Die Provokation hat funktioniert. Rund 70 Journalisten und acht Kameras blicken an diesem Donnerstag aufs Podium, als Boris Palmer in Berlin sein Buch Wir können nicht allen helfen vorstellt. Seit Tagen schürt Tübingens Oberbürgermeister bereits in Interviews und mit einem Vorabdruck das Interesse an seinem Blick auf Integration und die Grenzen der Belastbarkeit – so der Untertitel. Ausgerechnet ein Grüner kritisiert öffentlich "Gesinnungsethiker" und "Idealisten", insbesondere in der eigenen Partei? Nur 50 Tage vor der Bundestagswahl erzeugt das die gewünschte Aufmerksamkeit.
Weil es sich bewährt hat, spricht auch diesmal ein Politiker einer anderen Partei einleitende Worte zum Buch. Julia Klöckner, Landes- und Fraktionschefin der CDU in Rheinland-Pfalz, verbindet mit Palmer nicht allein der – von ihr mehrfach betonte – Geburtsjahrgang 1972. Sondern auch die Fähigkeit, sich als Querkopf innerhalb der eigenen Partei darzustellen. Beide pflegen das Image eines basisnahen Charakterkopfs, der unangenehme Wahrheiten ausspricht. Und der damit jenen gesunden Pragmatismus beweist, der in Berlin angeblich fehlt.
So lobt Klöckner das 256-Seiten-Buch gleich zu Beginn als ein "Plädoyer gegen die Schubladenpolemik", das mitunter "wehtut". Etwa, wenn Palmer schreibt: "Es wollen weitaus mehr Menschen über das Mittelmeer, als Europa aufzunehmen in der Lage ist. Selbst die Seenotrettung führt in dieses Dilemma, denn das Wissen, dass Rettung möglich ist, erhöht die Risikobereitschaft zur Überfahrt."
Gesinnungsethiker, verbohrte
Vordergründig plädiert der 45-Jährige ausdauernd für eine ehrliche Diskussion auf Basis der Realität. Doch wer für sich in Anspruch nimmt, "die Realität" auf seiner Seite zu haben, der kann andere Sichtweisen nicht annehmen. Deshalb stempelt er beispielsweise Parteifreunde, die ihm widersprechen, als "Gesinnungsethiker" ab. Der sich daraus speisende Groll seiner Kritiker, die ihm vorhalten, er betreibe das Geschäft der AfD, zeigt in Palmers Augen nur ihre Verbohrtheit. Jede Kritik an seinen Thesen beweist demnach ihre Richtigkeit: Alles Geisterfahrer – außer mir.
"An moralischer Politik ist nichts falsch", sagt Palmer bei der Buchvorstellung. "Falsch ist moralisierende Politik." Damit will der Grüne auch die Kanzlerin kritisieren. Die habe nach der Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze im September 2015 einen großen Fehler begangen. Sie habe "eine Politik, die aus der Not geboren wurde, zum moralischen Imperativ" erklärt "und einen großen Teil der deutschen Gesellschaft" damit ausgegrenzt. Damals setzte Palmer Angela Merkels trotzigem "Wir schaffen das" auf Facebook sein "Wir schaffen das nicht" entgegen. Das Buch versteht Palmer auch als Antwort auf jene, die sich damals über seinen Post echauffierten.
Nur provoziert und moralisiert Palmer selbst immerzu, angefangen beim Buchtitel. Selbst Klöckner kritisiert in ihrer Eingangsrede, sie finde die Wortwahl "schade", denn: "Es kommen ja nicht alle."
"Auf den 30 Seiten hätte ich mir mehr Lösungen gewünscht"
Der Titel offenbart das Grundproblem von Wir können nicht allen helfen. In der Flüchtlingsdebatte sind nicht die Fakten umstritten. Niemand behauptet, Deutschland könne die 65 Millionen Menschen, die derzeit weltweit auf der Flucht sind, aufnehmen. Sondern worüber Menschen streiten, ist die Deutung dieser Fakten: Wie lösen wir die Probleme von Geflüchteten und Einheimischen, damit aus einer großen Herausforderung kein Dauerproblem wird?
Tatsächlich kennt Palmer, seit 2007 Oberbürgermeister einer 80.000-Einwohner-Stadt, deren praktische Alltagsprobleme: Wie bringt man Geflüchtete so unter, dass sie Kontakt mit Einheimischen erhalten? Wie verschafft man einem aus Afrika stammenden Bäckerlehrling, den sein Chef gern halten würde, einen Aufenthaltstitel?
Doch dieser interessante Einblick in den Alltag von Helfern und Behörden umfasst nur rund 100 Buchseiten. Der große Rest handelt nicht vom alltäglichen Umgang mit Geflüchteten. Stattdessen kritisiert er das "liberale Bürgertum", soziale Netzwerke, Medien und die Grünen. Sie alle pflegten "Denkblockaden", "Illusionen" und "Tabus". Das ist die Öffentlichkeit eher von rechten Politikern gewohnt, nicht von einem Grünen.
Doch handfeste, praktische Antworten auf die von ihm aufgeworfenen Fragen bleibt Palmer schuldig. Sogar Klöckner kritisiert den mageren Abschluss des Buchs: "Auf den 30 Seiten hätte ich mir mehr Lösungen gewünscht."
Palmer, der Realist und Pragmatiker, will das so nicht stehen lassen. So schlägt er behördliche Anreize vor, damit Geflüchtete nicht mehr ihre heimischen Pässe wegwerfen. Bislang hätten Menschen ohne Pass eine größere Chance, bis auf Weiteres in Deutschland bleiben zu können. Nur weiß auch er nicht, welcher Anreiz helfen könnte: "Ich bin ja kein Innenminister oder Innenausschussmitglied. Ich stell' erst mal nur abstrakt-logisch ein Problem fest und sag': Guckt's Euch an, da muss eine Lösung her."