Spitzel müssen sich outen

Erstveröffentlicht: 
07.11.2013

Göttinger Verwaltungsgericht stärkt Grundrecht auf Versammlungsfreiheit: Zivilpolizisten dürfen bei Demos nicht unerkannt observieren. Atomkraftgegner hatten geklagt

 

 

Die Anti-Atom-Initiative Göttingen hat einen bedeutenden Erfolg vor Gericht erzielt: In Niedersachsen müssen sich Zivilbeamte der Polizei, die Demonstrationen und Kundgebungen überwachen, gegenüber der Versammlungsleitung künftig als solche zu erkennen geben. Das gilt für jeden der eingesetzten Polizisten, entschied das am späten Mittwoch nachmittag (Az: 1 A 98/12).

Seit der Atomkatastrophe von Fukushima veranstaltet die Anti-Atom-Initiative einmal im Monat eine Mahnwache in der Göttinger Innenstadt. Neben Uniformierten waren meist auch zivile Beamte zugegen. Sie outeten sich aber nicht als Polizisten, sondern erweckten – Kaffee trinkend oder telefonierend – den Eindruck, als seien sie nur Passanten. Gegen diese Praxis – konkret ging es um drei Mahnwachen im Herbst 2011 – klagte die Anmelderin der Mahnwachen.

Ihr Rechtsanwalt Johannes Hentschel argumentierte in dem Verfahren zweigleisig: Wenn sie sich nicht zu erkennen geben, verstoße die Anwesenheit von Zivilpolizisten bei Demonstrationen gegen das Niedersächsische Versammlungsgesetz. Darin sei klar festgelegt, daß sich alle Polizisten gegenüber der Versammlungsleitung zu erkennen geben müßten. Dies gelte auch für in Zivilkleidung auftretende Kräfte.

Außerdem sei die Anwesenheit verdeckter Ermittler ein Verstoß gegen Artikel acht des Grundgesetzes, so der Anwalt. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit werde beeinträchtigt, weil die heimliche Observation von der Teilnahme an Kundgebungen abschrecke und es Bürgern schwer mache, unbeschwert ihr Recht auf Meinungsfreiheit auszuüben.

Der Prozeßvertreter der Polizeidirektion Göttingen, Matthias Scholze, hielt dagegen: Göttingen habe »das Poten­tial, daß Versammlungen eine extremistische Richtung nehmen können«. Deshalb müsse zunächst jede Versammlung von den Behörden überwacht werden. Die zivil gekleideten Beamten sollten unerkannt bleiben, eben weil sie »in der Szene« agieren.

Wenn sich die Polizei der Versammlungsleitung gegenüber ganz allgemein als anwesend zu erkennen gegeben habe, sei dem Versammlungsgesetz doch bereits Genüge getan, so Scholze. Das Niedersächsische Versammlungsgesetz sei da »zu eng formuliert«. An anderer Stelle seiner Einlassung sprach Scholze sogar von einem »redaktionellen Fehler« in dem Gesetzeswerk.

Das Gericht sah das anders und gab der Klage statt. Es orientierte sich am eindeutigen Wortlaut des Paragraphen elf. Darin heißt es: »Die Polizei kann bei Versammlungen unter freiem Himmel anwesend sein, wenn dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach diesem Gesetz erforderlich ist. Anwesende Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte haben sich der Leiterin oder dem Leiter zu erkennen zu geben.«

»Das Versammlungsrecht ist nicht irgendwas, das ist ein Grundrecht«, unterstrich der Vorsitzende Richter Thomas Smollich. Da es sich bundesweit um die erste Entscheidung zu diesem Thema handelt, ließ die Kammer eine Berufung zu.

Nach Angaben der Göttinger Initiative »Bürger beobachten Polizei und Justiz« waren nicht nur die Atomkraftgegner von der Observierung durch Zivilbeamte betroffen. So sei in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Versammlungen durch verdeckte Ermittler überwacht worden. Neben praktisch allen Demonstrationen und Kundgebungen des linken Spektrums treffe dies auch auf eine Demo anläßlich eines bundesweiten Bildungsstreik-Aktionstags sowie für eine Arbeitskampfaktion von ver.di für bessere Arbeitsbedingungen beim Discounter Netto zu. Linke, Piratenpartei, Grüne Jugend, die örtliche ver.di-Fachgruppe Einzelhandel und weitere Initiativen unterstützten denn auch die Klage der Anti-Atom-Initiative.