkonsum bestätigt, was die organische Zusammensetzung des Kapitals in Zaum hielt. Die kapitalistische Entwicklung dieser Periode basierte auf dem expandierenden Rahmen, der technologischen Innovation und der Verbesserung jener Produkte, welche aus natürlichen Ressourcen in der Produktion von „Stapelwaren“ (wie Holz oder Eisen) entwickelt wurden [16]. Während dieser Ära wurden die Reallöhne in einem gleichmässigen Rhythmus erhöht, während die Profitrate relativ niedrig blieb. Die Arbeitslosigkeit stagnierte bei ein bis zwei Prozent. Es war diese stetige und geschützte Entwicklung, welche es der fundierten Arbeiteridentität erlaubte, die sozialdemokratische Partei zu unterstützen, was ihr zwischen 1932 und 1982 (mit Ausnahme eines Mandats) eine Mehrheit im Parlament garantierte. Ohne Übertreibung könnte man sagen, dass während dieser Periode die schwedische sozialdemokratische Arbeiterbewegung eins wurde mit dem Regime.

 

Bis Mitte der 1970er Jahre wurden die Reproduktion einer einheitlichen Arbeiteridentität und ihre Ausdehnung auf die Mittelschichten auch von einer Integration von Einwanderern in die nationale Arbeiterschaft begleitet. Die zentral bestimmten Löhne und die starke politische Repräsentation der Arbeiterklasse verhinderten die Nutzung der Einwanderung zur Senkung der Löhne [17]. Dieser Horizont einer einschliessenden nationalen Arbeiteridentität war jener einer zunehmenden instrumentellen Zugehörigkeit. Es wurde keine Gesetzgebung gegen Diskriminierung formuliert, weil der Staat und seine aktive Arbeitsmarktpolitik als genügend betrachtet wurden, um einen vernünftigen gesellschaftlichen Organismus zu erschaffen, innerhalb welchem jeder gleich behandelt werden konnte [18]. Massenkonsum, -bildung und -spezialisierung machten Realitäten wie Ethnizität und Rasse zu irrelevanten Faktoren [19].

 

Der Träger dieser einschliessenden nationalen Arbeiteridentität war der schwedische Staat. Da der gesellschaftliche Mehrwert, welcher sowohl das Kapital als auch die Arbeit maximieren wollten, einen Verteiler brauchte, entwickelte sich dieser spezifische Staat als Einheit der gegenseitigen Verwicklung von Kapital und Arbeit. Die Form der einschliessenden nationalen Arbeiteridentität war jene der universellen Ansprüche, d.h. gesellschaftliche Einkommen unabhängig von Lohnarbeit. Sowohl historisch als auch in der Nachkriegszeit brachte sie die Einheit der Arbeiterklasse hervor und dehnte den Anklang der koalitionären sozialdemokratischen Arbeiterbewegung auf „das Volk“ im allgemeinen aus. Die „Heimat“ des schwedischen Volkes (folkhemmet), das Territorium der sozialdemokratischen Verteilungspolitik, war nichts anderes als die Nation. Aus dieser Perspektive war der schwedische Staat der Ort dieses kollektiven Verhandlungsmodells. Nur durch den Staat konnte die Verteilung von Sozialleistungen als Ausgleich für Einkommensverluste etabliert werden. Als individuelle Bürger waren Arbeiter und Kapitalisten in den politischen Parteien im Parlament repräsentiert, doch sie waren auch als funktionale Interessen repräsentiert, organisiert in der LO und der SAF, harmonisiert in der gesellschaftlichen Regulierung des Staates [20].

 

Dieser gesellschaftliche Integrationsprozess, welcher eine politische Macht gegen das Kapital konstituiert, dieses jedoch immer auch bestätigt, ist, was wir die sozialdemokratische Arbeiterbewegung im schwedischen Nachkriegskontext nennen könnten. Die Etablierung gegenseitiger Interessen im Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital erlaubte eine Organisation des Proletariats auf der Grundlage dessen, was es innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft repräsentierte (Arbeit, Wohlfahrt, Gebrauchswert usw.). Das ist es, was wir „Arbeiteridentität“ nennen.

 

Als solche begriffen, bilden die sozialdemokratische Arbeiterbewegung und ihre spezifische Arbeiteridentität eine historische Situation. Um sie nun in Bezug auf ihren Zerfall zu verstehen, müssen wir sie in ihrer Entwicklung begreifen – eine Entwicklung, welche, ab einem gewissen Punkt, mit ihren inneren Widersprüchen zusammenstösst.

 

Die Welle wilder Streiks, welche im Frühling 1970 ausbrach, war symptomatisch für den Bruch des historischen Abkommens, welches zwischen Arbeit und Kapital in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts etabliert worden war. Das geschah als Schweden in eine Überakkumulationskrise und in eine Krise der fallenden Produktivitätssteigerung eintrat, welche beide von der Ölkrise verschärft wurden. Während dem Rest der 1970er Jahre war die Produktivitätssteigerung in Schwedens exportorientiertem Produktionssektor, aufgrund fallender Profitraten und dem anschliessenden Zusammenbruch des fordistischen Verwertungskreislaufs, nicht mehr intensiv genug, um Lohnerhöhungen im inländischen Dienstleistungssektor zu erlauben. Gleichzeitig begann die Arbeitslosigkeit zu steigen [21].

 

Die Krise der schwedischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ist gleichbedeutend mit dem Beginn der Restrukturierung in Schweden, d.h. die Anfang der 1970er Jahre beginnenden Veränderungen des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. In diesem Land kann die Restrukturierung nur in einer langfristigen Perspektive verstanden werden. Vorab bedeutete die Restrukturierung das Ende der Einkommenspolitik. In Schweden wurde die Produktion als solche ab dem Ende der 1960er Jahre internationalisiert, während die Delokalisierungen in den 1980er Jahren begannen. Vom Standpunkt des Kapitals wurde es daraufhin notwendig, die gegenseitige zentrale Lohnbildung einzustellen, v.a. seit die Gewerkschaften fähig gewesen waren, beträchtliche Lohnsteigerungen während den 1970er Jahren zu erzwingen. Folglich verlor der schwedische Staat seine Funktion als gesellschaftlicher Regulierer des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit, weil der Lohn seinen Status als wesentlicher Bestandteil der Reproduktion des Kapitals verlor. Entwertung wurde für das Kapital zu einer besseren Option als Einkommenspolitik und die grossen industriellen Unternehmen taten sich mit den grossen schwedischen Banken zusammen, um finanzielle Aktivitäten innerhalb des produktiven Kapitals zu entwickeln [22]. Gleichzeitig machte es die Restrukturierung unmöglich, Wechselkurse und Zinssätze zu kontrollieren. Das Rehn-Meidner-Modell setzte tiefe Zinssätze und die Entwicklung des Weltmarktes voraus. Als Unternehmen und Banken mit ausweichenden Währungsswaps begannen, wurde die nationale Kontrolle von Wechselkursen und Zinssätzen unmöglich [23]. Die Beseitigung der schwedischen staatlichen Regulierung innerhalb der Produktions- und der Zirkulationssphäre wurde mit der neuen sozialdemokratischen Politik zwischen 1982 und 1991 konsolidiert. Schwedens schwache Exportindustrie, der Mangel an ausländischen Investitionen, das Haushaltsdefizit des Landes und seine steigenden Auslandsschulden begünstigten eine Politik der Entwertung, sowie eine konservative Steuer- und Geldpolitik. Im Kontext der Finanzkrise 1991, welche sich primär als Immobilienblase ausdrückte, kulminierte dies in drastischen Sparmassnahmen in Schweden: Reduzierung der Unterstützungsbeiträge, straffere Aufnahmeregeln für Gesundheits- und Arbeitslosenversicherungsprogramme und schliesslich die Aufgabe des politischen Imperativs der Verteidigung der Vollbeschäftigung.

 

Jetzt, wo die stetige und geschützte Entwicklung der schwedischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung längst vorbei ist, kann das Lohnverhältnis eine einschliessende Arbeiteridentität nicht mehr ertragen. Durch die Krise dieser Bewegung und die Restrukturierung ist die Arbeiteridentität zerfallen.

 

Dennoch kann der Prozess dieses Zerfalls nicht durch eine ausschliessliche Referenz zum Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit verstanden werden. Der Zerfall auf der Ebene des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit (Zerfall „von oben“) ist gleichbedeutend mit der Krise des schwedischen Wohlfahrtsstaats und der Tatsache, dass die schwedische sozialdemokratische Arbeiterbewegung nicht mehr fähig ist, die Produktions- und Zirkulationssphäre durch den Staat zu beeinflussen. Der Zerfall auf der Ebene des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit bedeutet das Ende der nationalen Beschränkung der Produktion und wurde von einer steigenden Finanzialisierung des Kapitals und der Konstitution einer transnationalen, fragmentierten Arbeiterschaft begleitet. Doch der Zerfall der Arbeiteridentität kommt auch von unten, von den inneren Beziehungen innerhalb des Proletariats. An diesem Punkt müssen wir versuchen, uns dem historischen Zusammenfallen der Auflösung der industriellen Arbeiterklasse und der vermehrten Einwanderung in Schweden beschäftigen. Der wichtigste Effekt dieses Zusammenfallens ist die Polarisierung zwischen einem stabilen nationalen Kern einerseits und einer prekären eingewanderten Peripherie andererseits, welche es innerhalb der Klasse selbst erzeugt hat.

 

Nach dem Flüchtlingszustrom in der Nachkriegszeit war die Periode zwischen den 1950er und den 1970er Jahren vom Ankommen von eingewanderten Arbeitern geprägt, grösstenteils aus Jugoslawien und Finnland. Diese Arbeiter machten es möglich, wirtschaftliche Blüten und temporären Arbeitskräftemangel zu verwalten, doch sie hatten nie den Status von Gastarbeitern. 1972 wurde weitere Einwanderung von Arbeitern verboten, dies wurde von den Gewerkschaften gefordert, um die Löhne der nationalen Arbeiterschaft zu schützen. Von diesem Moment an bestand Einwanderung in Schweden v.a. aus Flüchtlingen und Asylbewerbern, zusätzlich zu jenen, welche dank dem Familiennachzug kamen. Es hat sich eine neue Art der Einwanderung entwickelt, v.a aus dem Horn von Afrika, dem Iran, dem Irak und der Türkei [24]. Im Rahmen der globalen Restrukturierung verursachten die technologischen Innovationen und die Umverteilung der Arbeit einen Rückgang der Anzahl Jobs in der Industrie, was mit der Entwicklung von niederen Dienstleistungsjobs in den neuen urbanen Agglomerationen kompensiert wurde. Diese Jobs wurden und werden nach wie vor grösstenteils von Einwanderern ausgeführt, während die Expansion der Forschung und Entwicklung und der „Informationsindustrie“ Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre die Grundlage für die Bildung neuer Mittelschichten innerhalb der Mehrheitsbevölkerungen legte. Während den letzten Jahren gab es öffentliche Programme und Unterstützungsbeiträge um das zu stimulieren, was unter dem Namen des „ethnischen Unternehmertums“ läuft, was die schon beträchtliche Präsenz von Einwanderern in den höchst kompetitiven selbständigen Sektoren der Reinigung, der Verpflegung, der Restaurants und der kleinen Läden vergrössert hat. Während ein grosser Teil der schwedischen Frauen im expandierenden öffentlichen Sektor angestellt worden sind, tendierten die Einwanderinnen dazu, im industriellen Sektor angestellt zu werden [25]. Die Einwanderer hatten nicht nur die körperlich anspruchsvollsten Jobs – folglich machen sie einen wachsenden Teil der aufgrund von Krankheit Frühpensionierten aus; die Rationalisierung, die Delokalisierung, die Reorganisation zur Ersetzung der Arbeit und die technologische Modernisierung geschahen auch in Industrien, wo die Einwanderer konzentriert waren, womit sie mehr denn alle anderen von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Zu guter Letzt war es, aufgrund der gut bekannten schwedischen Unfähigkeit, die Gesetzgebung gegen Diskriminierung umzusetzen, viel schwieriger mit einem ausländisch tönenden Namen, eine stabile Anstellung zu finden, sogar mit Qualifikationen. All das lief auf mehrere Jahrzehnte der Klassenpolarisierung hinaus, welche sich entlang zweier Achsen entwickelte: eine Achse eingewandertes Proletariat/nationale Mittelklasse und eine Achse arbeitslose Einwanderer/stabiles nationales Proletariat.

 

Die inneren Klassenverhältnisse werden auch durch den Staat vermittelt und gestärkt. Die staatliche gesellschaftliche Regulierung war einst ein Träger der Reproduktion einer einheitlichen Arbeiterklasse; sie tendiert nun dazu, all jene zu marginalisieren, welche nicht lange ein Teil des stabilen nationalen Kerns der Arbeiter gewesen sind, oder reguliert gar den Ausschluss aus der formellen Wirtschaft. In den 1980er und 1990er Jahren waren die Einwanderer mit einem höchst geschützten und selektiven Arbeitsmarkt konfrontiert und die schwedische Gesetzgebung über die Arbeitsplatzsicherheit (nach dem Prinzip „zuletzt angestellt – zuerst gefeuert“) führte zu einer Form der indirekten Diskriminierung, denn sie war zum Nachteil der Einwanderer im Falle von Entlassungen oder Fabrikschliessungen. Aufgrund der hohen Lohnkosten in Schweden und dem strikt regulierten Wohlfahrtssystem müssen kleine Unternehmen auch fähig sein, viel zu investieren, um zu überleben, was häufig die begrenzten verfügbaren Nischen für neu angekommene selbständige Einwanderer oder die Notwendigkeit für sie erklärt, „in den Untergrund zu gehen“ [26].

 

Gleichzeitig wurden die verschiedenen ethnischen Zentralorganisationen (riksförbund), welche von Finnen, Jugoslawen, Kroaten, Türken, Griechen, Kurden und Syrern gegründet worden waren, in Staatspraktiken eingegliedert. Durch ihre öffentliche Unterstützung übte die nationale schwedische Einwanderungsbehörde (Statens Invandrarverk) starke wirtschaftliche Kontrolle über ihre Aktivitäten aus, z.B. indem sie sie daran hinderte, sich zu politischen Interessengruppen zu entwickeln oder bestehende Parteien zu unterstützen, eine Kontrolle, welche eine tiefe Entpolitisierung der sich um Organisation als Einwanderer bemühenden Einwanderer implizierte [27]. Selbstverständlich wird der politische Vertrag, die Normen der Bürgerpraktiken sowie die Art und Weise, wie er oder sie repräsentiert wird, stets als rassenneutraler Vertrag verwaltet. Doch in Tat und Wahrheit ist der politische Vertrag als weiss bestimmt, denn das allgemeine Interesse ist das Interesse jener, welche ihre gesellschaftliche Integration vollendet haben. Die Anderen werden mit einem besonderen Phänotypus oder Stammbaum markiert und können nur hoffen, durch nicht mehr und nicht weniger als die Bestätigung dieser Besonderheit in die Sphäre der politischen Universalität einzubrechen. Die pluralistische Politik der Rechte für die Gemeinschaften der 1970er Jahre ermöglichte freilich die Bildung permanenter Institutionen oder Kultstätten, doch die Modalitäten der gesellschaftlichen und politischen Integration der Einwanderer werden immer prekärer. Einige Bevölkerungen werden in der Tat ermutigt, politisch als Repräsentanten ihrer Kultur zu existieren, oder gar, sich komplett aus der Sphäre der politischen Universalität zurückzuziehen. Ähnlich der Klassenpolarisierung entwickeln sich basisdemokratische und parlamentarische Politik entlang zweier Achsen: eine Achse organisierte Einwanderer/etablierte Bürger und eine Achse entpolitisierte Einwanderer/Vorzeigearbeiter.

 

Es wird somit klar, dass, wenn die Reproduktion des Proletariats nicht mehr länger ein stabiler Bestandteil der Reproduktion des Kapitals ist, der Staat nicht mehr länger die Einheit eines gegenseitigen Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit konstituiert. Dennoch ist der Zerfall der Arbeiteridentität nicht nur der Abbau der Errungenschaften der Arbeiterbewegung. Das Sozialwesen wird auch restrukturiert, d.h. in einer neuen Form hervorgebracht. Wenn eine proletarische Bewegung in der Reproduktion des Kapitals nicht mehr länger bestätigt wird, tendiert das Sozialwesen dazu, eine blosse Belastung für den Staat zu werden. Die Verwandlung des Sozialwesens wird dann zu einem wesentlichen Moment des Angriffs auf die Reallöhne – „Reallöhne“ im weiten Sinn des Begriffs, d.h. indirekte Löhne und gesellschaftliche Umverteilung beinhaltend. Das führt zu Sparmassnahmen, d.h. zur teilweisen oder vollständigen Beseitigung der Ansprüche an und für sich. In Schweden begann dieser Prozess 1991 und radikalisierte sich ab 2006 mit der rechten Koalition „Arbeitsstrategie“ (arbetslinjen) [28]. Die neu hervorgebrachte Form des Sozialwesens zeigt sich im besonderen Verhältnis zwischen dem Staat und dem Markt, welches die Grundlage des neuen schwedischen Sektors des Sozialwesens bildet. Seit der Periode zwischen 1991 und 1994 sind private Unternehmen und Konglomerate von Beteiligungskapital innerhalb des schwedischen Sozialwesens aufgetaucht, um dessen Aufgaben zu erfüllen, während sie öffentlich finanziert bleiben. Das gilt für das Gesundheits-, das Pflege- und manchmal das Bildungswesen. Während es vorher auf universellen gesellschaftlichen Ansprüchen gründete, ist das Sozialwesen nun zu einer Art öffentlicher Ware geworden. Somit gibt es, wie von allen Waren, exklusive Varianten (für jene in der Innenstadt, welche es sich leisten können) und Massenwaren (für jene in den Vorstädten, wenn sie genug Glück haben, dass es dort, wo sie leben, immer noch ein Spital oder eine Schule gibt).

 

In dieser Situation ist die gegebene Integration der nationalen Arbeiteridentität komplett zerstört worden. Der allgemeine Angriff auf die Reallöhne und die anschliessende Verwaltung des Sozialwesens bringt eine Situation hervor, in welcher sich die Arbeiter tendenziell nicht so stark mit dem politischen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, sondern eher mit der Dichotomie zwischen Arbeit und „Ausgegrenztsein“ identifizieren. In der Tat bedeutet die teilweise Abschaffung der Ansprüche auf Sozialhilfe eine vermehrte Selektion ihrer Empfänger. Das Sozialwesen ist nicht mehr länger eine Investition in die soziale Staatsbürgerschaft des Arbeiters, es ist gekennzeichnet als etwas für jene, „welche es besonders brauchen“, für jene, welche „ausserhalb“ stehen [29]. Was somit innerhalb des Proletariats vorherrscht – und wir sind hier auf der Ebene des gesellschaftlichen Erlebens dieser Situation – ist eine Tendenz, sich verzweifelt an das zu klammern, was übrig bleibt. Für immer grössere Teile des Proletariats und der Mittelschichten der „Mehrheitsbevölkerung“ [30] wird die Präsenz von Einwanderern und Flüchtlingen als gesellschaftliches Problem des „Ausgegrenztseins“ an sich betrachtet, ganz ähnlich setzt die neue Form des Sozialwesens voraus, dass gewisse Individuen an sich problematisch sind. Jenseits dieser Analogie zwischen dem Psychologischen und dem Strukturellen müssen wir deren gemeinsames Element erfassen: die Tendenz, gesellschaftliche Bedingungen zu kulturalisieren. 2008 veröffentlichte die rechtsliberale Volkspartei (Folkpartiet) eine Umfrage, gemäss welcher „Ausgegrenztsein“ eine sich selbst stärkende Kultur sei, welche schliesslich die Identität gewisser Individuen konstituiere [31]. Bis anhin hat dieser kulturelle Referenzrahmen eine der erfolgreichsten politischen Perspektiven im restrukturierten schwedischen Wohlfahrtsstaat hervorgebracht, insofern als dass die einwanderungsfeindliche Partei Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna) in den Parlamentswahlen 2014 mit 13% der Stimmen zur drittgrössten schwedischen Partei wurde. Nachdem Niedergang der mit dem Kapital „rivalisierenden“ Hegemonie der Arbeiterbewegung, wie es Théorie communiste nannte, ist die allgemeine Tendenz, sich nicht als Arbeiter zu identifizieren, welcher durch kollektive Organisationen wie jene des Leninismus oder der Sozialdemokratie das Kapital herausfordert; sondern eher, sich als Arbeiter zu identifizieren, welcher durch individuelle Auszeichnung gegen irgendwelche äusseren Bedrohungen kämpfen muss, um ein Arbeiter zu bleiben. Wie es schon 2010 im Parteiprogramm der Schwedendemokraten angedeutet wurde, geht es nun nicht mehr um Arbeit und Kapital, sondern um schwedische Kultur einerseits und Einwanderung, die EU, den „amerikanischen Imperialismus“ und die „wirtschaftliche Globalisierung“ andererseits. Seit der zunehmenden Einwanderung von Flüchtlingen aus Asien und Afrika während den 1980er Jahren wurde dieses Unbehagen mit dem, was man in dieser Gesellschaft ist, immer mehr an diesen Einwanderern ausgelassen. Konfrontiert mit der „Abhängigkeit von Sozialleistungen“ oder der „Passivität“ von Herr oder Frau Einwanderer oder Einwanderin wird der eigene Zerfall des normalen schwedischen Arbeiters zu einem Wert erhoben und die Fremdartigkeit der Klassenzugehörigkeit in eine kulturelle Gemeinschaft transzendiert. Was hingegen die Einwanderer, die Restrukturierung des Kapitals und die anschliessende Klassenpolarisierung betrifft, welche die Gesellschaft in Weisse und „Andere“ teilt, klammern sich einige an die vermeintlichen kulturellen Praktiken der Heimat, um einen stärkeren und sichereren Sinn für Identität jenseits von materieller Prekarität oder Armut zu erschaffen [32].

 

Abschliessend kann gesagt werden, dass der restrukturierte schwedische Wohlfahrtsstaat nicht mehr länger einen Regulierer und Verteiler der Gegenseitigkeit des Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital darstellt; mit seinem selektiven Sozialwesen und der privatisierten Planung begünstigt er eher eine differenzierte Reproduktion der Klassen. Sowohl die Lohnarbeit als auch die politische Repräsentation haben also ihre universellen und einschliessenden Normen verloren, welche sie unter dem sozialdemokratischen Regime in der Nachkriegszeit charakterisierten. Die innere Polarisierung entsprechend Qualifikationen und nationaler Herkunft muss somit als konstitutives Element des Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital erfasst werden, als etwas, das das gesellschaftliche Leben und das Erleben davon in seiner Gesamtheit formt. Die Ideen über den dysfunktionalen Lebensstil der vorstädtischen „Einwanderertypen“ (invandrarkillar) und die abweichenden Werte ihrer muslimischen Familien sind zu einem Gemeinplatz geworden, soweit, dass die Ausschreitungen von Rosengård oft als eine Art islamistische Rebellion und die Ausschreitungen in Stockholm als eine Frage „kultureller Schranken“ (gemäss dem Ex-Premierminister Fredrik Reinfeldt) wahrgenommen wurden.

 

3. Die Konstitution der „Vorstädte“


Nur die kapitalistische Restrukturierung und der Zerfall der Arbeiteridentität erlauben uns, die historische Hervorbringung der gegenwärtigen Situation nachzuzeichnen. Um zu erfassen, um was es in den Ausschreitungen in Schweden geht, müssen wir nun einen Blick auf die Konstitution dieser Situation werfen, was bedeutet, den Prozess zu betrachten, welcher sie in den sogenannten „Vorstädten“ kontinuierlich reproduziert. Mit anderen Worten werden wir versuchen, die Frage zu beantworten, wie die differenzierte Reproduktion der Klassen und die tiefe Polarisierung – beides Produkte des Zerfalls der Arbeiteridentität – in der gegenwärtigen Gesellschaft fortbestehen. Dieses Fortbestehen ist eine Angelegenheit materieller Verankerung spezifischer Individuen in spezifischen Positionen. Was die Reproduktion des Kapitals betrifft, laufen die Prozesse dieses Fortbestehens auf eine Sache hinaus: Disziplin. Dennoch muss die Kritik der Reproduktion und der Polarisierung der Klassen diese auch an und für sich analytisch verstehen. Wir werden versuchen, zu zeigen, dass diese Prozesse eine Angelegenheit (a) der Personifizierung einer bestimmten Situation im Arbeitsmarkt, (b) der Darstellung eines gewissen Elements der „Bevölkerung“ als vom Staat versorgt und schliesslich – nur als Produkt des Fortbestehens dieser beiden vorangehenden Stellungen und nicht als etwas gegebenes – (c) der Eingrenzung auf einen spezifischen Ort sind.

 

a) Der Markt


Die treibende Kraft hinter der Disziplin ist der Markt. Das primäre Produkt der Erschaffung von Tieflohnnischen und einem prekären informellen Sektor und der Hervorbringung des Sozialwesens als eine Ware ist ein spezifisches Subjekt: eines, das auf krude Art und Weise dem Markt ausgesetzt ist, d.h. jenes, für welches Arbeit auf einen Arbeitszwang reduziert wird. In der gegenwärtigen Periode wird dieses spezifische Subjekt und die von ihm vorausgesetzte Objektivität kontinuierlich im immerfort expandierenden, unsicheren, niedrig qualifizierte Arbeit verlangenden Dienstleistungssektor reproduziert. Dieses Subjekt wird gewöhnlich als das „ausgeschlossene“ oder, in orthodoxeren marxistischen Begriffen, als Teil der „Reservearmee“ bezeichnet. Doch dieses Subjekt ist weder ausserhalb einer mit dem Arbeitsmarkt identifizierten Gesellschaft (wie es „Ausschluss“ suggeriert), noch bestimmt dafür (wie es „Reserve“ suggeriert). Durch temporäre, Teilzeit- oder Gelegenheitsjobs ist dieses Subjekt ein aktiver Teil des Arbeitsmarktes, doch diese Aktivität selbst setzt voraus, dass es daraus ausgeschlossen wird, sobald es in ihn eintritt. Mit einem Wort, es ist fremdartig gegenüber dem Markt, was bedeutet, dass es eine Subjektivität ist, welche der Wertproduktion gegenübersteht, ohne je darin eingegliedert zu werden. Es ist festgeklemmt im andauernden Zusammenbruch des dritten Ausbeutungsmoments [33]: die Verwandlung von Mehrwert in zusätzliches Kapital, wofür die Aufrechterhaltung der Gegenüberstellung von Arbeit und Kapital, die Trennung zwischen Arbeitskraft und Produktionsmittel notwendig sind, die grundlegende Aufspaltung von Subjekt und Objekt, ohne welche es keine Ausbeutung geben kann.

 

Dieses Subjekt besteht aus signifikanten Gruppen, welche nun sowohl im formellen Arbeitsmarkt, als auch in jeglicher Arbeitslosenversicherung an den Rand gedrängt werden. Dies wurde gestärkt, als Senkungen der Einkommenssteuer (für Angestellte) als Gegenleistung für Senkungen der Sozialversicherungsleistungen (sowohl für Arbeitslose als auch für Kranke) zugestanden wurden. Im Quartier von Herrgården in Rosengård haben nur 15% der Einwohner eine formelle Arbeit [34]. In Husby in Stockholm ist das Niveau formeller Beschäftigung bei 24%, tiefer als in der Region Stockholm [35]. Doch das sogenannte „Ausgegrenztsein“ ist nicht eine Eigenschaft dieses Subjekts; es ist nur an der Spitze eines Prozesses der Entwesentlichung der Arbeit, ein Prozess, der nun die schwedische Gesellschaft als ganzes betrifft. Unter den 20- bis 25-jährigen der schwedischen Bevölkerung im allgemeinen sind 20% ohne formelle Beschäftigung und auch nicht in Ausbildung; in Gebieten wie Herrgården und Husby sind 40% in dieser Situation [36]. Die Tatsache, an der Spitze dieses Prozesses zu stehen, impliziert nicht wirklich ein gewisses „Segment“ der Arbeitskraft, als ob die ganze Frage auf das Einkommensniveau reduziert werden könnte. Es ist die Angelegenheit einer gewissen Situation der Arbeitskraft, nämlich jene, welche nie als Arbeitskraft bestätigt wird, d.h. nie in einem kontinuierlichen Produktionsprozess gesellschaftlich bestätigt und sozialisiert. Diese Situation wird durch die Fremdartigkeit des Marktes gegenüber einem spezifischen Subjekt und durch die Fremdartigkeit dieses Subjekts gegenüber dem Markt konstituiert.

 

Um die Konstitution dieser Situation zu verstehen, reicht es nicht mehr, von einer blossen Klassenpolarisierung zu sprechen, im Sinne eines Verhältnisses innerhalb des Proletariats. In der Tat muss der Prozess, mittels welchem ein spezifisches Subjekt mit spezifischen Eigenschaften konstant in diese Situation zurückgeworfen wird, als Prozess der Rassialisierung erfasst werden. In Schweden ist diese Situation jene der „Einwanderer“: Personen, welche im Mittlere Osten geboren wurden, eine der Haupteinwanderungsregionen, sind dreieinhalb mal häufiger in temporären Jobs angestellt, während ein wachsender Teil junger Einwanderer der ersten oder zweiten Generation von sinkenden öffentlichen Unterstützungsgeldern und gelegentlicher Schwarzarbeit leben. Ebenso sehr wie die gewerkschaftlichen Fähigkeiten der Regulierung des Arbeitsmarktes durch den Staat verschwinden, wird der informelle Sektor immer wichtiger im Bau, der Landwirtschaft, im Reinigungssektor, im Verpflegungssektor und im Sektor der häuslichen Dienste für die urbane Mittelklasse; dieser informelle Sektor besteht fast ausschliesslich aus legalisierten und illegalen Einwanderern [37]. Rassialisierung ist somit nicht nur die Segmentierung der Klasse, als ob die rassische Redefinition derselben a posteriori in einer als homogen vorausgesetzten Einheit stattfände. Rassialisierung ist für die aktuelle Klasse konstitutiv, weil sie die Situation des Unentlöhnten – die Fremdartigkeit des Marktes gegenüber einem spezifischen Subjekt – durch die Personalisierung dieser Fremdartigkeit auf der Grundlage von phenotypischen Charakteristiken, nationaler Herkunft und Kultur hervorbringt.

 

Jene, welche wir weiter oben als „Randalierer“ bezeichnet haben, sind solche rassialisierte Subjekte. Da sie nur krude dem Arbeitsmarkt ausgesetzt und ihre Chancen, in seinen stabilen Kern integriert zu werden, praktisch inexistent sind, erscheinen ihnen selbst die Bedingungen ihrer eigenen Reproduktion als ihnen selbst fremdartig und somit als etwas, das verbrannt oder zerstört werden muss. Schulen und Läden sind zwei der Hauptziele ihrer Praktiken der Brandstiftung, weil sie ihre Erfahrung der „sozialen Staatsbürgerschaft“ materialisieren: den konstanten Ausschluss davon.

 

b) Die Polizei


Wenn wir demzufolge die Konstitution des „Randalierers“ verstehen wollen, müssen wir die Ebene der unpersönlichen Macht des Marktes verlassen, um den Fokus auf die Verwirklichung dieser Macht zu richten, jene, mit welcher die Randalierer auf der Ebene ihrer Reproduktion konstant konfrontiert sind. Das bedeutet, die Modalität zu betrachten, durch welche diese treibende Kraft des Marktes ausgeübt wird: die Polizei.

 

Die gesellschaftliche Existenz des rassialisierten Subjekts ist nicht jene der „Arbeitslosigkeit“ oder der „Überschüssigkeit“, als ob die gesellschaftliche Norm die Beschäftigung oder die Wesentlichkeit wäre. Stattdessen wird es gesellschaftlich hervorgebracht im Verhältnis zu einer Form der Arbeit, wovon Prekarität konstitutiv ist. Es existiert nur, um kontrolliert zu werden. In diesem Sinne ist es nicht dazu angelegt, ein potenzieller Gebrauchswert für das Kapital zu sein. Es wird nur kontrolliert; Schweigen und Ruhe ist das einzige akzeptable Verhalten für dieses fremdartige Subjekt. In Husby, Rosengård, Backa und den anderen Vorstädten, wo Brandstiftung eine normale Praxis ist, ist „gesellschaftliche Ruhe“ nun darauf beschränkt, direkte Konfrontation zwischen der Aufstandsbekämpfungspolizei und der lokalen Jugend zu vermeiden. Polizeiarbeit ist also nichts anderes als konstante Aufstandsbekämpfung.

 

Diese Situation ist nur aus der Perspektive des Zerfalls der Arbeiteridentität und der kapitalistischen Restrukturierung verständlich. Polizeiarbeit als Aufstandsbekämpfung muss als eine spezifische Art der sozialen Kontrolle in Bezug auf das oben beschriebene rassialisierte Subjekt betrachtet werden. Während der Blütezeit der schwedischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung war soziale Kontrolle nicht primär eine Frage der Polizeiarbeit, denn die Reproduktion einer einheitlichen Arbeiteridentität war an sich eine konstante Verinnerlichung der Funktion als Arbeiter innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Vor allem wurde die Trennung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Arbeitskraft und Produktionsmittel durch die Kontinuität des Produktionsprozesses innerhalb des Produktions- und öffentlichen Dienstleistungssektors ausgeglichen, sowie durch die entsprechenden stabilen Formen der Anstellung, der Ansprüche und zu guter Letzt der Repräsentation durch die Gewerkschaften. Dies ging Hand in Hand mit dem schwedischen sozialdemokratischen Horizont der Entwicklung der Produktivkräfte, welche gleichzeitig eine Entproletarisierung der Arbeiter sein würde, in dem Sinne, dass diese Entwicklung ihnen langfristig Zugang zu den Trophäen der Staatsbürgerschaft geben würde: Bildung, Kultur, demokratische Mitbestimmung. Auf einer allgemeineren Ebene wurde das schwedische sozialdemokratische, historische Abkommen zwischen Arbeit und Kapital, nach seiner Entstehung in den 1930er Jahren, konstant durch eine Art der Stadtplanung reproduziert, innerhalb welcher materielle Orte als Fundamente der Beständigkeit der Arbeiter fungierten. Nehmen wir z.B. das Quartier Möllevången in Malmö. Einmal an der Macht schaffte es das sozialdemokratische Regime, die zuvor vorherrschenden Elendsviertel in lebendige Symbole der schwedischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zu verwandeln, indem sie buchstäblich in die Institutionen des Folkets hus („Volkshaus“), Folkets Park („Volkspark“) und der Zeitung Arbetet („Arbeit“) eingebettet wurde. Durch nichts als seine Präsenz in diesem Quartier konnte man seine Situation als Arbeiter als definierende gesellschaftliche Eigenschaft wiedererkennen, nicht nur individuell, sondern als Teil einer materiellen und fest etablierten Organisation. Damals war die Reproduktion der Arbeitskraft gleichzeitig die Herrschaft über sie. Der materielle Lebensprozess ihrer Erneuerung fiel mit dem Prozess ihrer kontinuierlichen Verfügbarkeit und ihres kontinuierlichen Gehorsams zusammen.

 

Heutzutage, wo zunehmende Teile des Proletariats vom Produktionsprozess als Konsequenz der nicht mehr zusammen funktionierenden Kreisläufe der Mehrwertproduktion und der Reproduktion der Arbeitskraft ausgeschlossen sind, fällt die Reproduktion der Arbeitskraft nicht mehr mit ihrer Disziplin zusammen. Das Kapital kann nicht mehr länger durch den Produktionsprozess eine direkte Verfügungsgewalt über fremdartige Arbeit ausüben, denn ihr liegt keine gesellschaftlich anerkannte Identität mehr zugrunde, welche eine Form spontaner Selbstkontrolle garantiert. Das bedeutet, dass die von der Polizei durchgesetzte Disziplin in ihrer historischen Besonderheit betrachtet werden muss. Heutzutage ist ihre Funktion, jene zu kontrollieren, welche gegenüber dem Markt fremdartig sind. Diese Kontrolle wird nicht nur über Einwanderer innerhalb des Landes ausgeübt. In einer Welt, wo jeder Mehrwert immer und überall investiert oder in zusätzliches Kapital verwandelt werden kann, ist Kontrolle eine Frage der Verwaltung einer fragmentierten und mobilen Arbeitskraft. Es wird somit immer schwieriger, Kontrolle und Einwanderungskontrolle zu unterscheiden. Das Projekt REVA [38] hat zum Ziel, irreguläre Einwanderung durch verstärkte Identitätskontrollen und Abschiebungen zu bekämpfen. Es begann in Malmö 2008 und wurde 2013 auf Stockholm ausgeweitet (es gab Berichte von Kontrollen im Rahmen von REVA in Rinkeby und Husby Ende Februar 2013). REVA, ein gemeinsames Projekt der schwedischen Polizei, der Einwanderungs- und Gefängnisbehörden, wird auch teilweise vom europäischen Flüchtlingsfonds finanziert. Nationale Polizeiarbeit ist somit ein Bestandteil einer breiteren, globalen Polizeiarbeit. Durch die Kontrolle der Einwanderer innerhalb Schwedens wird eine andere Art der Kontrolle ausgeübt: jene über die beherrschten Bevölkerungen als solche, jene Bevölkerungen, welche strukturell in einer niedrigen Position auf den Karten der kapitalistischen Produktion und Zirkulation sind. Es ist diesbezüglich wichtig zu betonen, dass solche Kontrollen häufig mit Fahrkartenkontrollen zusammenfallen. Nur die rassistische Erstellung von Profilen unterscheidet eine REVA-Kontrolle von einer regulären Fahrkartenkontrolle. Die Interventionen im Rahmen von REVA an strategischen Pendler- und Verkehrsknotenpunkten [39] suggerieren, dass es Kontrollen der Mobilität sind. Auf der Ebene der Stadt ist es eine Kontrolle des materiellen Zugangs zu Mobilität in Agglomerationen, wo der Preis des öffentlichen Verkehrs ein reales Problem darstellt. Auf globaler Ebene ist es auch eine Kontrolle des legalen Zugangs zu Mobilität, in einer Situation, wo immer grössere Teile der Weltbevölkerung ausserhalb aller formellen Arten der Reproduktion stehen, jedoch trotzdem innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft gefangen bleiben. In diesem Sinne sind die polizeilichen Kontrollpraktiken ebenfalls konstitutiv für die Rassialisierung. Nicht nur durch die „rassistische Erstellung von Profilen“, sondern grundlegender durch die Durchsetzung der Marktdisziplin, welche konstant die Grenze zwischen dem „Ausgegrenztsein“ der Einwanderer und der sozialen Staatsbürgerschaft der ehrlichen Konsumenten neu zeichnet. Entlang dieser Linien besteht die Substanz der Rassialisierung nicht aus persönlichen Vorurteilen oder einer reaktionären Staatsideologie. Es ist der materielle und symbolische Raum der westlichen Stadt, wo die zuvor kolonialisierten, ehemals für den europäischen Kapitalismus wesentlichen afrikanischen Bevölkerungen oder die Bevölkerungen, welche vor autoritären Regimes oder Kriegsherren in ihren Ländern geflohen sind, nun kontinuierlich in die Peripherie der gesellschaftlichen Reproduktion und Identifikation gedrängt werden.

 

Es ist kein Wunder, dass Autos während den Ausschreitungen in Schweden, wie in Frankreich und Dänemark, eines der Hauptziele der Brandstiftungen sind. Sogar wenn sie dem – selbstverständlich hart arbeitenden – Nachbarn gehören, bleiben sie ein Symbol des ausschliessenden Charakters der sozialen Staatsbürgerschaft. Und weil das Selbstbewusstsein immer in der Ansicht des Anderen auf das Individuum konstituiert wird, tendieren REVA und die regelmässigen Identitätskontrollen und Leibesvisitationen der Polizei in den Vorstädten dazu, das Subjekt des „abweichenden Einwandererkindes“ dazu zu zwingen, sich selbst eben genau als „abweichendes Einwandererkind“ zu identifizieren. Diese Identifikation ist gleichzeitig seine Selbsterkennung als ein Subjekt, welches nur existiert, um kontrolliert zu werden. Deshalb wird die Polizei zum Schwerpunkt aller „vorstädtischen“ Ausschreitungen in Schweden. Durch ihre alltägliche Praxis der Kontrolle ist die Polizei die blosse Verwirklichung der Fremdartigkeit der Gesellschaft, welche nur als äussere Macht existiert, welche den „Abweichlern“ auferlegt werden muss. Ausschreitungen werden zu einer Form der Selbstverteidigung gegen den konstanten Druck dieser äusseren Macht. Die Randalierer haben die Polizei zum Ziel, das Symbol der europäischen Unterdrückung, ohne welche Europa historisch als kapitalistische Festung nicht möglich gewesen wäre: die rassische Konstruktion der globalen Kreisläufe der Akkumulation. Somit werden das Verbrennen von Autos, um die Polizei anzulocken und Steine auf sie zu werfen, das Verbrennen von Polizeiautos oder die Zerstörung von Polizeiposten zu Praktiken, welche zunehmend zu einem Selbstzweck verkommen. Als solche sind sie strikt begrenzt auf die „vorstädtischen“ Räume der „abweichenden Einwandererkinder“.

 

c) Die Stadt


Tatsächlich verwirklicht die auf Einwanderer ausgeübte Polizeikontrolle die Marktdisziplin entlang spezifischer geographischer Muster. Auf der Ebene der Stadt ist es das Verhältnis zwischen dem „Zentrum“ und der „Vorstadt“, wobei letztere immer kontrolliert, ruhig gehalten werden muss. Wir haben auch schon angedeutet, wie dieses Verhältnis, auf der Ebene der globalen Kreisläufe der Akkumulation, als mise en abyme des Verhältnisses zwischen den Zentren dieses Kreislaufes und seiner Peripherien betrachtet werden könnte. Als solches kann das Verhältnis zwischen Zentrum und Vorstadt nicht als gegeben verstanden werden, als ob dieses Verhältnis ein Resultat der inhärenten Eigenschaften des Zentrums und der Peripherie an sich wäre. Wir müssen versuchen, das Verhältnis zwischen Zentrum und Vorstadt als materielles Produkt der Disziplin zu erfassen.

 

In Stockholm wurden Vorstädte wie Hallunda, Fittja und Alby, welche zusammen die Region namens Huddinge bilden, ursprünglich für die aus Nordschweden (Norrland, Jämtland und Härjedalen) kommende Arbeiterklasse der 1970er Jahre gebaut. Tatsächlich war in der Ära der zur Integration der Reproduktion des Proletariats in die Reproduktion des Kapitals tendierenden Arbeiterbewegung die Unterbringung ein wesentlicher Bestandteil der Reproduktion der Arbeit. Die von der sozialdemokratischen Wohn- und Neugestaltungskommission 1934 formulierte und vom Finanzminister unterstützte Wohnpolitik insistierte auf die stabilisierende Funktion einer öffentlichen, von gemeindeeigenen, nicht auf Gewinn ausgerichteten Immobilienfirmen garantierten Wohnpolitik. Durch Förderprogramme, welche die Verbesserung der Qualität der Immobilien, Gleichheit zwischen verschiedenen Mietformen und eine rigorose Kontrolle der Höhe der Mieten [40] zum Ziel hatten, wurde ein gemeinschaftlicher Wohnungsbestand für die allgemeine Bevölkerung erschwinglich gemacht: Interessanterweise wurden keine spezifischen Immobilien, wie die „Sozialwohnungen“ in England oder Frankreich, für jene gebaut, welche „speziell bedürftig“ waren. Diese Förderungen kamen aus den Arbeiterfonds des Plans von Rehn-Meidner: eine Steuer von 20% auf Gewinne wurde von den Gewerkschaften bezüglich teilweiser Reinvestition in öffentlichen Wohnraum [41] kontrolliert.

 

Doch mit der auf die frühen Jahre der Restrukturierung folgenden steigenden Arbeitslosigkeit und den härteren Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt waren die nordwestlichen und südwestlichen „Vorstädte“ von Stockholm und die historisch proletarischen Quartiere Backa und Rosengård die einzigen, wo die Mieten für das Proletariat erschwinglich waren. Diese Gebiete, welche früher das zur gesellschaftlichen Integration der Arbeiter beitragende Milieu selbst waren, sind nun Orte geworden, wo man gezwungen ist, zu leben, urbane Mülleimer, ähnlich den französischen banlieues. Dieser Prozess wird durch die zunehmende Unterwerfung des öffentlichen Wohnraums unter marktwirtschaftliche Mechanismen gestärkt. Seit dem Beginn der 1990er Jahre verkauft die Gemeinde ihre Immobilien – meistens an aktuelle Mieter, aber auch an private Vermieter – während die gemeindeeigenen Immobilienfirmen jegliche Regierungsunterstützung verloren haben. Die Deregulierung der Verrechnungspreisgestaltung für Immobilien und die Kosteninflation von städtischem Land führen dazu, dass der Bau von Mietwohnungen unattraktiv ist. Somit entwickelt sich das schwedische Wohnmodell in Richtung eines marktorientierten Systems ohne Unterstützungsmechanismen. Auch hier haben gewisse Aspekte langlebiger staatlicher Regulierungen den Effekt, den Ausschluss zu regulieren oder durch ihre Regulierung auszuschliessen. Ein sehr kontrolliertes Zuweisungssystem für Mietwohnungen, sowie strenge Regeln betreffend persönlicher Untervermietung schliessen all jene aus dem formellen Wohnungsmarkt aus, welche kein stabiles Einkommen, keine Ersparnisse oder Hauseigentümer als Eltern haben [42]. Folglich sind in Quartieren wie Herrgården in Rosengård und Risingeplan in Tensta die „Millionenprogramme“, einst Monumente der Arbeiteridentität, Waren unter anderen, Transaktionsgegenstände auf dem Mietwohnungsmarkt. Hier gibt es keine Produktion des Raumes, sondern nur seinen Verfall. Unterbringung existiert nicht als wesentlicher Bestandteil der Reproduktion von Arbeit wie während der Arbeiterbewegung; sie existiert schlicht und einfach als Quelle für Mietzahlungen, woran Schimmel und Kakerlaken die Bewohner täglich erinnern.

 

Die „Vorstadt“ ist also nicht, was sie ist wegen ihrer geographischen Situation, sondern wegen jenen, welche dort leben, und der Art und Weise, wie sie dort leben. Ein kurzer Blick auf die Karte zeigt, dass „Vorstädte“ wie Rosengård, Backa, Gottsunda, Husby, Tensta und Rinkeby eigentlich nicht so „vorstädtisch“ sind; vom Zentrum aus können sie oft mit dem Bus oder der U-Bahn in 15 bis 20 Minuten erreicht werden und manchmal ist ihre Stadtlandschaft nicht so verschieden von jener wohlhabenderer Regionen, welche schlicht und einfach als „Stockholm“, „Göteborg“ oder „Malmö“ bezeichnet werden. Die sie trennende Distanz ist mehr als alles andere psychologisch; nicht „psychologisch“ im Gegensatz zu „geographisch“, sondern psychologisch im Sinne der Art und Weise wie Raum erlebt wird. Auf Schwedisch ist der Begriff der Vorstadt (förorten) selbst ein Sammelbegriff für alles geworden, was als abweichend wahrgenommen wird: in erster Linie die Einwanderer, doch auch, wie weiter oben angemerkt, die Langzeitkranken und ehemaligen Sträflinge, Frühpensionierte oder kranke Rentner (z.B. der 69-jährige Mann, auf welchen zwölf Mal geschossen wurde) usw. Es ist ein Ort, wo man „hingezwungen“ wird, denn der Prozess der Gentrifizierung ist ein die Klassengrenzen zwischen den weissen Bürgern im Zentrum und den rassialisierten Subjekten in den Vorstädten materialisierender Zwangsprozess, womit der Prozess der Rassialisierung materiell verankert wird. Durch Husby, Tensta und Rinkeby kann eine Autobahn gezogen werden, während nur ein paar Kilometer weiter Luxuswohnungen wie jene des Kistaturms gebaut werden. Da es die durch die Polizei verwirklichte und die Vorstadt materialisierte Marktdisziplin ist, welche das fremdartige Subjekt konstituiert – jenes, für welches es reicht, in einem gewissen Gebiet zu leben, um in den Fokus bezüglich Kontrolle und Disziplin zu geraten –, sind Quartiere wie jene von Herrgården oder Husby Gebiete, welche die Leute tendenziell verlassen, wenn sie eine stabile Anstellung finden oder sich weiterbilden.

 

Trotz all dieser Scheisse, oder vielleicht gerade auf ihrer Grundlage, formt sich in diesen Vorstädten eine besonders in Raptexten in ihren Anspielungen auf „das Konkrete“ (betongen) und „das Quartier“ (orten) ausgedrückte Identität. Nur wenn wir das im Hinterkopf behalten, können wir vielleicht verstehen, wie sowohl die Aktivisten von Tensta als auch jene von Herrgården in Rosengård sich selbst als „Mieter“ identifizieren konnten, welche versuchen, einen Dialog mit den „Immobilienfirmen“ oder, in einigen Fällen, mit „der Gemeinde“ oder dem „Staat“ herzustellen. In der Tat brachen schliesslich Ausschreitungen aus, da die Aktivisten von „Die Zukunft von Risingeplan“ oder jene, welche das Kellerlokal in Herrgården besetzten, kontinuierlich von den Immobilienfirmen und der Gemeinde oder dem Hauseigentümerverband ignoriert wurden. Alle Randalierer richteten ihre Praktiken der Brandstiftung, der Sabotage und der gelegentlichen Plünderung eben auch genau auf die Hauptquartiere dieser „Immobilienfirmen“. Die von Aktivisten und Randalierern geteilten Forderungen waren jene, welche den Fokus auf Mietsenkungen oder den Erhalt oder die Erneuerung der Infrastruktur richteten.

 

Die in solchen Kämpfen geformte Identität ist synkritisch, sie basiert auf den geteilten Bedingungen der Disziplin. Es ist nicht eine homogene Arbeiteridentität, welche auf dem weissen, männlichen, qualifizierten Arbeiter basiert. Die Vorstädte von Husby, Tensta, Rinkeby, Herrgården, Backa usw. vereinen an sich mehr als hundert Sprachen und Hintergründe, woraus der inzwischen gut bekannte Dialekt „Rinkebysvenska“ („Rinkebyschwedisch“) entstand, doch nur wenn ein gewisser Aspekt des Quartiers von Elementen angegriffen wird, welche von der Gemeinschaft als fremdartig wahrgenommen werden – von Bullen, Immobilienfirmen oder lokalen Politikern –, entstehen von Schülern, Studenten, jungen Arbeitslosen, erwachsenen Arbeitern und Älteren ausgeübte Praktiken. Die Tatsache jedoch, dass diese synkritische Identität auf den geteilten Bedingungen der Disziplin basiert, setzt voraus, dass sie nur durch ihre inneren Teilungen bestehen kann. Da die Polarisierung ein konstituierendes Element des heutigen Klassenverhältnisses ist – welche historisch in der Restrukturierung hervorgebracht worden ist und als solche durch Prozesse der Rassialisierung aufrechterhalten wird – sind die inneren Teilungen des Proletariats genauso bestimmend wie das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital. Das bedeutet nicht, dass die hier entscheidende zentrale Teilung von soziologischer Natur ist, dass sich eine statisch abgegrenzte Gruppe der „Aktivisten“ und eine andere der „Randalierer“ in ihr entgegenstehen. Wir wissen, dass die Mitglieder von Megafonen, Pantrarna und anderen genannten Organisationen häufig aus den gleichen Quartieren kommen wie die Randalierer und auch dort wohnen. Was wir meinen, ist, dass es unter jenen, welche in den Vorstädten leben, innere Teilungen gibt, und dass diese sich in verschiedenen Praktiken und Diskursen ausdrücken, welche von spezifischen, im Kampf konstituierten Subjekten ausgehen.

 

4. Die Sprache der Ausschreitungen


Hier geht es nun um das Verhältnis zwischen Ausschreitungen und Aktivismus und seiner Bedeutung für die gegenwärtige Periode. Die gleichzeitige Konstitution von Praktiken der Ausschreitungen einerseits und neuer Formen des Aktivismus andererseits wirft die Frage ihrer jeweiligen Methoden und Perspektiven auf.

 

Zuerst müssen wir das Wesen des Verhältnisses zwischen Ausschreitungen und Aktivismus betrachten. Ist es in der gegenwärtigen Situation für den Aktivismus möglich, die Ausschreitungen in seine eigene positive Sprache zu übersetzen, d.h. in seine eigene Tendenz der Bestätigung eines Dialogs und einer Zukunft in dieser Gesellschaft zu integrieren?

 

Betonen wir zuerst die historische Neuheit dieser Frage. Ausschreitungen bestanden nicht immer aus Praktiken, welche von Bewegungen der gesellschaftlichen Integration getrennt waren. Während den Ausschreitungen in Möllevången in Malmö 1926, welche im Kontext eines Konflikts zwischen Streikenden und Nicht-Streikenden ausbrachen, konnten gewalttätige Aktionen, die Konfrontation mit der Polizei eingeschlossen, bis zu einem gewissen Ausmass von Institutionen der Arbeiteridentität, z.B. der Zeitung Arbetaren („Der Arbeiter“), legitimiert und verteidigt werden. Und schliesslich wurden diese Ausschreitungen zu einem Anstoss für den Dialog, denn viele Arbeiter aus der Stadt akzeptierten es, an einer grossen, zentral organisierten, friedlichen Demonstration teilzunehmen. Die Ausschreitungen hatten also von Anfang an das Potenzial, gesellschaftlich integriert zu werden, weil die sie prägenden Praktiken, nicht wie jene heute, welche häufig eine Angelegenheit von sporadischen und kurzlebigen Gemeinschaften sind, das Resultat einer aufsteigenden und zunehmend institutionalisierten Arbeiterbewegung waren [43].

 

Folgendes müssen wir ebenfalls klarstellen: Wenn wir die Frage der potenziellen Integration von Ausschreitungen in unserer Periode aufwerfen, bedeutet das nicht, dass diese nun „ausserhalb“ der Gesellschaft stehen, als ob sie immun gegen Vereinnahmung oder weniger den „Illusionen“ dieser Gesellschaft unterworfen wären. Was wir meinen, ist, dass die Praktiken des Angriffs auf seine eigenen Lebensbedingungen, welche die eigene rassialisierte Klassenzugehörigkeit als etwas fremdartiges setzen, unmöglich als solche integriert werden können. Als Repräsentant einer politischen Partei, einer Gewerkschaft oder einer anderen etablierten Institution kann man nicht das Verbrennen von Polizeiposten oder die Sabotage von Infrastrukturen „organisieren“ und „koordinieren“, schlicht und einfach, weil man selber genau diese Gesellschaft verkörpert, welche durch diese Praktiken angegriffen wird, und weil die Existenz als ein solcher Repräsentant jene der Stadtverwaltung, der Polizeikontrolle, der Spaltung zwischen gesellschaftlichen Bürgern und „Aussenseitern“ voraussetzt.

 

Deswegen steht der Aktivismus, welcher die Funktionsweise des Staats und seiner Institutionen denunziert, verteidigt, was er als Überreste der Arbeiterbewegung wahrnimmt, auf Messers Schneide: Er versucht einen Teil der Gesellschaft zu repräsentieren, für welchen genau diese Gesellschaft etwas fremdartiges ist. Wenn der Aktivismus die Ausschreitungen verteidigt, beseitigt er sich selbst als gesellschaftlich anerkannter Repräsentant, und wenn er sie nicht verteidigt, muss er wie der Rest der Gesellschaft zur Repression gegen sie beitragen. Nach der Pressekonferenz nach dem allerersten Tag der „Ausschreitungen von Stockholm“ wurde Megafonen als Ursache, Verstärkung, Anführer oder Vermittler der Ausschreitungen behandelt, stets jedoch als ihr Repräsentant. Sogar die politische Opposition der herrschenden rechten Koalition in Schweden reagierte erst 24 Stunden später. Während dem zweiten Tag der Ausschreitungen legte Megafonen seinen Standpunkt dar. Diese schnellen Reaktionen zeigen an sich, wie stark Megafonen in Husby und Umgebung verwurzelt ist; sonst hätte die Organisation nicht das notwendige Vertrauen gehabt, um sich über diese Ereignisse während und wo sie geschahen zu äussern. Obwohl Megafonen die gesellschaftlichen Probleme versteht, welche die Ausschreitungen auslösen, „legt Megafonen keine Feuer“, denn dessen Ziele sind „langfristige Veränderung“, „konstruktiver Widerstand“ und „gesellschaftliche Modernisierung“ [44]. Mit anderen Worten, und das ist zu einem weit verbreiteten Klischee innerhalb der schwedischen Linken geworden: Sie verstehen die Wut der Randalierer, doch denken, dass sie sie anders ausdrücken sollten. Enttäuschung, wird gesagt, müsse in etwas progressives verwandelt werden. Wenn sie eine solche Idee der Kanalisierung des Unbehagens über das formulieren, was man in dieser Gesellschaft ist, tönen sie wie ein Echo auf gewisse Revolutionäre, welche das „Gewaltpotenzial“ der Randalierer gegen die Polizei loben, aber nicht die Tatsache, dass sie ihre eigenen Lebensbedingungen (Schulen, lokale Läden, Gebäude usw.) zum Ziel haben. In beiden Fällen wird angedeutet, dass jenseits der Praktiken der Ausschreitungen eine zugrunde liegende Kraft existiert, welche in eine andere Richtung gelenkt werden könnte. Es ist somit die Aufgabe des Aktivisten, des aktiven Subjekts, diese zugrunde liegende Kraft, das passive Objekt zu organisieren. Vom Standpunkt dieses Aktivismus aus müssen die selbstzerstörerischen Praktiken der Ausschreitungen einer kohärenten politischen Bewegung Platz machen.

 

Doch wenn man ernsthaft die gesellschaftliche Konstitution der Vorstädte betrachtet, wird klar, dass man nicht gegen die Form der Ausschreitungen sein kann, ohne ihren Inhalt zu verurteilen. Das Subjekt der Ausschreitungen ist nichts als seine Praktiken. Die Form ist nicht eine Reihe alternativer Mechanismen (Ausschreitungen oder „konstruktiver Widerstand“), welche von ihrem Motor getrennt sind (Wut aufgrund seiner Lebensbedingungen). Was die selbsternannten Agenten der Organisation unfähig sind, zu erkennen, ist die Tatsache, dass es nicht eine Frage von Organisation und Nicht-Organisation ist – mit anderen Worten, sie selbst und die Randalierer –, sondern eine Frage von zwei verschiedenen Formen der Organisation und somit zwei verschiedenen Inhalten, welche organisiert werden. Einerseits werden die Ausschreitungen von jenen organisiert, welchen die Gesellschaft als äussere Kraft erscheint. Ja, „organisiert“: Die Festlegung von Treffpunkten benötigt viel Kommunikation; die Blockade von Wegen, die Organisation von Pflastersteinen, die Bildung von Munitions- und Spähgruppen viel Koordination; diese Praktiken lebendig zu halten trotz der verstärkten Polizeipatrouillen erfordert die Kenntnis von allen Verstecken und Abkürzungen im Gebiet. Der Inhalt hier ist die Erschaffung von Unruhe; die Form jene eines kurzlebigen Zusammenkommens. Andererseits wird die kohärente politische Bewegung von jenen organisiert, welche immer noch eine Zukunft innerhalb dieser Gesellschaft sehen oder welche subjektiv eine sichtbare Zukunft konstruieren, vielleicht sogar eine, welche von aussen konkret unmöglich scheint: der Wiederaufbau des Wohlfahrtsstaates. In Stockholm organisierte Megafonen eine Geldsammlung für jene ohne Autoversicherung und mit verbranntem Auto; die Organisation unterstützte auch die „Bürgerpatrouillen“, um der Feuerwehr bei der Löschung der Feuer und der Polizei zu helfen, junge Randalierer nach Hause zu schicken. Der Inhalt hier ist Bürgerverhalten; die Form ist gesellschaftliche Integration.

 

Indem wir diese beiden Formen und Inhalte der Organisation unterscheiden, möchten wir nicht Aktivitäten wie Nachhilfeunterricht, unabhängige Lesungen usw. verurteilen, welche das Leben für viele junge Leute in den Vorstädten erträglicher machen. Wir wollen ihren Horizont aufdecken, die Perspektive der Veränderung der Gesellschaft, welche sie voraussetzen. Dieser Horizont ist, in den Worten von Megafonen selbst, jener eines „geschlosseneren Stockholms“ [45]. Es ist also ein Echo auf die sozialdemokratische Perspektive einer vereinigten Gesellschaft. Eben genau der Inhalt und die Form dieser Aktivitäten machen sie zu Trägern einer erneuerten gesellschaftlichen Regulierung. Tendenziell werden sie das schon in ihren Alltagspraktiken. In Göteborg geht Pantrarna so weit, Ausbildungskurse für Berufe mit Arbeitermangel zu planen. Es ist also erwähnenswert, dass, wenn das Sozialwesen zu einer öffentlichen Ware wird, diese Art von Aktivismus dazu tendiert, gewisse, einst staatliche Funktionen zu ersetzen. Er tendiert dazu, Gemeindearbeit gratis zu leisten und das als gesellschaftliche Emanzipation zu präsentieren.

 

Von diesem Standpunkt aus kann der Aktivismus tatsächlich die Ausschreitungen in seine eigene positive Sprache übersetzen, doch nur indem die Praktiken der Ausschreitungen mit jener der gesellschaftlichen Integration ersetzt werden. Das Wesen des Verhältnisses zwischen Ausschreitungen und Aktivismus ist das der Eingliederung, eine Tätigkeit der Transformation des Inhalts der Ausschreitungen, um ihnen eine gesellschaftlich erkennbare Form zu geben.

 

Dennoch entwickeln sich Aktivismus und Ausschreitungen nicht, wie es unsere Beschreibung der Ausschreitungen in Schweden zeigte, entlang einer Achse Revolte-Reform als zwei klar getrennte Realitäten. Die Ausschreitungen können unter Umständen Forderungen ausdrücken und sie entstehen häufig auf der Grundlage einer durch den Aktivismus herbeigeführten Politisierung. Wir können uns nicht strikt vom Standpunkt der positiven Sprache des Aktivismus aus mit der möglichen Integration der Ausschreitungen beschäftigen. Diese positive Sprache ist freilich nicht eine spezifische Eigenschaft des Aktivismus; sie kann unter Umständen auch von den Ausschreitungen geteilt werden.

 

Wenn also die positive Sprache, jene der Affirmation einer Möglichkeit des Dialogs und einer Zukunft in unserer Gesellschaft, nicht auf den Aktivismus beschränkt ist, führt uns das Problem des Verhältnisses zwischen Ausschreitungen und Aktivismus dazu, die verschiedenen Ausdrücke dieser Sprache zu betrachten. Wie wird sie in Ausschreitungen ausgedrückt? Wie wird sie im Aktivismus ausgedrückt?

 

Im schwedischen Kontext sind die Ausschreitungen nicht eigentlich zerstörerisch. Sogar von einem konsequentialistischen Standpunkt aus, der in der Regel zur Schlussfolgerung gelangt, dass „die Randalierer niemanden ausser sich selbst verletzen" [46], tendieren die Ausschreitungen dazu, eine Modalität des Forderns zu verkörpern. Die Entscheidung der grossen Immobilienfirmen von Herrgården und Rosengård (Newsec und Contenus), die modrigen Wohnungen während des Frühlings nach den Ausschreitungen schliesslich zu renovieren; das Ende der Schliessungen der Jugendfreizeitzentren; der Bau eines neuen Sportplatzes mit längeren Öffnungszeiten; Mietsenkungen in gewissen Fällen bis zu 25% – all das kann nur als eine Art der Erfüllung der explizit nach der Besetzung formulierten und jener Forderungen betrachtet werden, welche lokale Politiker, Gemeindearbeiter und Bosse von Immobilienfirmen in die Akte der Randalierer hineinlasen. Das gleiche gilt für Stockholm wo die Immobilienfirma Tornet nach den Ereignissen in Risingeplan im April 2013 ihren Plan zurückzog, 167 neue Immobilien zu bauen [47]. Der Grund, gemäss dem Geschäftsführer der Firma, war, dass „wir einen kohärenten Dialog mit den Einwohnern herstellen und den Drohungen gegen unser Personal ein Ende setzen müssen“ [48].

 

Hier scheint es somit, dass die Ausschreitungen dazu tendieren, die Sprache des Dialogs und einer Zukunft durch Brandstiftung und Fordern gleichzeitig zu verkörpern. Es ist eine Form konstruktiver Destruktivität. Von der schwedischen Perspektive aus gesehen, müssen wir also fragen, ob das als eine neue Form gesellschaftlicher Verhandlungsführung betrachtet werden könnte. Selbstverständlich wäre diese nicht das gleiche wie die zentral organisierte gesellschaftliche Verhandlungsführung der schwedischen Arbeiterbewegung. Wie wir gesehen haben, haben die universellen und einschliessenden Normen, welche die politische Repräsentation unter dem sozialdemokratischen Regime während der Nachkriegszeit charakterisierten, differenzierten und polarisierten politischen Repräsentationsweisen Platz gemacht. Aus der spezifischen Perspektive der Situation in den schwedischen Vorstädten zeigt sich, dass die starke Rassialisierung gewisser Proletarier Hand in Hand mit jener des politischen Vertrags geht. Für die Randalierer, welche nicht nur die Speerspitze der Entwesentlichung der Arbeit darstellen, sondern auch der intensivsten gesellschaftlichen Kontrolle und Gentrifizierung ausgesetzt sind, kann gesellschaftliche Verhandlungsführung nicht jene des Bürgers sein, welcher sich bemüht, politisch repräsentierbar zu sein. Diese Verhandlungsführung kann sich nur durch intensivierten Konflikt ausdrücken, welcher zwangsläufig schnell abstirbt, weil das, was die Randalierer in ihren Praktiken verwerfen, die Existenz dieser politischen Repräsentation selbst ist, aus welcher sie normalerweise ausgeschlossen sind. Während Ausschreitungen provozieren die Randalierer für eine kurze Zeit politische und mediale Debatten über ihre Lebensbedingungen; sie erzwingen die Verbesserung gewisser Aspekte ihrer Reproduktion (Wohnungen, Infrastrukturen usw.); während dieser kurzen Zeitspanne könnte man gar sagen, dass sie eine Klasse konstituieren – nicht objektiv durch die Produktionsverhältnisse definiert, sondern aufgrund der Tatsache, dass sie sich selbst als politisches Kollektiv erkennen, welches auf der Grundlage von Dingen aufgebaut ist, die vorher nicht in diesen Begriffen verstanden wurden: Repression, Armut, Hass auf die Polizei usw. Das ist gleichzeitig die Grenze der Ausschreitungen. Die Ausschreitungen verkommen zu einem eigentlich vorstädtischen „Problem“, einer chronischen Krankheit, welche mit gelegentlichen Verbesserungen und v.a. konstanter Polizeipräsenz behandelt wird. In Schweden bestanden die Strategien letzterer nicht darin, viele Leute zu verhaften, sondern sie konzentrierten sich auf die Wiederherstellung der Ruhe in Zusammenarbeit mit den befriedenden Elementen der Vorstädte [49]. Eben genau weil Ausschreitungen dazu tendieren, zur Normalität gewisser Vorstädte zu werden, wird der normale Gang der kapitalistischen Gesellschaft durch sie nicht in Gefahr gebracht, nicht einmal auf der Ebene ihrer Reproduktion. Sie nimmt nicht trotz, sondern mit den Ausschreitungen ihren Lauf.

 

Auf diese Weise dringen die Ausschreitungen in die um die positive Sprache der gesellschaftlichen Verhandlungsführung organisierte Bewegung ein. Sie tun dies jedoch, indem sie sich die Sprache der Forderungen wieder aneignen, indem sie sie in einen konfliktreicheren und breiteren Kampf verwandeln. In Rosengård entstanden die Ausschreitungen eben genau als Ausweitung einer forderungsorientierten Besetzung, aber gegen die anfängliche staatsbürgerliche Art der Verhandlungsführung, indem direkt die wahrgenommenen Kräfte hinter der Räumung angegriffen wurden (die Immobilienfirmen und die Polizei). In Risingeplan entstanden die Ausschreitungen während den Monaten vor den „Ausschreitungen von Stockholm“ innerhalb der Kampagne als eine andere, turbulentere Art und Weise des Forderns: Fordern durch Brandstiftung, die Forderung nach einer drastischen Mietsenkung statt einer weiteren Studie durch den Mieterverband. Die positive Sprache des Dialogs und einer möglichen Zukunft existiert in den Ausschreitungen, doch im Sinne einer Forderung nach unmittelbaren Lösungen für konkrete Probleme, nicht innerhalb der Perspektive einer geschlossenen Gesellschaft oder einer Sozialdemokratie 2.0.

 

Indes ist es in Schweden auch umgekehrt. Die Ausschreitungen dringen nicht nur in die Bewegung ein; die Bewegung tendiert durch ihre Bemühung, zur Repräsentantin davon zu werden, auch dazu, in die Ausschreitungen einzudringen: Wir haben gesehen, wie Organisationen wie Megafonen und Pantrarna in einem Verhältnis der Eingliederung hinsichtlich der Ausschreitungen stehen. Indem sie symbolisch gewisse Kosten der Zerstörung der Randalierer decken oder sich um die Weiterbildung der Jugendlichen kümmern, tendieren sie dazu, eine Koalition aller antagonistischen Elemente der Zivilgesellschaft hier und jetzt zu bestätigen. Dieses Subjekt bemüht sich darum, politisch zu sein, in jenem Sinne, dass seine Praktiken dazu tendieren, das Zusammenkommen von Leuten zu organisieren, welches im alltäglichen Leben nur durch von der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft vorausgesetzte, rassialisierte Klassenverhältnisse existiert. Innerhalb des Aktivismus existiert die positive Sprache ebenfalls in und durch Forderungen, Forderungen jedoch, welche gemäss der Modalität der Integration vorgebracht werden.

 

Das ist eine breitere Tendenz. Die Ausschreitungen in Kopenhagen im Winter 2007 [50] gipfelten zum Beispiel in der Veröffentlichung eines offenen Briefes in der grossen Zeitung Politikken gezeichnet „Die Jungs des inneren Nørrebro“ (Drengene fra Indre Nørrebro), in welchem sich sowohl Randalierer als auch ein junger Arbeiter eines Freizeitzentrums zusammentun, um die alltägliche Erfahrung der Jugendlichen von Polizeikontrollen und -brutalität zu beschreiben. Ein bestimmter Polizeioffizier wurde tatsächlich nach den Ereignissen gefeuert und Treffen mit der Polizei, dem jungen Arbeiter, einigen Teilnehmern an den Ausschreitungen sowie Eltern des Quartiers wurden in Nørrebro abgehalten. In noch jüngerer Vergangenheit hat dieses politische Subjekt sogar die europäischen Parlamente erreicht. In Griechenland präsentierte sich z.B. Syriza während den ersten Tagen der Ausschreitungen im Dezember 2008 als jene Partei, welche anerkannte, dass die Randalierer – jene, welche Universitäten besetzten, Läden und U-Bahn-Stationen sabotierten, die Polizei angriffen – tun, was sie tun, weil ihre Zukunft blockiert ist. Sechs Jahre später ist klar geworden, dass die nur politische Anerkennung dieser abwesenden Zukunft impliziert, dass der Staat und eine sozialistische Wirtschaft den Randalierern diese Zukunft bereitstellen soll.

 

5. Bewegung und Explosion


Die Besonderheit der Ausschreitungen in Schweden, im Vergleich zu jenen in Athen 2008 und in London 2011 – welche in beiden Fällen nicht als Akte zur Verteidigung des Sozialwesens begannen, sondern als Antwort auf Polizeimorde – ist die Tatsache, dass sie im Kontext der Verteidigung der Infrastruktur in den Vorstädten entstanden sind. Das zeigt, dass sich die gegenwärtige Krise des restrukturierten Kapitals in unterschiedlichen Zeitlichkeiten entwickelt. Unmittelbar nach dem Ausbruch der Krise 2008 waren aufgrund des kombinierten Angriffs auf indirekte Löhne während der Finanzkrise zwischen 1990 und 1994, einer aggressiven Geldpolitik, sowie einer relativ restriktiven Kreditpolitik keine bedeutenden Regierungsinvestitionen oder Sparmassnahmen notwendig. Deshalb enthält der restrukturierte schwedische Wohlfahrtsstaat, viel mehr als Länder wie Griechenland oder England [51], etwas, das es sich lohnt, zu verteidigen, nämlich Sozialleistungen, die sich besonders in Wohnungen und Infrastruktur materialisieren, häufig auf der Grundlage des oben beschriebenen besonderen Verhältnisses zwischen dem Markt und dem Staat. Somit ist das Verhältnis zwischen Ausschreitungen und Aktivismus in Schweden nicht das offen konfliktgeladene, welches wir in Frankreich gesehen haben, wo, während der französischen Bewegung gegen den CPE 2006, die Randalierer aus den banlieues von Paris die Demonstrationen oder Generalversammlungen der Studenten buchstäblich angegriffen haben, indem sie Autos anzündeten oder die Konfrontation in einer Art und Weise suchten, welche mit den forderungsorientierten Praktiken letzterer brachen [52]. In Schweden mag die Sprache der Forderungen vom Aktivismus und den Ausschreitungen geteilt werden, obwohl diese Forderungen in gewissen Fällen projizierte Rekonstruktionen sind, welche von Politikern, Gemeindearbeitern oder Geschäftsführern von Immobilienfirmen vorgebracht werden. Natürlich gibt es Forderungen und Forderungen: Die rastlosen Forderungen der Randalierer („Senkt die Mieten!“ oder „Solidarität mit unseren Brüdern!“) sind nicht die gleichen wie die allgemeinen, welche von Organisationen wie Megafonen vorgebracht werden und ein besseres Sozialwesen und mehr Demokratie fordern, doch sie entstehen in der selben Situation. Der Niedergang der schwer zentralisierten Gewerkschaften, welche einst die zentralen Vermittler für gesellschaftliche Verhandlungsführung waren, hinterlässt ein Vakuum, das nur durch Organisationsformen ausgefüllt werden kann, welche wir unmittelbar nennen können, in jenem Sinne, dass sie nicht in eine gesellschaftlich anerkannte Institution integriert sind [53]. Die Formen dieser Unmittelbarkeit sind verschieden; sie bestehen sowohl aus der Übernahme von abgeschafften Staatsfunktionen, der Ausfüllung des Vakuums, als auch der direkten Aktion gegen die vermeintlichen Quellen seiner eigenen gesellschaftlichen Entbehrung, der Missachtung des Vakuums. In Schweden kann somit die Verteidigung der Sozialleistungen Ausschreitungen auslösen: Brandstiftung und Fordern können zusammenfallen.

 

Doch die Praktiken der Brandstiftung und des Forderns können nicht auf harmonische Art und Weise koexistieren. Indem sie eben genau die Infrastruktur für ihre Reproduktion in Brand setzen und gleichzeitig eine Verbesserung dieser Reproduktion fordern, handeln die Randalierer gegen und für die Weiterexistenz innerhalb dieser Gesellschaft. Durch ihre Praktiken trennen sie tendenziell ihre Konstitution als rassialisierte Proletarier im Verhältnis zum Kapital – jene Prozesse, welche ihre spezifische Situation bestimmen – von ihrer Reproduktion als rassialisierte Proletarier innerhalb des Kapitals – von jenen Prozessen, welche bestimmen, was sie in dieser Gesellschaft sind [54]. Diese Akte der Trennung dessen, was man innerhalb dieser Gesellschaft ist einerseits, und die Reproduktion davon andererseits ist an sich überhaupt nicht revolutionär. Sie enthüllen nur eine Diskrepanz zwischen dieser Konstitution und dieser Reproduktion; sie lösen das innere Verhältnis zwischen den beiden nicht auf. Nichts deutet darauf hin, dass die blosse Enthüllung dieser Diskrepanz nicht in die Reproduktion des Kapitals integriert werden könnte. Wie wir gesehen haben, ist das manchmal schon der Fall, wenn die Aufdeckung dieser Diskrepanz politisch nicht als die Trennung von Konstitution und Reproduktion der Klasse präsentiert wird – was einen Bruch mit bestehenden Produktionsverhältnissen verlangt – sondern als Unangemessenheit zwischen dieser Konstitution und dieser Reproduktion, eine Unangemessenheit, welche gesellschaftliche Integration verlangt: „Bildung und einen Job“ für die „Ausgeschlossenen“, welchen ihre Situation als „Ausgeschlossene“ unbehaglich scheint. Wenn also Akteure wie Aktivistengruppen oder Parteien auftauchen, um die Randalierer zu repräsentieren, sind sie nicht dabei, die Ausschreitungen zu „vereinnahmen“. Sie entstehen aus den Grenzen der Ausschreitungen selbst: aus ihrer gesellschaftlichen und geographischen Isolation von jenen, welche dem Markt fremdartig sind – aus ihrer Existenz als strikt „vorstädtische“ Ausschreitungen.

 

In Anbetracht der nahen Zukunft erlaubt uns das Verhältnis zwischen Ausschreitungen und Aktivismus, welches wir zu skizzieren versuchten, zwei Fragen zu formulieren.

 

Die erste Frage betrifft die Tendenz des Aktivismus, sich um die Konstitution einer kohärenten politischen Bewegung zu bemühen, welche die Randalierer integrieren soll. In Schweden gilt dies für Megafonen und Pantrarna. Indem sie versuchen, eine kohärente politische Bewegung hervorzubringen, entstehen diese Organisationen als Antworten auf die Praktiken der Ausschreitungen. Doch innerhalb dieser Antwort wird diese Fremdartigkeit der rassialisierten Klassenzugehörigkeit als Abweichung von der politischen Norm präsentiert, eine politische Norm, welche häufig jene des Wohlfahrtsstaates und der Arbeiterbewegung ist. Diese Organisationen behandeln Ausbeutung und rassische Herrschaft als etwas, das durch die Umverteilung von existierendem Wohlstand verändert werden soll. Für sie wird die Wirtschaft nicht durch Klassenpolarisierung und Rassialisierung konstituiert, sie ist grundsätzlich neutral. Deswegen präsentieren sie die Ausschreitungen als lebenden Beweis für die Notwendigkeit, verleumdete Identitäten zu integrieren, welche nur aufgrund der Diskriminierung der Mächtigen von dieser Integration abgehalten werden. Eine ähnliche Tendenz konnte in den letzten Monaten in Ferguson beobachtet werden, v.a. ausgehend von einer älteren Generation von Aktivisten, von jenen, welche auf der Notwendigkeit für schwarze Leute beharren, als gute Bürger zu agieren, um wie gute Bürger behandelt zu werden. Für sie ist die Staatsbürgerschaft nicht als struktureller Ausschluss der schwarzen Gemeinschaft von der weissen konstituiert; sie steht grundsätzlich jedem offen. Wie wir weiter oben betont haben, entstehen diese Akteure aus den Grenzen der Ausschreitungen selbst; sie präsentieren das „Ausgegrenztsein“ der Randalierer als passiven, handlungsunfähigen Zustand. Es ist wichtig, anzumerken, dass diese Tendenz ein höchst repressives Moment enthält: Indem sie bestätigen, dass Identitäten integriert werden müssen oder dass wir alle wie gute Bürger agieren sollten, bestätigen sie die Notwendigkeit der Befriedung der Bewegung zur Hervorbringung eines vereinten politischen Subjekts. In Schweden nimmt dies konstant die Form der Differenzierung zwischen Randalierern - „kriminelle Gangster“, „Steinewerfer“ oder, wieso nicht, „professionelle Aktivisten“ (sic!) [55], welche aus anderen Teilen der Stadt kommen – und den Einheimischen an - „hart arbeitende Leute“, „Ladenbesitzer“, „Bürger“ usw. Diese Klassifizierung ist gleichzeitig ein Ausschluss der Praktiken der Randalierer. In der Tat lässt das vereinigte politische Subjekt keine inneren Kämpfe wie jene in den schwedischen „Vorstädten“ oder Ferguson zu: Kämpfe zwischen dem selbständigen Proletariat – Besitzer kleiner Lebensmittelläden, Restaurants usw. – und den jüngeren Proletariern. Somit sollte es keine Überraschung sein, dass es auf der Seite der „Bürgerpatrouillen“ in Stockholm, der Bürgerreinigung nach den Ausschreitungen in London oder in jüngerer Vergangenheit der Oath Keepers in Ferguson steht. Kann dieser Aktivismus die Praktiken der Ausschreitungen in eine neue Kraft der gesellschaftlichen Verhandlungsführung einebnen, welche beruhigt werden kann, sobald die Forderungen erfüllt sind? Die jüngsten Entwicklungen in Griechenland (Syriza) und Spanien (Podemos) scheinen schon auf eine solche Tendenz hinzudeuten [56]. Falls ja, auf welcher Grundlage wird diese gesellschaftliche Integration geschehen, d.h. was ist ihr inneres Verhältnis zum Kapital und zum Staat?

 

Die zweite Frage betrifft die Tendenz der Ausschreitungen, die Form gesellschaftlicher Explosionen anzunehmen. Die Undeutlichkeit der Ausschreitungen – ihr diffuser und kurzlebiger Charakter, die Verweigerung von jeglichem staatsbürgerlichem Dialog, die rastlosen Forderungen, falls es überhaupt welche gibt – muss an und für sich behandelt werden, und nicht bloss als Zeichen einer Unfähigkeit, richtig zu sprechen. In der Tat können die Ausschreitungen in der gegenwärtigen Lage nicht als Ausschreitungen artikuliert werden, schlicht und einfach, weil es keinen Verhandlungsspielraum gibt, speziell in einer Periode, wo die einzige Notwendigkeit des Kapitals die Fortsetzung der Restrukturierung ist. Doch auch weil der Prozess dieser Restrukturierung den strukturellen Ausschluss des Proletariats vom kollektiven Verhandlungstisch voraussetzt. Die Ausschreitungen sind grundlegend nicht-relational: Ihr Verhältnis zur kapitalistischen Totalität ist, obwohl systematisch, nicht direkt vermittelt von irgendeiner gesellschaftlich anerkannten Institution. Diesbezüglich zeigen die Ausschreitungen offenkundig, dass die Hervorbringung der rassialisierten Klassenzugehörigkeit als etwas fremdartiges nicht mehr und nicht weniger als ihre Hervorbringung als etwas fremdartiges ist. Natürlich schaffen sie es, aufgestaute Wut in ein kollektives Ereignis zu verwandeln. Das wird offenkundig in der Tatsache während den Ausschreitungen ausgedrückt, dass Leute aus anderen „Vorstädten“ schnell in Husby in Stockholm zusammenkamen und dass sich Leute aus anderen Gebieten der USA den Ausschreitungen in Ferguson anschlossen. Darüber hinaus, wie wir in Frankreich 2005 oder in Schweden letztes Jahr gesehen haben, dauern die Ausschreitungen immer länger und werden zu einem weiter verbreiteten Phänomen. Das kann an sich gefeiert werden. Doch die Kommunisierung, die verflochtenen Prozesse der Abschaffung der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse und unsere eigene Hervorbringung in neuen materiellen Gemeinschaften, kann nicht aus Ausschreitungen bestehen, nicht einmal aus verallgemeinerten. Wie könnte diese inhärente Grenze der Ausschreitungen, d.h. als eine gesellschaftliche Explosion, als Ausdruck aufgestauten Unbehagens gegen die kapitalistische Gesellschaft, doch immer innerhalb derselben, überwunden werden? Wie es vom Verhältnis zwischen Ausschreitungen und Aktivismus suggeriert wird, ist es nicht die Destruktivität, welche für den Aufbau der Konstruktivität überwunden werden sollte; und auch nicht die Konstruktivität, um der Destruktivität freien Lauf zu lassen. In Gebieten wie jenen der schwedischen Vorstädte würde das allen voran bedeuten, die Isolation der strikt vorstädtischen Ausschreitungen zu überwinden. Es ginge um mehr als das Anzünden der Autos der Reichen im Stadtzentrum. Es würde damit beginnen, die Geographie der kapitalistischen Akkumulation auf’s Spiel zu setzen: das Verhältnis zwischen dem kapitalistischen Kern (Europa oder das Stadtzentrum) und seiner Peripherie (Einwanderung oder die Vorstädte). Dies könnte nur in Form von inneren Kämpfen innerhalb des Proletariats hervorgebracht werden, denn wenn diese Ausschreitungen eine Sache über die Revolution in unserer Zeit aufzeigen, dann jene, dass wir von Kämpfen nicht erwarten können, dass sie direkt gegen das Fundament des Kapitals gerichtet sind, dass sie sich nur auf Kapitalisten auswirken: Es gibt keine reinen Kämpfe.

 

Zaschia Bouzarri

 

November 2014

 

zaschia.bouzarri - ät - gmail.com

 

Übersetzt aus dem Englischen von Kommunisierung.net.

 

Quelle

 

Anmerkungen

[1] Megafonen, "Alby är inte till Salu!" ["Alby steht nicht zum Verkauf!"], unsere Übersetzung.

[2] Der folgende Bericht über die Ausschreitungen in Rosengård basiert v.a. auf: Mookie Blaylock, ‘It takes a nation of millions to hold us back – Rosengård i revolt’, Direkt Aktion Nr. 58, August 2009, S. 8-17.

[3] ‘Tredje dagen det brinner’, Sydsvenskan, 18.03.09.

[4] Schwedische Polizei, ‘Historisk tillbakablick’, Metodhandbok för samverkan mot social oro, 2013. Ein in Backa lebender Genosse sagte, es gebe eine spezifische „Saison“, während welcher es zu den meisten Brandstiftungen und Steinwürfen komme: das Ende der ziemlich langen Sommerferien, kurz vor dem Schulanfang. Jene, welche versuchen, die Ausschreitungen zu ignorieren, weil sie nicht ihrem eigenen Begriff der Arbeiteremanzipation entsprechen, beziehen sich häufig darauf als Beweis, dass sie eine Angelegenheit jugendlicher Wut seien. Doch wenn sie sich zur Ablehnung der Ausschreitungen darauf berufen, liefern sie damit in Tat und Wahrheit nur den Beweis ihrer eigenen Unfähigkeit, eben genau diese Wut als etwas zutiefst gesellschaftliches zu erfassen. Denn wer genau verbringt schon den ganzen Sommer in der Vorstadt einer grossen Stadt, wenn nicht die bettelärmsten Elemente des Proletariats?

[5] Stina Berglund, ‘Backakravallerna började med jeansstöld’, Göteborgs-Posten, 30.06.2011.

[6] Schwedische Polizei, op. cit.

[7] 2013 wurde dieser intensive Aktivismus am Leben erhalten, aber nicht ohne Schwierigkeiten. Im März organisierte die gemeindeeigene Immobilienfirma ein nichtöffentliches Treffen in Botkyrka, eine Vorstadt im Südwesten von Stockholm, mit potenziellen Käufern von 1300 zum Verkauf stehenden Wohnungen in Albyberget. Eine friedliche Kundgebung gegen diese Privatisierung mit Kaffee und Zimtbrötchen sah sich zwei Polizeibussen, drei Bullen und einem Helikopter (!) gegenüber. Zuvor wurde zwei prominenten Figuren des Widerstands gegen diese Transformationen von Gemeindearbeitern und Polizeioffizieren gesagt, sie sollen ihre Politik von Jugendfreizeitzentren fernhalten und keine Petitionen in den lokalen Bibliotheken auflegen – viele Zeichen einer Nulltoleranzstrategie, die häufig durch eine Angst vor „Radikalisierung“ motiviert ist. Gleichzeitig organisierte die Kampagne „Alby steht nicht zum Verkauf“ (Alby är inte till salu), welche gegen den Verkauf von 1300 Wohnungen in Albyberget initiiert wurde, eine Petition, um die 6000 Unterschriften zu erlangen, welche nötig sind, um ein Referendum zur Frage zu erzwingen. Doch die Liste mit 6600 Unterschriften wurde von der Gemeinde nie akzeptiert, angeblich wegen mehrerer „unleserlichen“ oder „alten“ Namen.

[8] Rouzbeh Djalaie, ‘Bilbränder byttes mot flygblad och organisering’, Norra sidan, 13. April – 17. Mai 2013, S. 11.

[9] Rouzbeh Djalaie, ‘Vi betalar Östermalmshyror i Tensta’, ebd., S. 10. Gemäss den Wechselkursen im November 2014, 1.00 SEK = 0.11 EUR = 0.13 USD.

[10] Johanna Edström, ‘Hyresvärden får dem att se rött’, Mitt i Tensta-Rinkeby, 16.04.2013, S. 6.

[11] Kenneth Samuelsson, ‘Hårt kritiserade Tornet stoppar renovering’, Hem & Hyra, 17.05.2013.

[12] Die folgende Zusammenfassung der Ausschreitungen in Stockholm basiert v.a. auf einer Zusammenstellung unserer eigenen Quellen, sowie auf Zeitungsartikeln und Stellungnahmen während und nach den Ausschreitungen, die meisten davon sind in der Sektion „Brèves du désordre“ der Homepage Cette semaine. Die betreffenden Artikel findet man hier chronologisch geordnet.

[13] Für eine ausführlichere Beschreibung des Begriffs der Integration und seiner Bedeutung für das Verständnis des Kapitals und des Klassenkampfes heute, siehe Bob, „Maulwurf, bist du da? Das restrukturierte Kapital, der Klassenkampf und die revolutionäre Perspektive“, Januar/Februar 2013.

[14] J. Magnus Ryner, Capitalist Restructuring, Globalisation and the Third Way. Lessons from the Swedish Model (Routledge 2002), S. 33.

[15] J. Magnus Ryner, ebd., S. 59.

[16] Die Maschinenindustrie wurde schnell zu Schwedens wichtigster Exportindustrie, welche fast die Hälfte der industriellen Arbeitskraft mobilisierte und für die Herstellung von ungefähr 40% aller schwedischen Exporte während der Nachkriegszeit verantwortlich war. Siehe J. Magnus Ryner, op. cit., S. 69.

[17] Zu dieser Zeit hatte Schweden die höchste Einbürgerungsquote von Einwanderern in Europa und 1976 gab eine Reform ihnen das Wahlrecht in lokalen Wahlen, sowie Zugang zu Rechten ziviler, politischer und sozialer Staatsbürgerschaft.

[18] Carl-Ulrik Schierup, Aleksandra Ålund and Lisa Kings, ‘Reading the Stockholm Riots – A moment for social justice?’, 2014, RACE & CLASS (55).

[19] Diese sowohl von Gewerkschaften als auch Arbeitgebern geteilte Überzeugung kennzeichnete die Revision der schwedischen Integrationspolitik 1975 und ihre Prinzipien der „Gleichheit“ (im Gegensatz zur ethnischen Teilung der Arbeitskraft), der „Kooperation“ (im Gegensatz zu bürokratischer Kontrolle) und „Wahlfreiheit“ (im Gegensatz zu Segregation). Siehe Carl-Ulrik Schierup, Aleksandra Ålund, ‘Prescribed multiculturalism in crisis’, Paradoxes of Multiculturalism. Essays on Swedish Society (Avebury/Gower 1991), S. 2.

[20] J. Magnus Ryner, op. cit., S. 30 und 93.

[21] J. Magnus Ryner, ebd., S. 49-50.

[22] J. Magnus Ryner, ebd., S. 146-147.

[23] J. Magnus Ryner, ebd., S. 110.

[24] Carl-Ulrik Schierup, ‘The duty to work’, Paradoxes of Multiculturalism. Essays on Swedish Society, op. cit., S. 25 and 28.

[25] Carl-Ulrik Schierup, ‘”Paradise Lost?” Migration and the Changing Swedish Welfare State’, Migration, Citizenship, and the European Welfare State. A European Dilemma (Oxford University Press 2006), S. 196-209.

[26] Carl-Ulrik Schierup, ebd., S. 214-215.

[27] Carl-Ulrik Schierup, ‘The ethnic tower of Babel: political marginality and beyond’, in Paradoxes of Multiculturalism. Essays on Swedish Society, op. cit., S. 117, 120, 123, 126.

[28] 2006 wurden die individuellen Kosten zur Teilnahme am System der Leistungen für Arbeitslose neu geregelt: 400 000 Arbeiter mussten aussteigen, weil sich ihre Kosten verdreifachten. Heute haben weniger als die Hälfte der Arbeitslosen eine Arbeitslosenversicherung.

[29] Mattias Bengtsson, ‘Utanförskapet och underklassen. Mot en selektiv välfärdspolitik’, Fronesis Nr. 40-41, 2012, S. 184-185. Man könnte auch anmerken, dass dies die Stigmatisierung illegaler Einwanderer als faktisch kriminelle Wesen verstärkt.

[30] Natürlich war die Entwicklung der Mittelschichten während der Restrukturierung nicht nur von Niederlage und Zerfall geprägt. Ein Teil der Bevölkerung war in der Tat fähig, von der neuen Wirtschaft aufgrund ihrer erhöhten Rentabilität und der Chancen auf billige Kredite zu profitieren. Doch wir spielen hier darauf an, dass die Restrukturierung mit dem folgenden Zerfall der Arbeiteridentität gleichzeitig eine gewaltige ideologische Verschiebung ist, sie führt ein neues Paradigma ein, das Hand in Hand mit der Individualisierung des Arbeitsvertrages und der neuen privaten Form des Sozialwesens geht. Innerhalb dieses neuen Paradigmas kann man von der Kultur sagen, dass sie essentialisiert wird, dass gewisse kulturelle Charakteristiken definitionsgemäss gewissen Bevölkerungen zugeordnet werden – darum geht es gewissermassen im „Multikulturalismus“, sogar in seinen liberalsten Formulierungen. Die Integration von eingewanderten Bevölkerungen in die nationale Wirtschaft wird dann zu einer Frage der Befolgung von nationalen oder zivilisatorischen „Werten“.

[31] Mattias Bengtsson, op. cit., S. 179.

[32] Innerhalb der „Mehrheit“ der Bevölkerung ist die Kulturalisierung gesellschaftlicher Bedingungen gleichbedeutend mit der Neuerfindung einer vereinten Nation, welche gegen die Einwanderung und ihre vermeintlichen Ursachen verteidigt werden muss, d.h. eine essentialisierende Projektion. Andererseits ist eben diese Kulturalisierung gesellschaftlicher Bedingungen unter gewissen Einwanderern das Medium, durch welches sie sich selber als zu einer religiösen Gemeinschaft zugehörig definieren – hauptsächlich des Islams, innerhalb gewisser Teile der facettenreichen muslimischen Minderheit –, um sich gegen die vermeintliche allgemeine westliche Dekadenz zu stärken, d.h. eine essentialisierende Selbstverwirklichung. Es scheint klar, dass in Schweden die Zerstörung der anerkannten gesellschaftlichen Integration und der verstärkte Angriff auf Reallöhne und Ansprüche auf Sozialhilfe während diesen letzten beiden Jahrzehnten die Grundlage einer geschlossenen gesellschaftlichen Gemeinschaft untergraben hat. Besonders in Zeiten der Krise führt das zu einer verzweifelten Identifikation mit dem, was scheinbar über „der Wirtschaft“ steht: mit nationalen Werten oder Religion.

[33] Siehe Théorie Communiste, ‘Le plancher de verre’, in Theo Cosme (Hg.), Les émeutes en Grèce (Senonevero 2009), S. 19-20.

[34] Jimmy Bussenius, ‘Herrgården, Rosengård’.

[35] Regeringskansliet, Urbana utvecklingsområden: en statistisk uppföljning utifrån sju indikatorer (Arbetsmarknadsdepartementet, 2012), S. 16.

[36] Carl-Ulrik Schierup, Aleksandra Ålund and Lisa Kings, ‘Reading the Stockholm Riots – A moment for social justice?’, op. cit.

[37] Carl-Ulrik Schierup, ‘”Paradise Lost?” Migration and the Changing Swedish Welfare State’, op. cit., S. 215-216.

[38] REVA ist eine Abkürzung für rättssäkert och effektivt verkställighetsarbete, was „Legal sichere und effiziente Ausführung“ bedeutet.

[39] Soweit wir wissen hauptsächlich U-Bahn-Stationen und Bahnhöfe.

[40] Die sogenannte „Gebrauchswertregel“ (bruksvärdesregeln) garantierte, dass Mieten teilweise gemäss den materiellen Eigenschaften der Wohnungen – ihrer Grösse, Ausstattung, Entfernung vom öffentlichen Verkehr usw. – und nicht unmittelbar durch den Markt festgelegt wurden.

[41] Eric Clark, Karin Johnson, ‘Circumventing Circumscribed Neoliberalism. The “System Switch” in Swedish Housing’, Where the Other Half Lives (Pluto Press 2009), S. 175-179.

[42] Brett Christophers, ‘A Monstrous Hybrid: The Political Economy of Housing in Early Twenty-first Century Sweden’, New Political Economy, DOI: 10.1080, 2013, S. 12-22.

[43] Für eine ausführliche und gehaltreiche Zusammenfassung dieser Ausschreitungen, siehe Stefan Nyzell, ”Striden ägde rum i Malmö”. Möllevångskravallerna 1926. En studie av politiskt våld i mellankrigstidens Sverige (Malmö Högskola 2009), S. 56-74 und S. 280-292.

[44] Megafonen, ‘Vi startar inga bränder’, Aftonbladet, 24.05.13. Eine englische Übersetzung ist hier verfügbar.

[45] Megafonen, ‘Järvalyftet är ingen bra förebild’, Svenska Dagbladet, 04.05.12.

[46] Siehe z.B. den Leitartikel der schwedischen Zeitung Svenska Dagbladet vom 21. Mai 2013.

[47] Zu diesem Plan gehörten 30 teure Wohnungen mit Terrasse, exklusive Überbauten auf bestehenden Wohnungen, neue Gebäude, Balkone mit Glaswänden und all das hätte den Abriss von vier dreistöckigen Häusern in der Nähe eines lokalen Parks erfordert.

[48] Johanna Edström, ‘Tornet till reträtt efter protesterna’, Mitt i Tensta-Rinkeby, 24.04.13, S. 4. Das Wochenende zuvor wurde das lokale Verwaltungsgebäude von Tornet in Brand gesetzt.

[49] In Rosengård in Malmö führte die Tendenz der Unruhen, zu einem Teil des alltäglichen Lebens zu werden, 2009 zur Entwicklung einer neuen Polizeistrategie. Die Bullen sollen nun in leichteren Uniformen arbeiten und versuchen, einen vergnüglichen persönlichen Kontakt herzustellen, um „dort zu sein und Dinge zu verhindern, bevor sie geschehen“. In praktischeren Begriffen bedeutet das, dass alle Beamte der Aussenbezirke, welche nicht an Notsituationen beteiligt sind, konstant in Rosengård patrouillieren müssen, jeden Tag der Woche. Im Fall der „Ausschreitungen von Stockholm“ ist es erwähnenswert, dass von den 29 Verhafteten schliesslich nur drei verurteilt wurden. Siehe ‘Få dömda för Stockholmsupplopp’, Svenska Dagbladet, 29.07.13.

[50] Was im Falle von Kopenhagen die Situation anheizte, war der Mord an einem alten palästinensischen Mann in einem Stadtteil namens Nørrebro. Im Rahmen einer Polizeikontrolle am 8. Dezember 2007 wurde er zu Boden gestossen und dann mit Stöcken geschlagen. Zwischen dem 9. und dem 16. Februar 2008 wurden etwa 30 Autos und zehn Schulen in verschiedenen dänischen Städten in Brand gesetzt, in erster Linie in Kopenhagen und Århus, aber auch in Slagelse, Ringsted, Kokkedal, Nivå, Birkerød, Albertslund, Tingbjerg und Kalundborg. Siehe Kim Ingemann, ‘De nye kampe for anerkendelse’, 23.06.11.

[51] England ist wahrscheinlich eher mit Schweden vergleichbar, obwohl eine intensive und lang andauernde Sparpolitik dort das Sozialwesen radikaler verändert hat als in Schweden. Trotzdem standen während und nach den Ausschreitungen 2011 soziale Fragen wie Wohnen, Jugendzentren usw., doch auch die ethnische Frage und die damit zusammenhängende Polizeiarbeit im Zentrum der öffentlichen Debatte. Zudem sind öffentliche Wohnungen und Mieten ein grosses Thema in Kämpfen in den letzten Jahren gewesen, besonders in London. In Griechenland gab es allerdings nie einen Wohlfahrtsstaat in der Form, wie er in Westeuropa existierte. Das „Sozialwesen“ in Griechenland tendiert dazu, durch ausgedehnte Familienbeziehungen und kleines Privateigentum, Klientelismus und einen übertrieben grossen, durch sehr tiefe Arbeitsintensität und Produktivität charakterisierten öffentlichen Sektor vermittelt zu werden.

[52] Während in Paris die Begegnung zwischen Ausschreitungen und Aktivismus in Tat und Wahrheit die Begegnung von Kindern der Vorstädte und Universitätsstudenten, von zwei verschiedenen Welten war, kommen die Aktivisten von Megafonen, Pantrarna usw. aus den gleichen Vorstädten wie die rassialisierten jungen Randalierer.

[53] In den öffentlichen Debatten war die unmittelbar auf die Ausschreitungen von Stockholm von 2013 folgende Zeit eine Art Hexenjagd, in welcher die widersprüchlichsten Urteile existierten. Megafonen wurde z.B. wegen der von der Gruppe organisierten Demonstration gegen Polizeigewalt beschuldigt, zu Ausschreitungen anzustacheln, während ein hirntoter Blogartikel des Journalisten Joakim Lamotte behauptete, die Ausschreitungen seien ausgelöst worden, weil Journalisten (natürlich andere als er selbst) lokale Jugendliche bezahlen würden, um Autos anzuzünden, was schnell zu einem weit verbreiteten Gerücht wurde. Das Vakuum, wovon wir sprechen, und der daraus folgende Mangel an anerkannten Kampfinstitutionen ist also auch ideologischer Natur. Nicht dass alle Ideensysteme tot wären, doch weil Praktiken, welche mit dem normalen Gang des alltäglichen Lebens brechen, im alltäglichen Bewusstsein nicht verstanden werden können, existieren sie nur als Gemeinplatz für paranoide Projektionen und nervöse Verdrängung.

[54] Wir verdanken diese Unterscheidung zwischen Konstitution und Reproduktion einer der vielen Formulierungen des Konzepts der Diskrepanz (l’écart) von Théorie communiste. Siehe ‘Théorie de l’écart’, Théorie Communiste Nr. 20, September 2005, S. 11.

[55] ‘Polis misstänker ”yrkesaktivister”’, Svenska Dagbladet, 25.05.13.

[56] Hier sollten wir einen grossen Unterschied zwischen den südlichen und den nördlichen europäischen Ländern beachten: In den ersteren sind sogar die Mehrheitsbevölkerungen Opfer drastischer Verarmung geworden, in Griechenland und Portugal mehr als in Italien und Spanien. Die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland beträgt z.B. 57.3%, 54.9% in Spanien, 41.8% in Italien und 34.8% in Portugal (siehe ‘Table 1: Youth unemployment figures, 2011-2013Q4 (%)’, im Artikel von Eurostat ‘Unemployment statistics’ [konsultiert im November 2014]). 200 000 Portugiesen zwischen 20 und 40 haben das Land seit 2010 Richtung Norden verlassen. Während wir in diesem Zusammenhang in Griechenland und Spanien den Aufstieg von gewissen „radikal“ linken Kräften beobachten können, hat in Frankreich, in England und in Schweden die populistische (einwanderungsfeindliche) Rechte Rückenwind.