Notwehr oder Mordversuch?

Erstveröffentlicht: 
13.12.2011

Ein Offenburger Neonazi fährt auf einem Parkplatz bei Riegel einen Antifa-Aktivisten an. Absicht? Ein Anfall von Panik? Die Justiz ist ratlos.

 

Die erste Pressemitteilung der Polizei über einen Vorfall am Abend des 1. Oktober auf einem Parkplatz bei Riegel am Kaiserstuhl, nahe der Autobahn A5, im Anschlussbogen zur Landesstraße L 113, begann neutral: "Das Polizeirevier Emmendingen wurde am Samstagabend, gegen 19:15 Uhr, darüber in Kenntnis gesetzt, dass sich auf dem Pendlerparkplatz in Riegel ein schwerer Verkehrsunfall ereignet hat, bei dem eine Person durch einen Pkw angefahren wurde." Eigentlich, so konnte man zu diesem Zeitpunkt den Eindruck haben, hatte die Polizei das Geschehen bereits aufgeklärt: "Im Rahmen der sofort eingeleiteten Ermittlungen wurde bekannt", so war der Mitteilung zu entnehmen, "dass der auf dem Pendlerparkplatz zunächst wartende Autofahrer offensichtlich von einer größeren Gruppierung Vermummter angegriffen wurde." Dem Vernehmen nach sei der 29-Jährige daraufhin in Panik vom Parkplatz geflüchtet. In diesem Zusammenhang habe er einen der mutmaßlichen Angreifer mit seinem Fahrzeug erfasst.

Beigemischt wurde auch der angebliche Hintergrund der Tat. Bei den mutmaßlichen Angreifern, so berichteten die Beamten, habe es sich um Angehörige der linksextremen Szene gehandelt, der Unfallfahrer dagegen sei der rechten Szene zuzuordnen.

Lediglich eine unschöne Begegnung von feindlichen Radikalen also, nichts, was den braven Bürger interessieren müsste? Erst Tage später meldeten sich die angeblichen Angreifer zu Wort und beklagten einen "faschistischen Mordversuch". Genaueres war von der Freiburger Ortsgruppe der Antifa Linken zu erfahren: Ein "überregional bekannter Neonazi", so erklärten die Aktivisten, sei "gezielt" in eine Gruppe gefahren, die "einen Schleusungspunkt der Neonazis beobachteten".

Der 29-jährige Autofahrer aus Offenburg, so der Verdacht der Antifaschisten, habe geradezu auf eine solche Gelegenheit gewartet, gegen den politischen Feind vorzugehen. Per Facebook habe Florian S. zuvor mitgeteilt: "Ich warte ja nur drauf, dass einer mal angreift. Dann kann ich ihn endlich mal die Klinge fressen lassen."

Mittlerweile sind zwei Monate verstrichen und die Kriminalpolizei in Emmendingen hat "in alle Richtungen ermittelt", wie sie stereotyp behauptet. Erstaunlich ist nur, dass man sich dabei anscheinend sehr früh auf eine Hergangsversion festgelegt hat, die im Wesentlichen der Sicht des Autofahrers entspricht. Dieser hat auf seine Beschwerde hin auch sehr rasch den zunächst eingezogenen Führerschein wiederbekommen. Das Landgericht Freiburg hatte sich dabei auf die Version der Polizei gestützt: Der Mann wurde angegriffen, und er handelte wahrscheinlich in Panik.

Das schwer verletzte Opfer ist mittlerweile aus der Uniklinik entlassen, und seine Kumpels haben sich dazu überreden lassen, ihre anfängliche Aussageverweigerung zumindest teilweise aufzugeben. Die Staatsanwaltschaft hat den Rechtsanwälten jetzt Akteneinsicht gewährt und will nach deren Stellungnahmen entscheiden, wer und was angeklagt wird: Der rechtsradikale Autofahrer wegen versuchten Totschlags oder die Antifa-Aktivisten wegen Nötigung – oder alle zusammen.

Was genau ist da eigentlich passiert in Riegel am 1. Oktober abends, als es noch längst nicht dunkel war und der Sportclub Freiburg am 8. Spieltag der Saison gerade einen seiner wenigen Siege errungen hatte? "Das ist alles ganz schwierig und nicht restlos aufgeklärt" – das sagen wortgleich der Freiburger Oberstaatsanwalt Wolfgang Maier sowie Rechtsanwalt Jens Janssen, der den Angefahrenen vertritt. Ganz schlau geworden sind die beiden Juristen aus den Zeugenaussagen, Indizien und Umständen des Falls auch heute noch nicht. Ob es dem Anwalt der Gegenpartei ähnlich geht, war nicht herauszufinden. Der Rechtsvertreter von Florian S. war für die BZ zunächst nicht zu erreichen, inzwischen hat er, wie jetzt bekannt wurde, das Mandat abgegeben.

Fest steht, dass der aus Offenburg stammende Versicherungsmakler Florian S. um sieben Uhr abends auf dem Pendlerparkplatz stand, seinen silbernen Mitsubishi-Colt mit der Schnauze abfahrbereit in Richtung Straße. Der Mann ist kein Unbekannter, seitdem er im Wahlkreis Freiburg II versucht hat, für die NPD in den Landtag einzuziehen. Seine Aufgabe am 1. Oktober 2011 war es, von auswärts anreisende Gesinnungsgenossen zu einer Neonazifete in Bahlingen am Kaiserstuhl weiterzuleiten. Fest steht auch, dass kurz nach sieben Uhr auf der Fußgängerbrücke über den Leopoldskanal plötzlich sieben schwarz gekleidete Personen auf ihn zu kamen, die sich im Gehen Sturmhauben überzogen. Warum und was sie vorhatten, ist nicht bekannt, dazu schweigen die Beteiligten.

Auch die Unbeteiligten können das als Zeugen nicht aufklären; es gab Kinder, einen Radfahrer und eine in ihrem Auto wartende medizinische Fachkraft, die das Geschehen mehr oder weniger mitbekamen. Dass etwas passieren würde, ahnte die Frau im Auto, sie wollte eigentlich die Tür verriegeln, fand aber in der Aufregung den Knopf nicht. Dann ging wohl alles sehr schnell, der Colt fuhr nicht nach rechts auf die Straße, sondern in hoher Geschwindigkeit nach links auf die Gruppe der Ankömmlinge zu. Mit so hohem Tempo, dass zumindest einer aus der Gruppe nicht mehr ausweichen konnte.

Warum fuhr Florian S. in die falsche Richtung?

Spätestens jetzt gehen die Aussagen auseinander. Der angefahrene Antifaschist hat keine frontalen Beinverletzungen, auf der Motorhaube sind Spuren von Schuhsohlen, demnach könnte der 21-Jährige auf das Auto gesprungen sein. Er wurde jedenfalls über das Fahrzeug geschleudert, blieb schwer verletzt am Boden liegen und etliche Personen flohen vom Tatort. Der Neonazi fuhr mit kaputter Windschutzscheibe auf die Straße, hielt aber nach 200 Metern an, weil ihm zwei Beamte des Dezernats Staatsschutz der Emmendinger Kriminalpolizei im Auto entgegen kamen. Man kannte sich. Warum sie in der Nähe waren, ist unbekannt. Den Staatsschützern erzählte Florian S., es sei ihm eben ein Linker vors Auto gelaufen.

Die Beamten fuhren zum Tatort, später kehrte auch Florian S. dorthin zurück, er hatte mittlerweile Verstärkung bekommen. Auch die Linken waren, jetzt ohne Masken, zum verletzten Freund zurückgekehrt. Die feindlichen Personengruppen beschimpften sich heftig, die Polizei – inzwischen war ein Streifenwagen eingetroffen – musste eine Prügelei verhindern. Der Rest war Routine: Es wurden Personalien aufgenommen, Spuren gesichert, der Verletzte in die Klinik gefahren, dem Neonazi der Führerschein abgenommen, das Unfallauto beschlagnahmt.

Drei Monate nach dem Vorfall in Riegel erschüttern die Morde der Neonazibande aus Zwickau die Republik. Und sie werfen Fragen auf: Wann fing das mit denen an? Haben Polizei und Justiz versagt, waren sie auf dem rechten Auge blind oder zum Ermitteln zu bequem? Muss man angesichts dieser Geschehnisse auch das sich so lange hinziehende Riegeler Verfahren in einem neuen Licht sehen? "Mir fällt auf", sagt Rechtsanwalt Janssen als Vertreter des Angefahrenen, "dass die Person des beschuldigten Autofahrers nicht umfassend beleuchtet wird." Nicht nur die Gewaltphantasien im Facebook-Dialog, auch die selbstgebastelten Musikvideos, die er am 1. September ins Internet-Videoportal Youtube gestellt hat, sprechen in seinen Augen für eine mehr als nur latente Gewaltbereitschaft. Dort hängt ein singender Florian S. an den Refrain von "Oh du schö-hö-höner Westerwald" zum Beispiel den antisemitischen Zusatz: "Haut den Jud vom Fahrrad!" Die Staatsanwaltschaft hat gerade Ermittlungen wegen Volksverhetzung eingeleitet.

Der Neonazi steht zudem unter Bewährung, seitdem er im April 2010 wegen gemeinschaftlich begangener schwerer Körperverletzung zu sieben Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden ist.

Was ist es also gewesen in Riegel im Oktober? Notwehr oder Mordversuch? Ein tragischer Unfall oder eine günstige Gelegenheit, Blut fließen zu lassen? Rechtsanwalt Janssen sieht genügend Indizien dafür, dass der unbestritten rechtsradikale Autofahrer vorsätzlich in die Gruppe der Antifaschisten hineinfuhr, statt zu fliehen und dorthin zu fahren, wohin die Autoschnauze ohnehin schon zeigte, Richtung Straße. Und die Vermummten? Was wollten sie eigentlich? Haben sie sich auf ein Räuber-und-Gendarm-Spiel eingelassen, ohne zu bedenken, was dabei herauskommen könnte? Linke betonen oft genug, wie gewaltbereit Neonazis sind. Es ist fatal, wenn man der eigenen Propaganda nicht glaubt.