S 21 Oberster Polizeichef wollte Einsatz abblasen

Erstveröffentlicht: 
03.12.2010
Untersuchungsausschuss. Der Spitzenbeamte hatte Bedenken, plädierte für eine Verschiebung, fand aber kein Gehör. Von Andreas Müller


Der oberste Polizeibeamte im Innenministerium, Landespolizeipräsident Wolf Hammann, hatte nachdrücklich vor dem Polizeieinsatz am 30. September im Schlossgarten gewarnt und für eine Verschiebung auf einen späteren Termin plädiert. In einer Mail an die Amtschefs von Ministerpräsident Stefan Mappus und Umweltministerin Tanja Gönner (beide CDU) sowie den Stuttgarter Polizeipräsidenten, die gestern von der Opposition im Untersuchungsausschuss thematisiert wurde, erhob Hammann am Tag zuvor schwere Bedenken gegen ein Festhalten am ursprünglichen Zeitpunkt.

Anlass war die Tatsache, dass der Beginn des Polizeieinsatzes bereits am Vortag durchgesickert war und die Stuttgart-21-Gegner dazu aufgerufen hatten, im Park präsent zu sein. „Damit ist der Überraschungseffekt hinfällig", mahnte der Landespolizeipräsident per vertraulichem Vermerk am Nachmittag des 29. September. Wörtlich fuhr er fort: „Wenn sich im Park zu Beginn der Polizeimaßnahmen mehrere Tausend Personen befinden, ist mit verhältnismäßigen Mitteln eine Räumung - und damit ein Beginn der Fällarbeiten - nicht möglich." Diese Bedenken sollten sich bestätigen: Die Frage, ob der Einsatz verhältnismäßig war, steht inzwischen im Mittelpunkt der juristischen Aufarbeitung durch die Staatsanwaltschaft.

Auch die geplante Vorverlegung des Beginns von 15 auf 10 Uhr sah Hammann skeptisch: Es sei ungewiss, ob sich die vorgesehene Absperrlinie „den ganzen Tag bis Mitternacht gegen den Druck mehrerer Tausend Personen" halten ließe. Als Alternative erwog er zwar auch einen sofortigen Beginn, wobei für die Baumfällung schon am 30. September eine Befreiung von Naturschutzvorschriften notwendig sei, präferierte aber eindeutig eine Verschiebung.

Wenn die Fällarbeiten „auf einen taktisch günstigeren Zeitpunkt im Lauf des Oktobers" verlegt würden, habe dies mehrere Vorteile: man könne etwa in den frühen Morgenstunden einen Überraschungseffekt nutzen, hätte auch bundesweit mehr Einsatzkräfte zur Verfügung als an dem ersten Oktoberwochenende mit mehreren Großeinsätzen und müsste das Areal nicht stundenlang sichern. Der Vermerk mit dem Stichwort „Verschiebung" wurde ausdrücklich als eilig gekennzeichnet.

Bei der weiteren Planung der Stuttgarter Polizei hat diese Warnung indes „keine Rolle gespielt". Das sagte der Vize des Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf, Norbert Walz, gestern als Zeuge vor dem Ausschuss. Die Frage einer Verschiebung sei danach nicht erneut erörtert worden; man habe an dem auf 10 Uhr vorgezogenen Einsatz festgehalten. Ob Stumpf mit Hammann über die Mail gesprochen habe, wisse er nicht.

Damit erhärtet sich der Eindruck, dass der Landespolizeipräsident - ebenso wie teilweise Innenminister Heribert Rech (CDU) - bei der Polizeistrategie zu Stuttgart 21 übergangen wurde. Der seit 2009 amtierende Jurist gilt als liberal und besonnen; bei seiner Einsetzung hatte er gesagt, die Polizei müsse eine „Freundschaft mit der Gesellschaft" eingehen. Teile der CDU sehen in ihm inzwischen eine Fehlbesetzung. Mit Spannung wird nun sein zeitlich noch offener Auftritt als Zeuge erwartet.

Kontrovers wurde im Ausschuss erörtert, wie die in einem Protokoll wiedergegebenen Äußerungen von Ministerpräsident Mappus zu interpretieren seien. Nach einem Treffen mit der Polizeiführung zehn Tage vor dem Einsatz hieß es darin: „MP erwartet offensives Vorgehen gegen Baumbesetzer (keine Verfestigung)." Ob von ihm auch die zitierten Vorgaben stammten, im Einzelfall die „falschen Bäume" zu räumen und „möglichst schnell" mit den Fällarbeiten zu beginnen, blieb zwischen Regierung und Opposition strittig.

Polizeiführer aus mehreren Bundesländern schilderten den Einsatz ihrer Hundertschaften als schlecht vorbereitet und unkoordiniert. Sie hätten bis kurz davor nicht gewusst, worum es überhaupt gehe, und Probleme wegen mangelnder Ortskenntnis gehabt. Zudem sei die Information durch die Landespolizei unzureichend gewesen. Überrascht zeigten sich die auswärtigen Beamten von der Zusammensetzung der Demonstranten. Es seien nicht die üblichen Protestierer gewesen, sondern „Leute wie du und ich", sagte ein Nürnberger. „Es waren meine Nachbarn, die dort gesessen haben", sagte ein Kollege aus Bayreuth.