kritisch-lesen.de Augabe 10 erschienen: "Überschneidungen von Unterdrückungen"

Kreuzung Jörg Möller

Heute erschien die 10. Ausgabe von kritisch-lesen.de. Schwerpunkt diesmal: "Überschneidungen von Unterdrückungen".

In dieser Ausgabe geht es um verschiedene Unterdrückungsverhältnisse, den Versuch, ihre unterschiedlichen Funktionsmechanismen zu erfassen, sie trotz ihrer Verwobenheit analytisch zu trennen und sie dann wieder zusammen zu führen, denn eine Unterdrückungsform kommt nicht einzeln vor, sondern ist häufig mit anderen verknüpft.

 

So kann zum Beispiel eine weiße katholische Kassiererin sowohl sexistisch als auch aufgrund ihrer Klassenposition unterdrückt werden. Es handelt sich dabei aber nicht einfach um eine Aufaddierung von Unterdrückungen, sondern vielmehr darum, wie sie ineinander greifen, sich gegenseitig beeinflussen und verstärken.

 

Ein Ereignis, in der das Zusammenspiel verschiedener Unterdrückungsverhältnisse deutlich wurde, ist die „Sarrazindebatte“ im Herbst 2010. Sowohl bei Sarrazin als auch in der anschließenden Debatte wurde kapitalistische Verwertungslogik mit genetischem und kulturellem Rassismus verknüpft, beide Argumentationsmuster stützten sich gegenseitig. Dazu erschien jüngst der Sammelband Rassismus in der Leistungsgesellschaft, der in dieser Ausgabe von Siegfried Jäger als “wichtiger und äußerst verdienstvoller Beitrag” bezeichnet wird. Verschränkungen von Kapitalismus und Rassismus sind kein durch die „Sarrazindebatte“ neu entstandenes Phänomen, sondern unterliegen einer Kontinuität, die zum Beispiel auch in der Trennung von Wirtschaftsflüchtlingen und politischen Flüchtlingen ihren Ausdruck fand und findet.

 

Einen Ansatz, Ungleichheitsdimensionen und ihre Überschneidungen darzulegen und zu analysieren, bietet das Konzept der Intersektionalität. Mit diesem beschäftigt sich die Rezension Über die Verflechtung von Herrschaftsverhältnissen von Peps Perdu. Forschung zur Intersektionalität befindet sich im deutschsprachigen Raum zwar noch am Anfang, dennoch verwiesen Debatten innerhalb der feministischen Bewegung schon ab den 1970er Jahren auf das Zusammendenken unterschiedlicher Unterdrückungsformen. Der Zusammenhang von Rassismus und Kapitalismus aus dieser Perspektive heraus wurde im deutschsprachigen Raum insbesondere ab Anfang der 1990er Jahre diskutiert. Aus dieser Debatte dokumentieren wir zwei Rezensionen von Detelef Georgia Schulze und Antke Engel zu den Büchern Scheidelinien von Anja Meulenbelt und Entfernte Verbindungen, herausgegeben von May Ayim u.a. Es zeigt sich, dass bereits damals Themen diskutiert wurden, die bis heute ganz oben auf der Agenda stehen. In seiner Rezension Antiklassistische Perspektiven zu „Klassismus“ unterstreicht Sebastian Friedrich die intersektionale Perspektive. Er kommt zu dem Schluss, dass das Bändchen viele Anstöße für die Auseinandersetzung um Klassismus liefert und fordert zugleich, Antiklassismus nicht von Antikapitalismus zu trennen.

 

Außerdem diesmal: Unter dem Titel „Im Griff der Medien“ fand im Herbst 2010 das alljährliche Kolloquium des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialwissenschaften (DISS) statt. Dem gleichnamigen Sammelband widmet sich Chantal Stauder in Wenn Medien ihre Macht missbrauchen und lobt darin die vielschichtigen Auseinandersetzungen zum Umgang von Medien mit Ausnahmesituationen und ihrem Anteil an der Produktion dieser. Das Thema der Angst spielt hier, wie auch in Adi Quartis Rezension Geschwindigkeit und Angst eine große Rolle. In seiner Rezension zu Paul Virilios „Die Verwaltung der Angst“ streicht Quarti die Produktion der Angst als Effekt des technologischen Fortschritts heraus.

 

Das mediale Feiern seiner „Heiligkeit“ zum Papstbesuch mag für viele Bevölkerungsgruppen schon zynisch daher gekommen sein, zumal die rigide Geschlechterpolitik der katholischen Kirche mal wieder nur marginal Thema war. Hierzu gehört beispielsweise auch der (nicht nur kirchliche Umgang) mit intersexuellen Personen, dem sich Anja Gregor in Im Zweifel für den Zweifel annimmt. Dass Katholizismus und Anarchismus nicht völlig unvereinbar sind, zeigt Sebastian Kalicha in Zwischen Kropotkin und Papst – eine Rezension zur Biographie von Dorothy Day. Mit einer speziellen Form des Glaubens beschäftigt sich Gabriel Kuhn in Es sieht düster aus: Im Buch „Gegenaufklärung“ wird versucht, den Poststrukturalismus der Barbarei zu bezichtigen.

 

Wie stets an dieser Stelle: Wenn ihr immer rechtzeitig über die neuste Ausgabe informiert werden wollt, dann tragt euch gern auf der Seite für den Newsletter ein.

 

Viel Spaß beim kritischen Lesen!

 

 

REZENSIONEN ZUM SCHWERPUNKT

Ein Hype in all seiner entlarvenden Schönheit
Sebastian Friedrich (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen
der „Sarrazindebatte“

Der Sammelband vereint ein Jahr nach der „Sarrazindebatte“ linke Analysen und lädt über „Sarrazin“ hinaus zu theoretischen Auseinandersetzungen ein.
Von Siegfried Jäger | 4. Oktober 2011

[http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/ein-hype-in-all-seiner-entlarvenden-schonheit/]

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Über die Verflechtung von Herrschaftsverhältnissen
Nina Degele / Gabriele Winker: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten

Intersektionalität ist das neue Zauberwort, um die Verflechtung von Ungleichheiten zu erfassen. Die Grundlage dessen und eigene wissenschaftliche Modelle stellen die TheoretikerInnen Nina Degele und Gabriele Winker vor.
Von Peps Perdu | 4. Oktober 2011

[http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/uber-die-verflechtung-von-herrschaftsverhaltnissen/]

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Scheidelinien: Anja Meulenbelt über Sexismus, Rassismus und Klassismus
Anja Meulenbelt: Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus

Diese Rezension von 1990, zuerst erschienen in der PROWO, geht den Überschneidungen unterschiedlicher Unterdrückungssysteme auf den Grund und zeigt, dass alte Diskussionen den aktuellen sehr ähneln können.
Von Detlef Georgia Schulze | 4. Oktober 2011

[http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/scheidelinien-anja-meulenbelt-uber-sexismus-rassismus-und-klassismus/]

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Koalitionen der Differenzen
Ika Hügel / Chris Lange / May Ayim et. al. (Hg.): Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung

"Entfernte Verbindungen" gibt Einblicke in feministische Debatten zu Sexismus, Rassismus, Klassismus und Antisemitismus und fordert, Unterdrückungsverhältnisse zusammen zu denken.
Von Antke Engel | 4. Oktober 2011

[http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/koalitionen-der-differenzen/]

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Antiklassistische Perspektiven
Andreas Kemper / Heike Weinbach: Klassismus. Eine Einführung

Das Buch ermöglicht Zugänge zu Klassismus-Konzepten. Eine Re-Lektüre mit Vorschlägen für linken Antiklassismus.
Von Sebastian Friedrich | 4. Oktober 2011

[http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/antiklassistische-perspektiven/]

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AKTUELLE REZENSIONEN

Wenn Medien ihre Macht missbrauchen
Rolf van Raden / Siegfried Jäger (Hg.): Im Griff der Medien. Krisenproduktion und Subjektivierungseffekte

Von Berlusconi bis Afghanistan: Eine kritische Auseinandersetzung mit Medien in der Krise – das war der Ausgangspunkt des 13. Kolloquiums des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung. Aus den Tagungsbeiträgen ist nun der Sammelband „Im Griff der Medien“ entstanden.
Von Chantal Stauder | 4. Oktober 2011

[http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/wenn-medien-ihre-macht-missbrauchen/]

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Geschwindigkeit und Angst
Paul Virilio: Die Verwaltung der Angst. Ein Gespräch mit Bertrand Richard

In diesem 2010 geführten Gespräch mit Bertrand Richard gibt der Urbanist, Philosoph und Kritiker der neuen Technologien Paul Virilio einen tiefen Einblick in sein Denken, das gelegentlich auch zu falschen Interpretationen geführt hat.
Von Adi Quarti | 4. Oktober 2011

[http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/geschwindigkeit-und-angst/]

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Im Zweifel für den Zweifel
Christiane Völling: Ich war Mann und Frau. Mein Leben als Intersexuelle

Die bewegende Biographie erzählt die Geschichte einer zwangskastrierten intersexuellen Person und klärt darüber hinaus über gesellschaftliche Schieflagen im Umgang mit intersexuellen Menschen auf.
Von Anja Gregor | 4. Oktober 2011

[http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/im-zweifel-fur-den-zweifel/]

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Zwischen Kropotkin und Papst
Angelika Sirch: Der ganze Weg zum Himmel ist Himmel. Über Gotteserfahrung und Weltverantwortung bei Dorothy Day

Anarchismus und Christentum, geht das zusammen? Dorothy Day und das Catholic Worker Movement sind ein spannendes Feld, um dieser Frage nachzugehen.
Von Sebastian Kalicha | 4. Oktober 2011

[http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/zwischen-kropotkin-und-papst/]

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Es sieht düster aus
Alex Gruber / Philipp Lenhard (Hg.): Gegenaufklärung. Der postmoderne Beitrag zur Barbarisierung der Gesellschaft

Rechte, Linke, Islamisten – der Zivilisation kann sich heute niemand mehr sicher sein. Da stimmt es wenig hoffnungsvoll, dass auch die Postmoderne kaum anderes tut, als die Barbarei voranzutreiben. Kritische Geister klären über das hereinbrechende Unheil auf.
Von Gabriel Kuhn | 4. Oktober 2011

[http://www.kritisch-lesen.de/2011/10/es-sieht-duster-aus/]