Im Osten viel Neues

Erstveröffentlicht: 
11.12.2013

Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts war der Stadtteil Schöneweide ein Industriestandort. Doch nach dem Fall der Mauer machte sich dort tiefe Depression breit. Nun kehrt in dem am Wasser gelegenen Stadtteil neues Leben ein.

 

Christian Hunziker, Berlin

Thorsten Knaak steht in der Halle des ehemaligen Abspannwerks in der Wilhelminenhofstrasse und schwärmt von seinem neuen Firmendomizil. «Die Halle hat einen Charme, wie ihn Künstler mögen», sagt der Ziseleurmeister, der sich nach vielen Jahren bei der renommierten Berliner Bronzegiesserei Noack selbständig gemacht hat. Mitten in der 1933 errichteten Halle befinden sich eine alte Krananlage und Schilder mit für den Laien rätselhaften Texten wie «Eigenbedarfs-Verteilung» und «Telefonbatterien», die an die frühere Nutzung als Abspannwerk erinnern. Dabei hat seit fast zwanzig Jahren kein Arbeiter mehr die Halle betreten. Damals, wenige Jahre nach der deutschen Vereinigung, endete die Nutzung für die Stromversorgung.


Ein Stück Industriegeschichte

Es war nicht die einzige Veränderung in Oberschöneweide, jenem Berliner Stadtteil, in dem Knaak jetzt seine Kunstgiesserei aufbaut. Nach der Wende brachen hier innerhalb weniger Jahre Tausende von Arbeitsplätzen weg. Dabei war der an der Spree gelegene Stadtteil einst eines der bekanntesten industriellen Zentren Europas gewesen: 1897 ging in der damals noch selbständigen Gemeinde eines der ersten Drehstromkraftwerke Deutschlands ans Netz, und ein Jahr später nahm Emil Rathenau, der Gründer der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG), mit dem Kabelwerk Oberspree seine erste Fabrik in Oberschöneweide in Betrieb. In den folgenden Jahren kamen weitere hinzu, darunter die Produktionsstätte der Neuen Automobil-Gesellschaft, deren vom AEG-Hausarchitekten Peter Behrens entworfener Turm bis heute das Bild von Oberschöneweide prägt.

 

Ohnehin ist es erstaunlich, wie viel Bausubstanz zwei Weltkriege und vier politische Systeme überstanden hat. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs übernahmen mehrere Volkseigene Betriebe (VEB) die Industriekomplexe, so dass insgesamt mehr als 30 000 Personen mit der Produktion und dem Vertrieb von Kabeltrommeln, Transformatoren, Fernsehröhren und anderen Industrieprodukten beschäftigt waren. Nach dem Ende der DDR aber waren die Fabriken nicht mehr konkurrenzfähig. Schon im Jahr 2000 gab es in Oberschöneweide nur noch 3500 Industriearbeitsplätze. Und als 2005 auch noch der südkoreanische Konzern Samsung seine Produktion von Fernsehern einstellte, schien sich die populäre Verballhornung von Oberschöneweide als Oberschweineöde endgültig bewahrheitet zu haben.


Elektropolis

Dass jetzt Unternehmer wie Thorsten Knaak in Oberschöneweide aktiv werden, zeigt, dass sich das Image des Stadtteils zu wandeln beginnt. «Schöneweide entwickelt sich zu einem urbanen Standort für Technologie und Wissenstransfer», formuliert es Thomas Niemeyer, Leiter des Regionalmanagements Berlin Schöneweide. Seit 2011 verfolgt seine hauptsächlich durch öffentliche Gelder finanzierte Einrichtung das Ziel, Schöneweide wirtschaftlich attraktiv zu machen und Firmen für den Stadtteil zu gewinnen. Dabei knüpfen Niemeyer und sein Team an die Geschichte des Ortes an, die oft mit dem Stichwort Elektropolis bezeichnet wird. «Wir wollen als Standort selbstbewusster werden», sagt Niemeyer. Grund für das Selbstbewusstsein sieht er nicht nur in der eindrucksvollen Vergangenheit, sondern auch in der Lage – Schöneweide befindet sich nämlich an der Strecke vom künftigen Hauptstadtflughafen zur Innenstadt. «Durch den Flughafen», ist der Leiter des Regionalmanagements überzeugt, «rückt der Fokus auf den Südosten Berlins.» Darüber hinaus biete Schöneweide zudem architektonische und landschaftliche Schönheit.


«Was soll ich hier draussen?»

Diese Schönheit gibt sich allerdings nicht auf den ersten Blick zu erkennen. «Als ich 2004 erstmals nach Schöneweide kam, war meine erste Reaktion: Was soll ich hier draussen?», berichtet der Rechtsanwalt und Immobilienunternehmer Sven Herrmann, dem ein Teil der ehemaligen Transformatorenfabrik gehört. Damals, vor fast zehn Jahren, sah sich Herrmann auf der Suche nach einem Standort für Galerien und Kunstsammler dem «Inbegriff von nichts» gegenüber. Dass er sich trotzdem als Investor in Schöneweide engagiert hat, begründet Herrmann mit der alten Industriearchitektur und der Lage am Wasser. «Ich sah das Potenzial und war überzeugt, dass dieses Potenzial Kreative herausfordert», sagt Herrmann und verweist dabei auf die vergleichbare Entwicklung im ehemaligen Industriequartier Zürich-West.