Der Wert des Menschen: So teuer ist der Tod

Schwerer Autounfall: Wie berechnet man den finanziellen Wert eines Menschen?
Erstveröffentlicht: 
15.07.2010

Wie viel ist ein Mensch wert? 1,2 Millionen Euro, hat Buchautor Jörn Klare errechnet. Im Interview spricht er über erstaunliche Statistiken, den Begriff "Humankapital" und die Frage, warum Versicherungen für tote Banker mehr zahlen als für Feuerwehrmänner.


Frage: Herr Klare, ist es nicht äußerst bedenklich auszurechnen, wie viel Geld ein Menschenleben wert ist?

Klare: Ja, schon. Die Frage ist aber: Wer berechnet den Wert für wen und warum? Nehmen wir den Begriff Humankapital, Unwort des Jahres 2004, ich mag es auch nicht. Das Humankapital zu berechnen ist aber für viele Firmen eine wichtige Möglichkeit, um herauszufinden, was dem Unternehmen dieser Mensch wert ist.

Frage: Sie meinen als Arbeitskraft?

Klare: Genau. Das ist zwar nicht besonders schön, aber legitim.

Frage: Aus ethischer Sicht klingt das trotzdem für viele sehr befremdlich.

Klare: Es ist schwierig. Bei mir fing es an zu rumoren, als ich zum Thema Menschenhandel recherchiert habe. Da bin ich über ziemlich konkrete Summen gestolpert, für die ein Mensch verkauft wird - nicht nur als Arbeitskraft, sondern auf Gedeih und Verderb. Sobald ich für die Thematik "Was ist ein Mensch wert?" sensibilisiert war, fragte ich mich: Wieso verhungert der und ich nicht? Bin ich etwa mehr wert? Und dann hörte ich Begriffe wie "Wert eines statistischen Lebens" (WSL) und wollte genau wissen: Wer berechnet wofür und mit welcher Methode den finanziellen Wert eines Menschen

Frage: Herr Klare, ist es nicht äußerst bedenklich auszurechnen, wie viel Geld ein Menschenleben wert ist?

Klare: Ja, schon. Die Frage ist aber: Wer berechnet den Wert für wen und warum? Nehmen wir den Begriff Humankapital, Unwort des Jahres 2004, ich mag es auch nicht. Das Humankapital zu berechnen ist aber für viele Firmen eine wichtige Möglichkeit, um herauszufinden, was dem Unternehmen dieser Mensch wert ist.

Frage: Sie meinen als Arbeitskraft?

Klare: Genau. Das ist zwar nicht besonders schön, aber legitim.

Frage: Aus ethischer Sicht klingt das trotzdem für viele sehr befremdlich.

Klare: Es ist schwierig. Bei mir fing es an zu rumoren, als ich zum Thema Menschenhandel recherchiert habe. Da bin ich über ziemlich konkrete Summen gestolpert, für die ein Mensch verkauft wird - nicht nur als Arbeitskraft, sondern auf Gedeih und Verderb. Sobald ich für die Thematik "Was ist ein Mensch wert?" sensibilisiert war, fragte ich mich: Wieso verhungert der und ich nicht? Bin ich etwa mehr wert? Und dann hörte ich Begriffe wie "Wert eines statistischen Lebens" (WSL) und wollte genau wissen: Wer berechnet wofür und mit welcher Methode den finanziellen Wert eines Menschen?

Frage: Sie haben unter anderem bei Behörden und in Personalabteilungen Gespräche geführt. Welche Antworten haben Sie dort bekommen?

Klare: Anfangs war immer nur von Begriffen wie "Ressourcenausfallkosten" die Rede - volkswirtschaftliche Verluste, die anfallen, wenn beispielsweise ein Verkehrsteilnehmer ums Leben kommt.

Frage: Konkreter wurden Ihre Gesprächspartner nicht?

Klare: Ich habe jedes Gespräch mit einer plumpen Frage begonnen: "Wie viel, glauben Sie, bin ich wert?" Anfangs sagten viele: "Das kann ich Ihnen nicht sagen." Aber sobald ich nachgebohrt habe, bekam ich Antworten wie "Wenn man das statistisch betrachtet, dann …". Ich war wirklich überrascht, wie viele Zahlen ich am Ende doch zusammenbekam. Einige erscheinen absurd, mit anderen wird sehr konkret Politik gemacht.

Frage: Wie viel ist denn ein Straßenverkehrsopfer in Deutschland wert?

Klare: Ziemlich genau 1,2 Millionen Euro.

Frage: Wie kommt man auf die Zahl?

Klare: Die Berechnung ist sehr kompliziert. Es gibt ein Methodenpapier von der Bundesanstalt für Straßenwesen für Ressourcenausfallkosten. Es zeigt die durchschnittliche Summe, die die deutsche Volkswirtschaft angeblich mit dem Tod eines Menschen im Straßenverkehr verliert. Grundlage ist die auf das Alter bezogene "mögliche volkswirtschaftliche Produktionsleistung". Das nennen die dann Ressourcenpotential.

Frage: Was verbirgt sich noch dahinter?

Klare: Die Frage, wie viel die konkreten Folgen eines durchschnittlichen Unfalltodes kosten. Beispielsweise Leitplanken, die ersetzt werden müssen. Das geht aber auch soweit, dass Überlegungen angestellt werden, was denn eigentlich mit den Organen der Opfer passiert. Die könne man doch eigentlich wieder in den Wirtschaftskreislauf eingeben und hätte damit einen gewissen Gewinn. Diese Modellrechnung wurde sogar einmal veröffentlicht! Allerdings hat man dann einen Rückzieher gemacht und wohl gemerkt, dass es doch zu weit ginge, mit Toten noch Geschäfte zu machen.

Frage: Wie viel kostet denn ein Organ, zum Beispiel eine Lunge?

Klare: Bei der Lunge ist es schwer zu sagen, beim Herz ist es einfacher.

Frage: Dann also ein Herz, bitte.

Klare: Man kann im Internet einfach recherchieren, was es kostet, sich in China ein neues Herz einsetzen zu lassen. Der Komplettpreis, inklusive Flug, Operation und stationärem Aufenthalt liegt bei 100.000 Euro. Was allein das Organ kostet, ist schwer zu beziffern, da niemand, selbst in China nicht, sein Herz verkauft. Viele Organe sollen da von Hinrichtungsopfern stammen. Bei Nieren ist das was anderes. Da man davon zwei hat, kann man vermeintlich eine abgeben. Ich war einmal in Dubai mit einer Ärztin unterwegs, die sich dort um arbeitslose Bauarbeiter kümmerte. Da kam uns auf der Straße ein Mann entgegen, der uns für 800 Dollar eine seiner Nieren anbot. Aber es gibt durchaus Gegenden, wo eine Niere noch billiger ist.

Frage: Der Schwarzmarkt für Organe ist ein florierendes Geschäft.

Klare: Es gibt eine Menge Gesundheitsökonomen in Deutschland, die sich für den legalisierten Organhandel aussprechen. Sie plädieren dafür, dass jeder, der seine Niere verkaufen will, das auch darf. Sie wollen teilweise auch, dass Organe in Dritte-Welt- Ländern eingekauft werden. Ich würde meine Niere zumindest nicht verkaufen.

Frage: Der Begriff "Wert des statistischen Lebens" kommt aus den USA. Was verbirgt sich dahinter?

Klare: Er wurde in den siebziger Jahren entwickelt und basiert auf der Zahlungsbereitschaft, die jemand hat, um ein bestimmtes Todesrisiko auszuschließen. Ein vereinfachtes Beispiel: In einem Fußballstadion sind 10.000 Menschen versammelt. Sie erfahren, dass einer von ihnen ausgelost wird, der dann sterben soll. Jeder einzelne wird gefragt, wie viel er zahlen würde, um dieses Risiko für sich auszuschließen. Da die Chance bei eins zu 10.000 liegt, ist die Zahlungsbereitschaft der einzelnen noch überschaubar. Angenommen, die Leute wären bereit, durchschnittlich 300 Euro zu zahlen, dann wird diese Summe durch das Todesrisiko von ein Zehntausendstel dividiert und das Ergebnis von drei Millionen Euro soll dann der "Wert für ein statistisches Leben" sein.

Frage: Wer braucht solche Angaben?

Klare: In den USA gibt es eine Regierungsverordnung, die besagt, dass bei allen Entscheidungen, die das Gesundheits- und Sterberisiko von US-Bürgern betreffen, Kosten-Nutzen-Rechnungen erstellt werden müssen.

Frage: Und das ist wann der Fall?

Klare: Ein einfaches Beispiel: An einer Stelle, an der viele Unfälle passieren, soll eine Ampel gebaut werden, mit der man statistisch gesehen ein Menschenleben retten könnte. Dann würde berechnet werden, ob sich der Bau der Ampel lohnt.

Frage: Und wie lautet dann die Rechnung?

Klare: Wenn die Ampel 1,5 Millionen Dollar kostet und ein Mensch drei Millionen Dollar wert ist, dann würde man sagen: Es lohnt sich. Wenn ein Mensch aber nur 500.000 Dollar wert ist, mache ich in der Logik der Ökonomen Miese. Dann lohnt es sich nicht, diese Ampel zu installieren.

Frage: Wird diese Logik auch in Deutschland angewandt?

Klare: Im Prinzip ja. Etwa bei der schon erwähnten Bundesanstalt für Straßenwesen. Das Umweltbundesamt wiederum rechnet mit einem "Wert eines statistischen Lebens" und gibt darauf basierend Empfehlungen an die Bundesregierung. Und einige Gesundheitsökonomen, die solche Kosten-Nutzen-Rechnungen mit monetarisierten Menschenleben einführen wollen, rechnen mit dem WSL. In den USA wird damit ganz konkret Politik gemacht.

Frage: In Deutschland nicht?

Klare: Es scheint langsam anzufangen. In den USA wird offen damit umgegangen, bei uns wird es schleichend eingesetzt. Keiner spricht darüber. Das finde ich ein Unding!

Frage: In den USA sorgte die Opferentschädigung nach dem Anschlag auf das World Trade Center für Diskussionen. Wie wurde sie berechnet?

Klare: Nach dem klassischen Humankapitalansatz. Der ist, gerade in den USA, bei den Entschädigungsfragen der Versicherungen sehr populär: Was hätte dieser Mensch vermutlich in seinem Leben noch verdient? Das ist er wert. Allerdings gab es eine Obergrenze, da viele Investmentbanker bei dem Anschlag ums Leben gekommen sind und es dementsprechend sehr teuer geworden wäre. Der Anwalt, der die Verteilung des Geldes an die Familien vorgenommen hat, hat dabei auch die Hinterbliebenen besucht. Die Witwe eines Feuerwehrmannes fragte ihn, warum sie weniger bekommen hat, als die Witwe eines Bankers, schließlich sei ihr Mann reingegangen, um Menschen zu retten. Er sagte nur: So ist Amerika.

Frage: Wo wir wieder bei der Frage nach der Ethik wären.

Klare: Ethisch ist das alles äußerst fragwürdig. Das Interessante ist, dass die Ökonomen die Ethik gleich mit übernehmen wollen, nach dem Motto: Das ist richtig berechnet, die Zahlen stimmen. Also ist es objektiv und damit auch ethisch korrekt.

Frage: Warum wird das so gehandhabt?

Klare: Es ist einfacher, anhand einer Formel etwas zu berechnen und daraufhin eine Antwort zu bekommen. Im Extremfall entscheidet eine im Ansatz höchst fragwürdige Formel, ob man einem Menschen noch eine lebensnotwendige Operation finanziert, oder nicht. Es befreit davon, sich mit dem ethischen Dilemma auseinander zu setzen.

Frage: Und jetzt die Masterfrage: Was ist Ihr Leben wert, Herr Klare?

Klare: Ich war ja schon so sehr sensibilisiert, dass ich am Ende Bauchschmerzen hatte. Dann habe ich aber doch alle recherchierten Methoden angewandt, Zahlen addiert, dividiert - und kam auf eine faszinierende Summe, die erstaunlich nah an der der Bundesanstalt für Straßenwesen ist. Das fand ich dann doch sehr überraschend. Und irgendwie auch zum Kotzen.

Das Interview führte Catharina Swantje Muuß. Es erschien in der aktuellen Ausgabe des Magazins "enorm - Wirtschaft für den Menschen".