[Paris] Von schlechten Absichten und falscher Gesinnung – Anarchist_innen vor Gericht

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Vom 14. bis zum 22. Mai 2012 fand in Paris der erste Anti-Terrorismus-Prozess in Frankreich gegen Personen statt, die der "anarcho-autonomen Bewegung" zugerechnet werden. Am 25.6. wurden sie zu Haftstrafen zwischen sechs und zwölf Monaten verurteilt.

 

Die sechs Angeklagten haben sich wie tausende andere an den verschiedenen sozialen Kämpfen der letzten Jahre beteiligt: der „Anti-CPE-Bewegung“ (Proteste gegen den „Ersteinstellungsvertrag“, der für Berufsanfänger_innen die Abschaffung des Kündigungsschutzes vorsah) im Frühjahr 2006, den Revolten während der Präsidentschaftswahlen von 2007, den Kämpfen für Bewegungsfreiheit und gegen die Inhaftierung von Migrant_innen ohne Papiere. Von unangemeldeten Demonstrationen bis zu Sabotageaktionen verließ der Konflikt, der in diesen Kämpfen zum Ausdruck gebracht wurde, oft den legalen Rahmen und die gewohnten gewerkschaftlichen und politischen Vermittlungs-bemühungen. Und wenn etwas in Bewegung kommt, ist der Staat darauf aus, einige zu bestrafen, um allen Angst zu machen: durch Polizei und Justiz versucht er, zwischen guten Demonstrant_innen und bösen Chaot_innen oder Terrorist_innen zu unterscheiden und die Aktionen aus ihrem Kontext zu reißen.

So versuchten der französische Staatsschutz und verschiedene Polizeieinheiten in einer fünf Jahre andauernden Ermittlung den sechs die gemeinsame Planung und Durchführung von Brandan-schlägen gegen Bahnsignalanlagen und ein Polizeifahrzeug nachzuweisen. Die Staatsanwaltschaft brachte sie schließlich als mutmaßliche Mitglieder einer terroristischen Vereinigung vor Gericht, der sogenannten „Anarcho-autonomen Bewegung des Großraums Paris“, kurz MAAF.  Die Betroffenen betonten, dass die MAAF selbst ein Konstrukt der Polizei sei und niemand je im Namen dieser angeblichen Gruppe gehandelt habe. Hinter der Namensgebung durch die Polizei steht eine repressive Strategie: Die MAAF wird zu einem Containerbegriff, um den Protest loszuwerden und soziale Bewegungen kleinzuhalten.


Zur Erinnerung...
Ivan, Bruno und Damien wurden im Januar 2008 auf dem Weg zu einer Demonstration vor dem Abschiebegefängnis in Vincennes im Besitz von Rauchpulver und Krähenfüßen (verbogene Nägel, die darüber fahrende Autos an einer Weiterfahrt hindern können) verhaftet, die für Justiz und Medien zu einer "Nagelbombe" werden. Ivan und Bruno kommen in Untersuchungshaft, Damien wird unter richterliche Aufsicht gestellt.
Einige Tage später werden Inès und Franck in einer Zollkontrolle in Vierzon im Besitz von Anleitungen zur Sabotage, Bauplänen von einem Jugendgefängnis und Chlorat festgenommen. Die Anti-Terrorismus-Abteilung greift den Fall auf. Die Polizei behauptet, dass Inès' DNA mit einer von fünf DNA-Spuren auf einer Tüte mit Benzin gefüllten Flaschen übereinstimmt, die in der Zeit zwischen den beiden Wahlgängen der Präsidentschaftswahl 2007 unter einem Abschleppwagen der Bullen aufgefunden wurde.
Schon bald werden beide Fälle zu einer Ermittlung unter der Zuständigkeit des gleichen Anti-Terror-Richters zusammengefasst. Die Polizei durchleuchtet das Umfeld der Festgenommenen und als "anarcho-autonom" erfasste Personen, um herauszufinden, wer sich hinter den fehlenden DNA verbirgt. Javier, Inès' Bruder, und Damien (der mit Ivan und Bruno verhaftet wurde) verbringen mehrere Monate im Gefängnis, weil auch ihre DNA mit den unter dem Abschleppwagen gefundenen angeblich übereinstimmen. Außerdem wird seit Juni 2010 gegen Javier wegen einer Serie von Brandanschlägen auf Signalanlagen ermittelt, die während der Kämpfe gegen den Ersteinstellungsvertrag im Jahr 2006 Teile des Zugverkehrs lahmlegte. Seine DNA soll am Tatort einer versuchten Sabotage gefunden worden sein.
Inès, Javier, Damien, Ivan, Frank und Bruno haben jeweils zwischen fünf und 13 Monate in Haft verbracht und standen bis zur Verhandlung unter richterlichen Auflagen.

Der Prozess: schlechte Witze und wenige Erkenntnisse
Bruno, Ivan, Inès, Franck, Damien und Javier versuchten im Gerichtssaal, die Anklagepunkte in den politischen Kontext zu stellen,  der ihren Verhaftungen vor vier Jahren vorausgegangen war: Tausende Menschen waren auf den Straßen, dutzende Autos brannten und Züge wurden blockiert, ohne dass von Terrorismus die Rede gewesen war. Außerdem betonten sie, dass sie DNA-Spuren weder wissenschaftlich noch politisch als Beweise anerkennen.
Statt des politischen Kontextes interessierte sich das Gericht aber – erwartungsgemäß - für die persönliche politische Einstellung der Angeklagten. Die vorsitzende Richterin widmete sich deren Gesinnung in ausgiebigen Befragungen. Die Angeklagten wiesen dieses Vorgehen zurück. Javier brachte die Sache auf den Punkt: „Ich glaube nicht, dass hier der richtige Ort ist, meine politische Ideen zu besprechen. Wir können uns nicht auf Augenhöhe unterhalten.“

Beim Prozess wurde dann auch erstmals öffentlich, was oder wen die Polizei unter dem Begriff der MAAF zusammenfasst. Laut Prozessakten handele es sich um „ungefähr fünfzig Individuen zwischen 20 und 30 Jahren, zu denen nochmals 150 bis 200 Personen aus unterschiedlichen libertären Gruppen für gemeinsame Aktionen gegen die Polizei und den Kapitalismus hinzustoßen“. Diese vage Bestimmung macht vor allem eines deutlich: Anliegen der Ermittlungsbehörden ist es, lose organisierte polititisch Aktive aus Gründen der Strafverfolgung zu fassbaren Gruppen zusammenzuschließen, durch langwierige Anti-Terrorismus-Ermittlungen aufwendiger zu überwachen, länger in Untersuchungshaft zu behalten und ihre politischen Einstellungen selbst zum zentralen Bestandteil der Anklage zu machen. Ganz im Sinne einer upgedateten Vorstellung von terroristischer Organisierung veröffentlichte im Juni 2008 die Direktion des Inlandsgeheimdiensts ein Papier mit dem Titel „Vom Anti-CPE-Konflikt bis zur Bildung eines prä-terroristischem internationalen Netzwerk: Einblicke in die französische und europäische Ultralinke“. Darin klingt jener vage Arbeitsbegriff an, unter dem sich europäische Polizeibehörden zur Zeit über das Phänomen der „Euroanarchisten“ verständigen.
Außerdem wurde im Gericht vorgeführt, wie weit und aus repressiver Perspektive ungemein nützlich der von der französischen Gesetzgebung vorgesehene Terrorismus-Begriffs ist. Terroristisch ist, was „die öffentliche Ordnung durch Einschüchterung und Angst hochgradig gefährdet“. Und laut Olivier Christen, Leiter der Anti-Terrorismus-Abteilung der Staatanwaltschaft, genügten auch Sachbeschädigung den terroristischen Zielen der Einschüchterung und Angst. Er hielt am Vorwurf der terroristischen Vereinigung fest und war sich nicht zu dumm, selbst Indymedia als konspiratives Kommunikationsorgan und somit als Argument für das Bestehen einer Übereinkuft zwischen den „Anarcho-Autonomen“ anzuführen, was für kurzzeitige Belustigung unter den zahlreich zum Prozess erschienenen Unterstützer_innen sorgte.


Ansonsten gab es wie erwartet nicht viel zu lachen und schon bald wurde das Zuhören seiner Ausführungen gewohnt unangenehm. Etwa als Christen darlegte, dass es sich keinesfalls um einen politischen Prozess handele und genüsslich die Extremisten-Karte ausspielte: „Sobald Ideologie zur Sprache kommt, behaupten die Angeklagten, dass wir einen politischen Prozess führen würden. Aber dies ist kein politischer Prozess. Sie behaupten es, weil sie nicht auf die Fragen antworten oder sich wichtiger  machen wollen als sie sind. Wir sind nicht in Berlin von 1933 oder in Moskau 1936 oder in Peking. Frau Richterin, egal welcher politischen Strömung die Angeklagten nahe stehen, ob sie faschistisch, anarchistisch oder maoistisch sind, das ist es nicht, was uns interessiert.“ Dennoch baute er seine gesamte Anklage auf die Gesinnung: „Die Vergehen, so verschieden sie scheinen, verbinden sich miteinander in derselben terroristischen Unternehmung. Wenn die sechs Angeklagten sich auch auf keinerlei Gruppe beziehen, so sind die verfolgten Taten doch in einem gemeinsamen Ziel begangen worden: nämlich das der Destabilisierung des Staates.“ Um dann zynisch hinzuzufügen: „Nur weil ihnen das nicht gelungen ist, zählt dieses Ziel nicht weniger.“ Immerhin hätten sie durch versuchte Anschläge auf Signalanlagen in Kauf genommen, dass (laut Aussagen der Bahn) 20000 Menschen nicht rechtzeitig zur Arbeit gekommen wären, wenn der Brandsatz gezündet hätte. Andererseits mache der Bezug von staatlichen Sozialleistungen aller Angeklagten deutlich, dass sie „glücklich seien, in einem funktionierenden Staat zu leben“.
Für den Staatsanwalt Anlass genug, Bewährungsstrafen von bis zu drei Jahren und Haftstrafen zwischen einem Jahr und sechs Monaten zu fordern. In seinem am 25.6. verkündeten Urteil folgte das Gericht der Staatsanwaltschaft in fast allen Punkten -  Bruno, Ivan, Inès, Damien und Javier wurden zu Haftstrafen zwischen sechs und zwölf Monaten verurteilt, Franck wurde freigesprochen. Die Anklage der Bildung einer terroristischen Vereinigung wurde beibehalten. Allerdings haben alle fünf die verhängte Haft fast komplett schon in Untersuchungshaft abgesessen und müssen höchst-wahrscheinlich nicht zurück in den Knast. Die Ermittlungsbehörden dürften das Urteil trotzdem als eindeutige Ermutigung werten, auch Personen, die sich auf keinerlei Gruppe beziehen, als terroristische Vereinigung zu verfolgen.

Fünf Tage im Gericht – und so schlau wie vorher...
Am ersten Prozesstag war es in und vor dem Gerichtsgebäude zu einigem fröhlich-entschlossenen Tumult gekommen, als Unterstützer_innen ein Transparent mit der Aufschrift „Die Demokratie schließt weg und tötet, nieder mit dem Staat und dem Kapital“ entrollten und mit Slogans wie „Freiheit für alle, mit und ohne Papiere“, „Stein für Stein reißen wir die Knäste ein“ und „Freiheit für alle, mit und ohne Chlorat“  ihre Solidarität und ihre Wut zum Ausdruck brachten. Zwei Personen wurden kurzzeitig festgenommen, mussten aufgrund eines Verfahrensfehlers wieder freigelassen werden, ohne dass sie Angaben zu ihrer Person gemacht hatten.

In den folgenden Tagen stellte sich eine gewisse Routine ein: Die Angeklagten konzentrierten sich aufs Durchhalten, die Unterstützer_innen rückten auf den Besucherbänken eng zusammen, der Staatsschutz fotografierte und erweiterte seine Sammlung an „anarcho-autonomen“ Porträts, Staatsanwalt und Verteidiger_innen redeten sich warm, die Richterin blätterte in Aktenbergen und bohrte nach.
Es war die Erinnerung daran, dass es in solch durch und durch fremdbestimmten Situationen tatsächlich nicht viel zu gewinnen gibt, aber immer etwas zu verlieren. Weil er vieles von dem, was in Gerichtssälen und ähnlichen Örtlichkeiten passiert, sehr gut auf den Punkt bringt, sei hier abschließend aus dem Soliaufruf zum Prozessbeginn zitiert: „Schuld und Unschuld sind die beiden wichtigsten Konzepte, die täglich in den Büros der Staatsanwaltschaft und in den Gerichtssälen zum Einsatz kommen, um die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten. Diese Kategorien können nicht unsere sein. Der Versuch, gegenüber der Justiz seine Haut zu retten, bedeutet nicht den Verzicht auf eigene Ideen und Praktiken. Die Justiz zwingt uns ihren Rhythmus auf: Ermittlungen, Gefängnis, Auflagen, Strafprozess. Diese gerichtlich verfügte Zeit isoliert die Angeklagten nicht nur durch Hausarrest und Knast, sondern setzt sie dauerhaft unter Druck - zum Beispiel durch Auflagen, die es verbieten, einander zu sehen.


Die Anklage der „kriminellen oder terroristischen Vereinigung“, der „Bande“ und des „gemeinsamen Plans“ werden zunehmend als „erschwerende Umstände“ eingesetzt: Damit können Strafen erhöht und Menschen in ihrer Vereinzelung gehalten werden. Diese Logik liegt der Anti-Terror-Gesetzgebung zu Grunde, um je nach den politischen Interessen des Augenblicks Unruhestifter_innen von der Gesellschaft zu isolieren und jene Gedanken und Praktiken unschädlich zu machen, die außerhalb des institutionellen Rahmens liegen.
Was im Gerichtssaal passiert, ist keine zwischenmenschliche Beziehung zwischen den Angeklagten und den Richter_innen, sondern eine Konfrontation zwischen der Klasse der Besitzenden und den Ausgebeuteten, eine Konfrontation zwischen der Behörde und den Widerständigen. Solidarität heißt, an diesem Kampf teilzunehmen."