Das große Aufbäumen

Erstveröffentlicht: 
05.05.2015

Im blühenden Leipziger Szene-Stadtteil Connewitz kämpft die linke Subkultur um ihre Wurzeln - mit kreativer Energie, aber auch mit Teerbomben.

 

Von Ulrike Nimz und Cornelius Pollmer, Leipzig


Der Baum brennt. Klingt wie eine Redewendung. Aber in Connewitz brannte der Baum wirklich. Und als der Baum brannte, war das Viertel in Aufruhr. War ja nicht irgendein Baum, war ja der Baum, auf der Verkehrsinsel direkt am Connewitzer Kreuz, im Süden von Leipzig. Während der Völkerschlacht, 1813, hatten sich hier Napoleons Truppen verschanzt. Erschöpften Punkern diente die Platane als Schattenspender und manchmal als Pisssäule. Anderen war sie Sichtschutz gegen die Überwachungskamera, die hier die Szenerie aufnimmt. Denn es brennt öfter in Connewitz. Mülltonnen meist, selten ein Auto, manche sagen: die Luft. Noch immer werden Schlachten geschlagen im Viertel, zu Silvester oder am 1. Mai. Es geht gegen den Polizeiposten, gegen das Establishment, manchmal nur um das Dagegen.

 

Wenn die Leute wegen Pegida sagen, Sachsen sei verloren, an Fremdenfeinde und anderweitig Besorgte, dann darf man ihnen auch Connewitz entgegenhalten. Das Viertel ist zum Mythos geworden, eine Echokammer für linke Utopien und Besetzerträume, ähnlich dem Schanzenviertel in Hamburg oder Berlin-Kreuzberg. Eine Anarcho-Insel im Kleingarten- und Kleinbürgerreich der CDU. Seit 25 Jahren nun ist Sachsen schwarz, im August 2014 gewannen die Christdemokraten fast alle Direktmandate. Nur in Leipzig war da ein einzelner, dunkelroter Klecks.

 

Juliane Nagel, 36, wirkt ruhig, ohne verschlossen zu sein. Sie kann überzeugen, aber oft ist da ein Suchen in ihren Sätzen. Sie ist, irgendwie, angenehm normal - verblüffend für jemanden, der von der Öffentlichkeit in Extremen wahrgenommen wird, als paradelinker Superstar oder als Schutzunheilige der Steinewerfer.

 

Ein einsamer dunkelroter Fleck mitten im schwarzen Sachsen

 

Bei der Landtagswahl lag die Linken-Politikerin drei Prozent vor dem Mann von der CDU, in Connewitz holte sie fast 40 Prozent der Erststimmen. Was sie dazu sagt? "Schon krass." Nagel sagt auch, ihr Ergebnis zeige, "dass eben nicht alles stromlinienförmig sein muss, dass Widerspruch auch zu Erfolg führen kann". Aber der Erfolg hat seinen Preis: Juliane Nagel wird von einigen nun noch mehr mit allem assoziiert, was in Connewitz vor sich geht, auch mit der Randale. "Egal, was hier passiert, und wenn nur eine Mülltonne umfällt, dann steht mein Name in den Kommentarspalten." Noch mal zu den Extremen. Für viele ist Nagel, die sich seit Jahren in und für Connewitz engagiert, hier aufgewachsen ist, ein ideales Beispiel für das Funktionieren repräsentativer Demokratie. Sie sitzt im Landtag, aber wenn man mit ihr durch ihr Viertel spaziert, wird sie alle paar Hundert Meter von irgendwem angehauen, als wäre sie die Hausmeisterin des ganzen Quartiers. Für viele andere ist Nagel eine Gesandte des Mobs. Bei Gelegenheit erinnert man gerne daran, dass Nagel selbst schon mal in den Infight mit dem Gesetz geraten ist, vor 15 Jahren soll sie einen Polizisten getreten haben. Dass Nagel überhaupt in diese bipolare Wahrnehmungsstörung geraten ist, liegt aber weniger an ihr als an dem Ort, für den sie steht.

 

Der Mythos, er wird geboren in Flammen und Rauch, nach dem Fall der großen Mauer 1989. Connewitz Anfang der Neunziger, das ist Anarchie, nicht enden wollende Adoleszenz, die große Freiheit. In bröckelnder Bausubstanz nistet sich Leben ein, Künstler, Revoluzzer, Menschen, die man in der DDR wohl als "asozial" bezeichnet hätte. Dabei nehmen sie den einstigen FDJ-Schlager "Bau auf, bau auf" tatsächlich ernst. Die Leipziger Volkszeitung nennt das Viertel alsbald "Leipzigs Montmartre". Es ist aber auch die Zeit der Überfälle. Es ist die Zeit der Unfälle. Menschen stürzen vom Dach, nicht immer ist klar, ob sie geschubst worden, gestolpert oder gesprungen sind. Eine Polizistin schießt während einer Straßenschlacht einem Malerlehrling in den Bauch. Der Hausbesetzer Steffen Thüm wird aus einem fahrenden Auto heraus erschossen, als es gerade mal wieder darum geht, das Viertel zu verteidigen, gegen die Polizei, gegen Neonazis, gegen Halbstarke, die Halbwelt. Heute ist es ruhiger geworden. Wer eine Party besucht, riskiert nicht mehr viel, außer einen Kater.

 

Aus besetzten Häusern wurden umzäunte Anwesen im Bauhausstil

 

Connewitz, das einstige Sackgassendorf, grenzt an den Auwald und ist eines der grünsten Viertel Leipzigs, aber nicht länger eines der günstigen. Aus besetzten Häusern sind Stadthäuser geworden: Bauhausstil, Schießschartenfenster, Zäune. Für viele Freigeister im Viertel ein Affront. Ein paar Straßen weiter ist eine Grünfläche jüngst im Schutz der Nacht in "Ulrike Meinhof Park" umbenannt worden, das Grundstück soll für etwa 2,2 Millionen Euro verkauft werden. Was Parteien wie die AfD empört, firmiert hier unter kreativem Protest. Manchmal aber klatschen Teerbomben an frisch verputzte Fassaden. Manchmal fliegen Steine in die Scheiben der Polizeiwache.

 

Juliane Nagel distanziert sich von gewalttätigem Widerstand, "dadurch wird demokratische Kritik sabotiert und das schlägt auf alle zurück". Und doch ist da Verständnis zu spüren für den Anspruch, das Viertel, so wie es ist, zu erhalten. Bleibt lediglich die Frage, mit welchen Mitteln dieser Anspruch durchgesetzt wird, und ob Stadt und Polizei dabei einfach so zuschauen. Zuschauen, so viel ist klar, tun sie schon länger. Die Kamera am Connewitzer Kreuz filmt seit mehr als zehn Jahren. 2010 schmückte eine Aktionsgruppe namens "Das Internationale Rotzlöffeltum" die benachbarte Platane mit Regenschirmen, um die "Schirmherrschaft" über das Viertel zu übernehmen und gegen Videoüberwachung zu protestieren. Vergangenes Jahr wurde in einem leer stehenden Haus eine weitere Kamera nur entdeckt, weil eines der Fenster verdächtig geputzt erschien. Das Auge der Kamera war auf "Frau Krause" gerichtet, eine dieser Absturzkneipen, wo als mutig gilt, wer etwas anderes als Schnaps oder Bier bestellt. 1999 zapfte der Verfassungsschutz im Conne Island, einem linken Kulturzentrum, über mehrere Monate die Telefone an, las die Post mit. Im selben Jahr zeichnete Wolfgang Thierse die Einrichtung für das Engagement gegen Rechtsextremismus aus.

 

Das sagenumwobene Conne Island liegt an der Peripherie, hinter Bäumen. Wer es betritt, tut das durch einen Schlund, draußen an die Tür gesprayt, wie bei einer Geisterbahn. Viele hat er geschluckt, an sein pumpendes Herz geführt und im Morgengrauen wieder ausgespien, dieser Flachbau im Leipziger Süden, wo nach der Wende alles zusammenkam, was anders war und anders sein wollte. Heute gibt es einen Skate-Park, eine Bibliothek, noch immer legendäre Konzerte und Hausverbot für Rassisten, Sexisten, Stressmacher.

 

Im Raum hinter der Bühne hat eine Faust ein Loch in der Wand hinterlassen, ein Stift die üblichen Pimmelkritzeleien, die ja so etwas wie die Höhlenmalerei der Clubkultur sind. Dieser Raum ist Geschichte und Grape ihr Erzähler. Grape, 45, schwarze Fliegerjacke, das Haar zurückgekämmt, trinkt nicht, raucht nicht. Damit ist er hier so etwas wie ein Vegetarier im Schlachthaus. Er heißt natürlich anders, aber zu DDR-Zeiten habe das Sinn gehabt, sagt er: Wer nur den Spitznamen seiner Kumpels kennt, kann sie schlecht verpfeifen. Grape war lange der Koch des Conne Island, übernahm später den Tresen, jetzt macht er hier eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann. Er ist der Letzte aus der Gründergeneration. Viele haben sich in ein bürgerliches Leben verabschiedet, einige ganz. Auch Grape ist schon einmal gestorben, fast. Ein Aortenaneurysma zu überleben, ist in etwa so wahrscheinlich, wie bei einem Die Ärzte-Konzert Tickets an der Abendkasse zu bekommen. "Zwei Schachteln am Tag, der Schnaps und vier Jobs", erzählt Grape von der Zeit, als die Nacht den Tag fraß. Noch immer ist sein Gang der eines Matrosen bei rauer See. Doch wenn man ihn fragt, welche Bands spielten, als der Saal nur aus Armen und Beinen zu bestehen schien, zählt er sie auf wie andere die Namen ihrer Kinder: Gorilla Biscuits, Neurosis, Tocotronic. Als Farin Urlaub, Sänger eben jener Die Ärzte, 1995 den spontanen Wunsch verspürte, ein weißes Pferd zu reiten, wurde eines an der nahe gelegenen Rennbahn ausgeliehen. So ein Club ist das.

 

Um den Szeneclub Conne Island zu erhalten, wurde sogar das Rathaus besetzt

 

Bevor das Conne Island Vergnügungspark der Subkultur wurde, war es Ausfluglokal, Treffpunkt der Hitlerjugend, später der FDJ. Als der Laden 1991 von der Stadt verkauft werden sollte, besetzten Jugendliche das Rathaus, warfen solange mit Papierschnipseln um sich, bis klar war, wem der Club gehört. Auf einem Plakat soll zu lesen gewesen sein: "Kommt nicht ein Teil der Kultur in unsere Hand, dann setzen wir die Stadt in Brand." Parolen wie diese sind der Boden, in dem der Mythos wurzelt. Was den einen Rebellion und Freiheitsdrang, ist den anderen Chaos und Zusammenrottung. Jeder erzählt die Geschichte anders.

 

Natürlich gibt es auch Theorien zum Tod der Platane. Toilettenpapierrollen, über die Hochspannungsleitung der Straßenbahn geworfen, lösten den Brand aus, heißt es. Andere wittern ein Komplott, sie sagen, so ein Stamm brenne nicht lichterloh, bloß weil einer dran zündele - Brandbeschleuniger soll im Spiel gewesen sein. So oder so, nicht untypisch für Connewitz, die Aktion: Ein Anschlag vielleicht, wahrscheinlicher aber ein Schabernack, der aus dem Ruder lief.

 

Als Juliane Nagel am Stumpf vorbeiläuft, kommt der Chef einer Currybude des Weges: "Na, Frau Abgeordnete, wann kriegen wir denn nen neuen Baum?" Nagel sagt, dass schon gesammelt wird, und dass man für den einen abgefackelten Baum gleich zwei neue pflanzen will. Man darf darin eine Botschaft erkennen, eine Botschaft des Widerstands: Fackelt ein Baum ab, kommen zwei nach. Don't hassle the Hydra. Zum anderen ist es natürlich so, dass auch der Widerstand mal zur Ruhe kommen muss. Und zwischen zwei Bäumen, sagt Nagel, da lasse sich doch prima eine Hängematte spannen.