G20-Ausschreitungen: Das Tabu der Gewalt

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Erstveröffentlicht: 
17.07.2017

Nach der Randale von Hamburg sind sich alle einig: Gewalt geht gar nicht. Aber so einfach ist es nicht.

 

Eine Kolumne von Jakob Augstein

 

Gibt es gute Gewalt? Neigt die Linke zur Gewalt? Ist das Gewaltmonopol des Staats sakrosankt - oder gibt es Ausnahmen der Rechtfertigung außerstaatlicher Gewalt? Nach der Randale von Hamburg denkt Deutschland über die Gewalt nach. Und die Antwort lautet häufig: Gewalt geht nicht. Aber so einfach ist es leider nicht. Hamburg könnte der Anlass sein, hierüber zu diskutieren.

 

Jedes Gespräch über die Gewalt muss mit der Bekräftigung ihrer Ablehnung eingeleitet werden. Wer dieses Ritual verletzt, macht sich verdächtig.

Die Gewalt stellt in einer weitgehend tabulosen Gesellschaft eines der letzten Tabus dar. Darum hier die Klarstellung: Die Beschreibung eines Sachverhalts kommt nicht seiner Rechtfertigung gleich.

Was die Gewalt angeht, belügen wir uns selbst. Erstens loben wir die Gewaltlosigkeit, leben aber in einer auf Gewalt gegründeten Kultur. Und zweitens halten wir das Gewaltmonopol des Staats für sakrosankt, obwohl wir wissen, dass Gewalt ein Mittel der politischen Auseinandersetzung ist.

Wir sind stolz darauf, in einer immer gewaltloseren Kultur zu leben.

Aber unsere Gewaltabstinenz gilt nur im Inneren, nicht nach außen. Die entscheidende Differenz besteht in Wahrheit nicht zwischen Gewalt und Nichtgewalt, sondern zwischen Innen und Außen. Wir unterdrücken im Inneren die Gewalt, die wir nach außen üben.

In Jan-Philipp Reemtsmas großartiger Studie über die Gewalt heißt es: "In der Moderne besteht das Vertrauen 'ins Ganze' darin, dass dieses 'Ganze' nicht ins Spiel gebracht wird."

Diese Paradoxie können wir uns nur deshalb leisten, weil wir über die Mittel der Gewalt verfügen. Nur mit Gewalt bringen wir die Wirklichkeit in die Form, die wir gerne hätten - oder die wir gerade noch ertragen. Niemand im Westen würde eine wirklichkeitsnahe Dauerrepräsentation der globalisierten Ungerechtigkeit aushalten. Wir würden daran moralisch zerbrechen. Wir leben von der Verdrängung.

Ein Gipfel wie jener in Hamburg und seine Gewalt sorgen nun dafür, dass diese Grenzen für kurze Dauer durchlässig werden. An jedem anderen Ort zu jeder anderen Zeit wäre das Anzünden eines Autos eine bedeutungslose Tat des Vandalismus gewesen. Im Zusammenhang mit dem Gipfel wird daraus ein politischer Akt - von einer kleinen Minderheit akzeptiert, von einer großen Mehrheit abgelehnt, aber von allen in den richtigen Zusammenhang gebracht. Jeder kann die brennenden Autos beim G20-Gipfel in den Kontext der militanten Ablehnung dieses Gipfels setzen. Niemand würde verstehen, wenn sie beim Kirchentag brennen würden. Aber von plündernden Protestanten hat auch noch niemand gehört.

Gibt es in der funktionierenden Demokratie einen legitimen Ort für außerstaatliche Gewalt?

Wie wirkt diese politisch motivierte Gewalt? Mal angenommen, die Gewalttäter von Hamburg haben gewonnen. Mal angenommen, dass auf absehbare Zeit kein solcher Gipfel mehr in einer deutschen Großstadt stattfindet. Wäre das dann die Kapitulation des Rechtsstaats? Oder gibt es in der funktionierenden Demokratie einen legitimen Ort für außerstaatliche Gewalt?

Diese Fragen rührt an das Gewaltmonopol des Staates - mithin an den Staat selbst.

Die Friedenspreisträgerin Carolin Emcke twitterte nach Hamburg: "Jede TV-Minute, die der Gewalt der Hooligans gewidmet wurde, war eine Minute, in der nicht die Beschlüsse der #G20 kritisiert werden konnten." Stellt sich die Frage, ob friedliche Proteste gegen den Gipfel auch nur annähernd so viel Beachtung gefunden hätten wie die gewalttätigen Auseinandersetzungen. Das gehört zum Wesen des politischen Protests im demokratischen Kapitalismus: Wenn er sich an die Regeln hält, bleibt seine Wirkung schwach. Wenn er die Regeln bricht, gefährdet er seine Akzeptanz.

 Ist der Staat die Geisel linker und rechter Gewalttäter?

Nun war der Widerstand in Hamburg stark und der Staat war schwach. Zwanzigtausend Polizisten konnten keinen einigermaßen friedlichen Verlauf des Gipfels gewährleisten. Sollen es beim nächsten Mal 40.000 sein? Gewalt schafft Fakten, an denen auch der demokratische Rechtsstaat nicht vorbeikommt. Denn auch der Staat kann sein Recht nicht um jeden Preis durchsetzen. Und zwar, weil zu seinen Prinzipien nicht nur die Rechtsförmigkeit gehört - sondern auch die Verhältnismäßigkeit. Will der Staat nicht repressiv auftreten, muss er bisweilen einlenken.

Ist der Staat also die Geisel linker und rechter Gewalttäter? Die Frage ist falsch gestellt. Gegen vehementen Widerstand lässt sich in der offenen Gesellschaft kein staatliches Handeln durchsetzen - ganz gleich, wie rechtmäßig es ist. Das ist eben der Unterschied zur Diktatur.

Vor zehn Jahren erschien in Frankreich das inzwischen berühmte revolutionäre Manifest "Der kommende Aufstand". Darin ging es auch um die Frage der Gewalt: "Es gibt keinen friedlichen Aufstand. Waffen sind notwendig: Es geht darum, alles zu tun, um ihren Gebrauch überflüssig zu machen. (...) … In Wahrheit stellt sich die Frage des Pazifismus ernsthaft nur für denjenigen, der die Feuerkraft besitzt."

Das ist eine komplizierte Dialektik: Man kann nur auf die Gewalt verzichten, wenn man über sie verfügt.