Krawalle von Rostock-Lichtenhagen "Wenn man von unten Schreie hört"

Erstveröffentlicht: 
20.08.2017

Flammen lodern aus Flüchtlingswohnungen, Gaffer johlen und applaudieren den Neonazis - eine Schande für Deutschland. Vor 25 Jahren konnte ein rechter Mob in Rostock nahezu ungestört Ausländer attackieren.

 

Diese Angst hat er nicht vergessen. "Wenn über einem nur noch eine Spannbetondecke ist und man von unten Schreie hört, Feuerschein sieht und Qualm riecht, es nicht links und nicht rechts geht, dann verlierst du irgendwann den Mut."

 

Jochen Schmidt stand am 24. August 1992 im sogenannten Sonnenblumenhaus an der Mecklenburger Allee in Rostock-Lichtenhagen, als Anwohner und Neonazis den Wohnblock in Brand steckten. Als Hospitant eines ZDF-Kamerateams hatte er ausländerfeindliche Krawalle begleitet und war mitten hineingeraten.

Mit rund 150 ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitern, die in dem Haus wohnten, und mit Kollegen rettete Schmidt sich bis in den elften Stock, schließlich aufs Dach. "Und dann hat da oben eigentlich jeder still für sich mit dem Leben abgeschlossen, muss man einfach so sagen", erinnert er sich.

 

Die Bilder des brennenden Sonnenblumenhauses gingen um die Welt und zeigten die hässlichste Seite des wiedervereinigten Deutschlands. Es waren die schwersten ausländerfeindlichen Krawalle in der Geschichte der Bundesrepublik.

 

Steine, Eisenkugeln, Brandsätze


Nach der Wiedervereinigung und im Zuge einer hitzigen Asyldebatte, durch die sich Rechtsradikale ermuntert fühlten, kam es Anfang der Neunzigerjahre zu einer Welle der Gewalt mit zahlreichen Angriffen auf einzelne Ausländer und auf Unterkünfte. So wurden in Hoyerswerda im September 1991 Wohnheime für Flüchtlinge und Vertragsarbeiter mit Molotow-Cocktails und Eisenkugeln attackiert.

 

Die Exzesse von Rostock-Lichtenhagen vor 25 Jahren waren ein weiterer schockierender Höhepunkt fremdenfeindlicher Gewalt. Im Sonnenblumenhaus befand sich 1992 Mecklenburg-Vorpommerns Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber. Asylsuchende mussten sich dort melden, bevor sie eine Unterkunft in diesem Bundesland zugewiesen bekamen.

 

Wochenlang schon war die Stelle überfüllt. Die Wartenden kampierten vor dem Haus - ohne Toiletten und ohne Verpflegung. Es kam zu Diebstählen in umliegenden Geschäften. Obwohl Anwohner auf die schlimmen Zustände hinwiesen, reagierten die Verantwortlichen nicht.

 

Ab dem 22. August eskalierte die Situation, der Auftakt zu fast einer ganzen Woche voller Ausschreitungen. Jugendliche und Anwohner versammelten sich, schleuderten Steine und Brandsätze auf das Haus und die Polizei. "In den Anfängen waren es die Einwohner vor Ort, die Jugendlichen, die komplett perspektivlos waren", sagt Ralf Mucha, SPD-Landtagsabgeordneter und Vorsitzender des Ortsbeirates.

 

"Ein Prototyp für rechte Gewalt"


Später kamen Neonazis aus ganz Deutschland hinzu. Die Polizei - miserabel vorbereitet, schlecht ausgerüstet, von der Politik im Stich gelassen - bekam die Lage nicht in den Griff. Zwischen Untätigkeit, Zaudern und kopflosem Agieren überließ sie letztlich dem Mob das Feld und konnte auch nicht den Zugang der Feuerwehr zum Sonnenblumenhaus und den umliegenden Gebäuden sicherstellen; Rechtsradikale und Schaulustige versperrten den Feuerwehrleuten den Weg.

 

So konnten Tausende nahezu ungehindert gegen Ausländer pöbeln, Neonazis vor einer johlenden Meute Brandflaschen anzünden, Betrunkene den Arm zum Hitlergruß heben - Szenen, die um die Welt gingen. Es war ein Triumph für den rechten Mob. Und ein Schock für alle anderen.

 

Am 24. August entschieden die Behörden nach langem Zögern, die Aufnahmestelle zu räumen. Von da an richteten sich die Gewalt der Neonazis und die Beschimpfungen Tausender Gaffer gegen die im Nachbaraufgang lebenden Vietnamesen. Mehrere Wohnungen wurden angezündet.

 

Wolfgang Richter, damals Ausländerbeauftragter Rostocks, hielt sich mehrere Tage lang im Haus auf. Er erinnert sich an viele Gespräche mit Anwohnern, die auch gesagt hätten: "Aber die Vietnamesen meinen wir nicht! Mit denen leben wir seit zehn Jahren hier. Das hat ihnen aber nichts genützt. Weil diese fremdenfeindliche Gewalt, einmal ausgebrochen, keine Unterschiede gemacht hat."

 

Ex-Hospitant Schmidt, heute Reporter beim "Hessischen Rundfunk", sagt: "Rostock ist so etwas wie ein Prototyp für rechte Gewalt. Und dafür, wie leicht Agitatoren es schaffen, Massen zu bewegen."

 

Verfehlungen in Stein


Die Wiese vor dem Haus, auf der sich die Szenen abspielten, gibt es heute nicht mehr. Seit vielen Jahren ist die Fläche südlich vor dem elfstöckigen Hochhaus bebaut - mit einem Dienstleistungszentrum, einem Heimwerkermarkt und einem Parkplatz. Sie ist zum Mittelpunkt des Stadtteils geworden. Dort gibt es Einkaufsmöglichkeiten, Imbisse und Arztpraxen.

 

"Ich wehre mich dagegen zu sagen, Lichtenhagen ist ein Brennpunktstadtteil. Das ist er nicht", sagt SPD-Mann Mucha. Mit der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge etwa gebe es keine Probleme, "die ist akzeptiert, sie wird unterstützt".

 

In der Kurzchronik der Hansestadt sind die prägenden Ereignisse der Stadtgeschichte notiert. Die Vorgänge von 1992 jedoch werden nicht erwähnt, ebensowenig der Tod von Mehmet Turgut im Jahr 2004 - ein Mord, der dem "Nationalsozialistischen Untergrund" zugeschrieben wird. "Es ist völlig unbegreiflich, wie 1992 und 2004 fehlen können in einer solchen Aufzählung", sagt Wolfgang Richter, Rostocks früherer Ausländerbeauftragter.

 

Vom 21. August an sollen in einer Gedenkwoche in Rostock thematische Stelen eingeweiht werden: am Sonnenblumenhaus, am Rathaus, vor dem Redaktionsgebäude der "Ostsee-Zeitung", der Polizeiinspektion und dem linken "Jugendalternativzentrum". Die Kunstobjekte werden fortan an die Verfehlungen erinnern und auch an Zivilcourage.

 

Hannes Stepputat, dpa/jol