Vier Jahre, 375 Verhandlungstage – und immer noch keine Gerechtigkeit? Im NSU-Prozess werden am heutigen Montag die Plädoyers gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte fortgeführt. Einige Angehörige der Terroropfer hören aus Protest nicht einmal zu. Sie beklagen, dass nicht alle Täter vor Gericht stehen.
München. Tarnkappe“, „Mitbegründerin und Mitglied einer terroristischen Vereinigung“, „Kassenwart des NSU“ – Beate Zschäpe musste sich in dieser Woche einiges anhören. Der unendlich scheinende Prozess über die Taten des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ vor dem Münchner Oberlandesgericht geht in die Schlussetappe, die anklagende Bundesanwaltschaft hält ihr Plädoyer. Wie immer rührungslos hört sich die Hauptangeklagte an, sie habe einem „widerwärtigen Naziregime den Boden bereiten“ wollen, habe mit ihren beiden Kumpanen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt „all die angeklagten Straftaten begangen“. So sagen es die Bundesanwälte Herbert Diemer und Anette Greger. Sie sei „der entscheidende Stabilitätsfaktor der Gruppe“ gewesen, habe nach außen hin die „harmlose Hausfrau“ gemimt, tatsächlich aber in „tödlicher Absicht“ gehandelt.
Diese Woche drehte sich in dem Verfahren alles, wie so oft, um die jetzt 42 Jahre alte Beate Zschäpe. Drei Tage lang wurde die Anklage gegen sie vorgetragen, ganz fertig ist man immer noch nicht. Nach Ansicht der Bundesanwaltschaft ist bewiesen, dass sie Mittäterin bei den rechtsextremistisch motivierten NSU-Morden war, jener deutschlandweiten Attentatsserie von September 2000 bis April 2007. Acht Männer mit türkischer und einer mit griechischer Herkunft wurden nicht nur erschossen, sondern „hingerichtet“, wie die Bundesanwaltschaft es bezeichnet. Die Mörder machten danach Fotos von den blutüberströmten, entstellten Leichen – Trophäen bei der Jagd auf „Alis“, wie das NSU-Trio Türken bezeichnete. Ermordet wurde auch die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn, womöglich um an ihre Waffe zu kommen und an die ihres schwer verletzten Kollegen Martin A. Der Gruppe werden zudem zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle zur Last gelegt.
Zschäpes chaotische Verteidigungssituation
Zschäpe, immer wieder Zschäpe: Seit dem Prozessauftakt am 6. Mai 2013, also vor mehr als vier Jahren, steht die Frau im Mittelpunkt des Verfahrens. Alles nur Erdenkliche an ihr wurde ausführlich beschrieben – die Kleidung, die Haare, die Mimik, wie sie auf ihren Laptop schaut und mit den Verteidigern scherzt. Sie ist das Gesicht des NSU, Mundlos und Böhnhardt hatten sich am 4. November 2011 in Eisenach kurz vor ihrem Auffliegen das Leben genommen.
Ihre herausgehobene Stellung hat nicht nur mit der Monstrosität der Taten zu tun, sondern auch mit Zschäpes chaotischer Verteidigungssituation. Mit den drei „Altverteidigern“ Wolfgang Stahl, Anja Sturm und Wolfgang Heer überwarf sie sich. Diese hatten ihr auferlegt zu schweigen, was Zschäpe während der ersten zwei Jahre zusehends nicht mehr aushielt. Sie wollten sich gegenseitig loswerden, aber das Gericht ließ die Rechtsanwälte nicht gehen. Zusätzlich erhielt die Angeklagte die von ihr ausgewählten Münchner Strafverteidiger Hermann Borchert und Mathias Grasel.
Zschäpe glaubt kaum jemand
Die haben ihre Situation aber offensichtlich verschlimmert. Ihre schriftliche Erklärung, von den Morden immer erst danach erfahren zu haben und ein abhängiges Opfer von Mundlos und Böhnhardt gewesen zu sein, glaubt ihr niemand. Regelrecht peinlich war der Auftritt des von den Verteidigern organisierten Freiburger Psychiaters Joachim Bauer. Er attestierte Zschäpe eine schwere dependente Persönlichkeitsstörung, sie sei abhängig von den Männern gewesen und deshalb vermindert schuldfähig. In einem Brief danach behauptete er, es finde eine „Hexenverbrennung“ statt. Das Gericht lehnte ihn als Gutachter wegen möglicher Befangenheit ab.
Wie viele Mittäter und Mitwisser gab es wirklich?
Während sich alle mit der offenkundigen Durchtriebenheit von Beate Zschäpe befassen, tauchen andere Prozessbeteiligte nicht mehr auf im Saal A 101 des Münchner Justizzentrums. „Meine Mandantin ist nicht gekommen“, sagt der Rechtsanwalt Sebastian Scharmer in einer Pause am ersten Tag des Plädoyers. Er vertritt Gamze Kubasik sowie deren Bruder Ergün als Nebenkläger, sie sind Tochter und Sohn des am 4. April 2006 in Dortmund ermordeten Kioskbesitzers Mehmet Kubasik.
Viele Nebenkläger sind der Auffassung, dass in München nicht alle NSU-Täter auf der Anklagebank sitzen. Dass es mehr Unterstützer und Hintermänner gegeben haben muss. Sie seien enttäuscht, sagt Scharmer. Und sie müssten mit dem Gedanken leben, „dass ihnen in Dortmund und anderswo vielleicht ein NSU-Helfer auf der Straße begegnet, ohne dass sie das wissen“. Auch Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler ist davon überzeugt, dass die NSU-Mordserie und ihre Hintergründe nicht ausermittelt wurden und etliche Komplizen des NSU-Trios unbehelligt in Freiheit leben: „Wir haben ja in diesem Verfahren über zwei Dutzend Zeugen gehört, die einfach freimütig sagten: Ja, wir haben denen geholfen“, sagte Daimagüler vor dem Beginn des Plädoyers der Anklage dem Mitteldeutschen Rundfunk.
Zu der Einschätzung, dass die Anklage der Bundesanwaltschaft viel zu kurz greift, sind auch die Untersuchungsausschüsse im Bund und in verschiedenen Ländern gekommen. Sie gehen davon aus, dass es mehr Unterstützer und damit mögliche Mittäter gegeben hat als jene vier, die von der Zuschauertribüne aus gesehen links hinter Beate Zschäpe sitzen.
Wohlleben nennt sich einen „friedlichen Nationalisten“
Da ist Ralf Wohlleben als zweitwichtigster Angeklagter. Er war NPD-Politiker und aktiver Rechtsextremist in Thüringen. Seit Ende November 2011 sitzt er in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, die Waffe für neun NSU-Morde, eine Ceska 83, besorgt zu haben. Das bestreitet der 42-Jährige, der weiterhin viel Sympathie in der Nazi-Szene genießt. Im Gegensatz zu Zschäpe äußerte er sich im Prozess selbst mündlich. Dabei gerierte er sich als „friedlicher Nationalist“, der von den Morden nichts gewusst habe und sogar den Angehörigen sein „Mitgefühl“ aussprach. Wohlleben wird von drei „Szeneanwälten“ verteidigt, die selbst als rechts bis rechtsradikal gelten können.
Carsten S. hat sich von der rechten Szene losgesagt
Die drei weiteren Angeklagten sind auf freiem Fuß und kommen immer zu den Prozesstagen. Eine kontrastreiche Biografie hat Carsten S., der sich von der rechten Szene losgesagt hat. Wohlleben und er bezichtigen sich gegenseitig, die Tatwaffe besorgt zu haben. S. hat umfassend ausgesagt und gesteht, die Waffe dem Trio überbracht zu haben. Im Gericht lässt er sich nur mit vor dem Kopf herunterhängender Kapuze fotografieren. Den anderen gilt er als Verräter. Von der Szene trennte er sich auch wegen seiner Homosexualität, später arbeitete er bei der Aids-Hilfe.
Geständig ist auch Holger G., der zugibt, dem NSU Pässe, einen Führerschein und 10 000 Euro überlassen zu haben. Der fünfte Angeklagte André Eminger schließlich steht weiterhin zur Neonaziszene und hat im Prozess kein Wort gesagt. Er soll den NSU fast die ganze Zeit über vom Abtauchen im Frühjahr 1998 bis zum Ende unterstützt haben. Seine Frau Susann war in dieser Zeit eine sehr enge Freundin von Beate Zschäpe, sie trafen sich regelmäßig. Erst vor zwei Wochen wurde André Eminger bei einem Neonazi-Musikfestival im thüringischen Themar gesehen.
Richter Götzl zeigt nicht die kleinste Regung
Nicht einfach, bei all den Verstrickungen den Überblick zu behalten. 815 Zeugen wurden im NSU-Prozess gehört, bisher gab es 377 Prozesstage. Den Blick auf das Ganze soll vor allem der Mann in der Mitte der Richtertische bewahren: Manfred Götzl. Selbst, wenn man den jetzt 63 Jahre alten Vorsitzenden Richter des Staatsschutzsenates über die ganzen vier Prozessjahre erlebt hat, bleibt er doch ein Mysterium. Viele seiner Kollegen geben – auch in bedeutenden Verfahren – mehr von sich preis, werden mal ironisch, lockern den Prozess mit nicht zwingend zur Sache gehörenden Bemerkungen auf oder gehen offensiv auf unwillige Zeugen oder Angeklagte los. Nicht so Götzl. Er bleibt stets sachlich, zeigt nicht die kleinste Regung, die auch nur ansatzweise darauf schließen ließe, wie er zu den Prozessbeteiligten und ihren Aussagen steht. Der Mann mit der runden Brille und dem kurzen grauen Haar, der schon den Mörder des Münchner „Modezaren“ Rudolph Moshammer verurteilt hatte, erscheint gewissermaßen als reines Instrument des Rechts.
Und doch haben er und seine vier Richterkollegen es vor allem mit Menschen zu tun – mit Tätern, mit Opfern, mit Angehörigen. Die Namen der Ermordeten hat in dieser Woche Bundesanwalt Herbert Diemer im Plädoyer einen nach dem anderen genannt: Enver Simsek, er wurde 38 Jahre alt, Abdurrahim Özüdogru (49), Süleyman Tasköprü (31), Habil Kilic (38), Yunus Turgut (25, mit Vornamen hieß er eigentlich Mehmet), Ismail Yasar (50), Theodorus Boulgarides (41), Mehmet Kubasik (39), Halit Yozgat (21) und Michèle Kiesewetter (22). Die Taten geschahen in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund, Kassel und Heilbronn.
Gerichtstermine bis August 2018
Vor der Sommerpause, die am kommenden Mittwoch beginnt, wird man in dem Prozess nicht mit dem Plädoyer der Bundesanwaltschaft fertig werden, denn nach Zschäpe sind die vier anderen Angeklagten an der Reihe. Es folgen die Plädoyers der Nebenklagevertreter, sie sollen laut deren Ankündigung rund 55 Stunden dauern, also etwa elf Prozesstage. Anschließend sind die Verteidiger an der Reihe. Es wird vermutet, dass in diesem Jahr womöglich kein Urteil mehr gesprochen wird. Richter Götzl hat vorsorglich schon Termine bis zum 30. August 2018 festgelegt.
Von Patrick Guyton