Gewalt gegen Demonstranten hat Teile der Jugend radikalisiert

Erstveröffentlicht: 
24.04.2013

Die Gewalt gegen Demonstranten hat Teile der ägyptischen Jugend radikalisiert / Ein Schwarzer Block bekämpft die Islamisten im Land mit deren Mitteln.


Er stand direkt daneben, als die Schüsse fielen. Ibrahim Daoud (Name geändert) und sein Freund Christi schoben Wache vor den Zelten auf dem Tahrirplatz. Stundenlang warteten sie darauf, dass die bärtigen Männer kämen, um wie in den Nächten zuvor die Zelte mit langen Messern aufzuschlitzen. Danach waren sie mit Knüppeln über die Aktivisten hergefallen. Doch in dieser Nacht blieb es ruhig. Ibrahim und Christi rauchten Kette, um sich wach zu halten. Plötzlich näherte sich ein Auto, die Scheiben heruntergekurbelt, obwohl es kühl war in der Novembernacht. Das Auto bremste neben den beiden, Ibrahim sah einen Blitz, dann fiel der Freund um. Sein Blut färbte den Staub auf dem Tahrirplatz rot.

Der Hass hat sich tief eingegraben in Ibrahims Seele. Er holt sein Handy aus der Hosentasche. Irgendwo zwischen "Eminem" und "FC Barcelona" hat er die Bilder abgespeichert. Eines zeigt ein blutüberströmtes Gesicht, an dem außer Rot kaum noch etwas zu erkennen ist. Dann ein zweites Bild, es zeigt den gewaschenen Leichnam auf einer Bahre mit zwei kreisrunden Löchern am Hals
Zu viele Bilder vom Tod hat Ibrahim Daoud seit der Revolution 2011 auf seinem Handy abgespeichert. Sie zeugen vom Terror gegen die jungen Revolutionäre auf dem Tahrirplatz. Er ist gerade 19 Jahre alt und war in den vergangenen zwei Jahren auf 20 Beerdigungen. Doch die Repression habe sich zu purer Mordlust gesteigert, seitdem der Muslimbruder Mohammed Mursi im Sommer 2012 an die Macht gekommen ist, sagt er. Jetzt sind es nicht mehr nur die Stiefelträger, die Jagd auf die Jugendlichen machen, sondern auch die Bärtigen.

Ibrahim Daoud spielt auf seinem Handy ein weiteres Video ab. Es zeigt Demonstranten, die hilflos Schutz suchen inmitten von ätzenden Tränengaswolken. Sie würgen und erbrechen sich auf die Schuhe. Einige klappen zusammen. Dann fallen wieder Schüsse. "An dem Tag haben sie Gika umgebracht auf der Mohammed-Mahmoud-Straße", sagt Ibrahim. Zwei Freunde erschossen an zwei Tagen: Der 19. und der 20. November 2012 haben Ibrahim Daoud für immer verändert. Und offenbar nicht nur ihn.

Von Alexandria an der Mittelmeerküste bis Port Said am Roten Meer haben sich seit Mitte November die Dinge grundlegend geändert. Die jugendlichen Anhänger der Revolution schlagen zurück. Schwarzmaskierte greifen die Polizei an, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Sie zünden die Parteizentralen der Muslimbrüder oder der Salafisten an und schlagen alles kurz und klein, was islamistisch ist. Wenn sich jetzt die Bärtigen versammeln, sind die Schwarzmaskierten schon da. Und auch sie haben mittlerweile Knüppel und lange Messer.

Kairos Altstadt gleicht einer von den Islamisten befreiten Zone. Die Jugend hat hier die Macht an sich gerissen. Bärte schmücken in der näheren Umgebung des Tahrirplatzes nur noch die Puppen, die am Strang von Ampeln und Bäumen baumeln. "Der Muslimbruder an den Galgen, der Salafist in die Hölle", haben sie auf die Puppen gepinselt. Auf dem Tahrirplatz steigt von den Zelten der Duft der Freiheit bisweilen als süße Marihuanawolke auf. Pärchen halten Händchen und Jungen und Mädchen schäkern in aller Öffentlichkeit, als wollten sie allen Anhängern der Geschlechtertrennung sagen: "Ihr könnt uns mal".

.Ibrahim Daoud ist stolz auf das, was die Regierung Anarchie nennt. Das ist nicht erstaunlich, denn er nennt sich selbst einen muslimischen Anarchisten. Darin liegt für ihn kein Widerspruch, nur die Islamisten würden den wahren Islam nicht verstehen. "Mohammed und Jesus waren selbst in erster Linie Revolutionäre, die für Gerechtigkeit gekämpft haben", sagt er.

Ende November haben die muslimischen Anarchisten mit ihren schwarzen Masken den Tahrirplatz mit Barrikaden gesichert. Die Polizei hält sich seitdem fern, die Islamisten ebenfalls, weil sie brutale Gegenwehr fürchten müssen. Die Vergewaltigungen von Demonstrantinnen haben aufgehört, seitdem die Schwarzmaskierten patrouillieren. Wenige Tage nach dem Tod von Christi und Gika hatte sich ein harter Kern von 22 jungen Männern und Frauen aus der Zeltstadt am Tahrir getroffen. Ihr Ziel war es, die alte revolutionäre Strategie zu ändern, und zwar komplett. Statt "friedlich, friedlich" zu rufen, während Polizei und Islamisten drauflosprügeln, sollte von nun an Gleiches mit Gleichem vergolten werden. Nur fehlte ein Name für die neue Bewegung zum Schutz des Tahrirplatzes. "Ich habe auf Youtube Videos gesehen von einem Schwarzen Block in Berlin. Die tragen schwarze Masken und schlagen sich am 1. Mai mit den Bullen und den Faschisten – genau wie wir", sagt Daoud.

Schwarze Wollmützen gibt es in Kairo im Winter an jeder Ecke zu kaufen, genau wie schwarze T-Shirts oder dunkle Hosen. Es braucht nicht viel, um dabei zu sein beim "Black Block". Zuerst waren es die 22 Freunde um Ibrahim Daoud. Im Dezember 2012 sprach sich herum, dass es geheimnisvolle Schwarzmaskierte gibt, die gezielt angreifen, sobald die Polizei oder Anhänger der Muslimbrüder anrücken. Über Facebook und Twitter verbreitete sich die Nachricht von den jungen Helden wie ein Lauffeuer über Ägypten.

Im Januar, nach den Urteilen gegen Fußballultras in Port Said, bildete sich eine besonders aggressive Zelle des Schwarzen Blocks in der aufständischen Stadt am Roten Meer. In Alexandria, wo einst die Islamisten viele Anhänger hatten, brannten nun die Parteizentralen der Muslimbrüder. Ibrahim Daoud spricht von 40 000 Kämpfern, die sich auf einer geheimen Facebook-Seite eingetragen haben. Jungen und Mädchen, alle im Teenageralter oder Anfang zwanzig.

Doch es können auch viel mehr sein. Mittlerweile verkaufen die Straßenhändler in der Kairoer Altstadt schwarze Wollmützen mit Augenschlitzen oder sogenannte Vendetta-Masken mit dem Guy-Fawkes-Gesicht. Die jungen Demonstranten brauchen nur zuzugreifen. Ein paar ägyptische Pfund sowie der Wille zur Gewalt reichen aus, um aus jedem jungen Ägypter einen Kämpfer des Schwarzen Blocks zu machen. Ein Molotowcocktail ist schnell gemixt. Ibrahim Daoud füllt die Flaschen in seiner kleinen Wohnung im Armenviertel Bulaq ab, steckt sie dann in seinen Rucksack zusammen mit der Wollmütze und einem Halstuch, das ihn gegen Tränengas schützen soll. Mit seinen nach hinten gebundenen Rastalocken und den abgeschnittenen Baggyhosen fällt Daoud im schmutzigen Graubraun der Straßen von Bulaq auf. Manche rufen ihm "Schwuler" hinterher. Aber das würden sie nur einmal machen, sagt Daoud.

In der U-Bahn spielt er nervös mit seinem Handy herum. Ein Flashmob ist geplant vor dem Sitz der Lokalregierung in Gizeh, der Nachbarstadt Kairos. Passiert etwas? Passiert nichts? Niemand weiß es. "Ich fände es gut, wenn es richtig knallen würde", sagt Daoud und meint es ernst.

Vor dem Regierungsgebäude stehen seit Monaten mit Helmen geschützte Sicherheitskräfte in Bereitschaft. Auf dem Gehsteig passiert zunächst wenig. Eine kleine Gruppe steht beieinander, skandiert Parolen gegen Mursi und die Muslimbrüder. Dann tauchen immer mehr Leute auf, steigen wie zufällig aus Bussen aus oder parken ihre Motorräder am Straßenrand. Die rasch wachsende Menschenmasse quillt auf die Straße, behindert den Verkehr. Das Hupkonzert der Autofahrer ist aber kein Zeichen der Missbilligung. Die Fahrer nicken den jungen Demonstranten zu, die Flugblätter durch die offenen Fenster ins Wageninnere werfen.

Die Wollmütze bleibt in Ibrahim Daouds Rucksack. Denn der Krawall bleibt aus, weil die Sicherheitskräfte passiv bleiben und die Islamisten nicht auftauchen. Der 19-Jährige verteilt bloß Flugblätter und schaut grimmig zu den Polizisten vor dem Palast. Sie sind kaum älter als er.

Der Hass, in seiner ganzen Schärfe ausgelöst durch Christis und Gikas Tod, hat Ibrahim Daoud verändert. Er fühlt sich jetzt als Teil einer großen Bewegung, die seine Wut teilt. Aber es ist auch einsamer um ihn geworden. Die Freundin hat ihn verlassen, weil sie nach wie vor an die friedliche Revolution glaubt und Gewalt ablehnt. Und damit ist sie nicht alleine. Ibrahim Daoud hat auch Freunde, die mit ihm demonstrieren gehen, es aber belassen wollen bei Flashmobs und Aufrufen zum zivilen Ungehorsam.

Abends treffen sie sich zum Shisharauchen und Diskutieren in einer Teestube in der Nähe vom Tahrirplatz. Die jungen Leute können sich die Preise in dem einfachen Café gerade noch leisten. Mohammed Mohsen (Name geändert) nennt seinen alten Freund Ibrahim im Scherz Che Guevara. "Was willst du mit deiner bewaffneten Revolution? Die Kubaner sind doch heute genauso unfrei wie früher", sagt er. Er halte es dagegen lieber nach wie vor mit Gandhi. "Indien ist eine Demokratie und alle Religionen werden dort respektiert", sagt er. Der 22-jährige Mohammed vermisst den alten Ibrahim, der wie er 2011 auf dem Tahrirplatz Gandhi nacheifern wollte. Ein Junge mit sanften braunen Augen, der Mangas zeichnet und ab und zu einen Joint raucht. Der neue Ibrahim mit dem Totenkopffeuerzeug und dem Anarchistenarmband gefällt ihm dagegen nicht.

Beide haben sich über den Fußball kennengelernt. Sie gehörten den Ultras des Kairoer Clubs Al Awy an. Bei den Spielen ist möglich, was junge Männer in Ägyptens konservativer Gesellschaft ansonsten vergeblich suchen: Außer Rand und Band zu sein. Das sucht der Freund jetzt bei den Anarchisten. "Manchmal mache ich mir Sorgen", sagt Mohammed Mohsen. "Ibrahim lebt gefährlich, und es scheint ihm Spaß zu machen."

.Die Ultras sind die wichtigsten Verbündeten des Schwarzen Blocks im Kampf gegen die Islamisten. Sie können schnell Massen von Anhängern mobilisieren. Ihre Bereitschaft, Rammbock und Speerspitze der Revolution zu sein, haben sie schon im Januar 2011 beim Sturz Hosni Mubaraks unter Beweis gestellt. In ihren Reihen sammelt sich ein Querschnitt der jungen männlichen Bevölkerung Ägyptens: perspektivlos und immer gegen diejenigen, die gerade an der Macht sind. Die Islamisten sind seit den Todesurteilen gegen Fußballfans im Zusammenhang mit dem Blutbad im Stadion von Port Said vor einem Jahr zum Todfeind der Ultras geworden.

Am Ende hat Ibrahim Daoud seinen Willen bekommen. Die Demokratieaktivisten ziehen aus Gizeh ab, die Ultras und der Schwarze Block halten in der Nacht Einzug. Die Straße vor dem Sitz der Lokalregierung wird blockiert, damit die hohen Herren mit den langen Bärten nicht mehr ein und aus können. Steine fliegen, und Ibrahim Daoud ist ganz vorne mit dabei, über dem Kopf die schwarze Maske. Die Augen blitzen vor Erregung aus den Löchern in der Wollmütze. Fast scheint es, als würde er das Tränengas herbeisehnen, das die Lider und den Rachen in Brand setzt. Er sagt, dass er keine Angst habe zu sterben. Aber ebenso sagt er, dass er mittlerweile auch bereit sei zu töten.

Schwarzer Block
Als Schwarzer Block werden gewaltbereite Demonstranten bezeichnet, die sich zur Wahrung der Identität vermummen und eine Art Uniform tragen. Die Demonstranten entstammen in der Regel der radikalen Linken, aber auch Rechtsradikale treten mitunter als Schwarzer Block auf. In Deutschland trat das Phänomen erstmals bei einer linksextremen Kundgebung zum 1. Mai in Frankfurt am Main auf. 2001 verwüstete ein Schwarzer Block Teile der Innenstadt Genuas im Protest gegen den G-8-Gipfel. Es gab damals einen Toten. Seit Mitte November 2012 bekämpft ein Schwarzer Block die Regierung von Mohammed Mursi und islamistische Gruppen in Ägypten.