Hamburgs Polizeichef über Kritik an G20-Einsatz "Besserwisser ohne Verantwortung"

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Erstveröffentlicht: 
15.07.2017

Wegen der Krawalle beim G20-Gipfel steht auch die Hamburger Polizei unter Druck. Behördenchef Ralf Martin Meyer wehrt sich gegen Kritik - und bestätigt, dass sich mehrere Einheiten weigerten, ins Schanzenviertel vorzurücken.

 

Auf einem langen Tisch im Foyer des Hamburger Polizeipräsidiums liegen Blumensträuße und Danksagungen aus. "Ihr seid einfach spitze", steht auf einer Karte geschrieben, am G20-Wochenende "bin ich ein richtiger Fan geworden."

 

Die Polizei erlebt nach den schweren Krawallen und dem Dauereinsatz in der Hansestadt große Solidarität aus der Bevölkerung. Bürgermeister Olaf Scholz lobte die "heldenhafte" Arbeit der Beamten.

 

Doch die Aufarbeitung des Gipfels ist längst nicht abgeschlossen, die CDU fordert den Rücktritt des Bürgermeisters, weil er sein Sicherheitsversprechen nicht eingehalten habe. Es gab auch scharfe Kritik an der Polizei: Ganze Stadtteile versanken im Chaos.

 

Wie kann es sein, dass Vermummte morgens ungestört im Wohnviertel Altona zündeln? Wie kann es sein, dass die Sternschanze stundenlang in der Hand von Randalierern ist, während die abgeschirmten Staatsgäste in der Elbphilharmonie Beethoven lauschen? Wie kann es sein, dass die Polizei tatenlos zuschauen muss, wenn Supermärkte geplündert werden?

 

Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer nimmt Stellung.

 

SPIEGEL ONLINE: Herr Meyer, haben Sie in den vergangenen Tagen an Rücktritt gedacht?

 

Ralf Martin Meyer: Nein. Ich glaube, das ist jetzt das Falscheste, was man machen kann. Ich halte auch die Diskussion über einen Rücktritt des Bürgermeisters für abstrus. Man muss die Teile des Einsatzes aufarbeiten, die nicht gelungen sind.

 

SPIEGEL ONLINE: Auf einer Skala von eins bis zehn - wie bewerten Sie den G20-Einsatz?

 

Meyer: Ich würde die Frage gern so beantworten, noch stark unter dem Eindruck der Ereignisse in Altona und der Sternschanze: Es gab vieles, was gelungen ist, aber auch Probleme.

 

SPIEGEL ONLINE: War die Sicherheit der Gipfelteilnehmer wichtiger als der Schutz der Bürger?

 

Meyer: Dass der Einsatz eine falsche Priorität gesetzt hat, stimmt nicht. Es hat nebeneinander bestehende Aufgaben gegeben.

 

SPIEGEL ONLINE: Was ist gut gelaufen?

 

Meyer: Zum Beispiel die Phase vor dem eigentlichen Gipfel. Hier gab es nur wenige Straftaten. Für den Gipfel gab es massive Hinweise auf Störungen, massive Ansagen von Extremisten: "Wir werden die Kolonnen der Politiker stoppen, wir werden sie angreifen, wir werden die Ströme des Kapitalismus im Hafen angreifen." All das ist nicht passiert. Auch während des Gipfels nicht. Man muss auch die vielen Stadtteile sehen, in denen es ruhig geblieben ist.

 

SPIEGEL ONLINE: Was ist aus Ihrer Sicht schiefgegangen?

 

Meyer: Vom Ergebnis her kann man sagen: Wir haben nicht genug verhindert. Aber man muss genau hinsehen: Die Polizei richtet ihre Präsenz nach Wahrscheinlichkeiten, nach naheliegenden Bedrohungsszenarien aus. Es gab für den Freitag viele Hinweise, dass Autonome in die Sperrzone eindringen wollen, um in einer Fünffingertaktik Fahrtrouten zu blockieren. Dass die sich dann schon unterwegs in kleine Gruppen aufteilen, zum Teil randalieren, sich immer wieder umziehen, hat etwas von einer Guerilla. Mit den Mitteln, die uns heute zur Verfügung stehen, ist so einer Taktik schwer beizukommen.

 

SPIEGEL ONLINE: Der Polizei wird vorgeworfen, unverhältnismäßig hart gegen Demonstranten vorgegangen zu sein. Derzeit laufen 35 Ermittlungsverfahren. Hatte die Polizei ihre Einsatzkräfte nicht im Griff?

 

Meyer: Umgekehrt ist die Anzahl der Verdachtsfälle gering für diese massenhaften Konfliktsituationen mit schwersten Attacken auf Einsatzkräfte. Auch wenn es einige Anzeigen zu Übergriffen von Polizisten gibt, dann muss das selbstverständlich das Dezernat für Interne Ermittlungen aufklären.

 

SPIEGEL ONLINE: Nach dem Gipfel klagten Berliner Polizisten über Kommunikationschaos. Und auch aus Ihrer Behörde hat uns Kritik erreicht, die Führung habe den Überblick verloren.

 

Meyer: Solche Kommentare gibt es immer. Besserwisser ohne eigene Verantwortung. Bei der "Welcome to Hell"-Demo wäre mir lieber gewesen, der schwarze Block hätte nicht über die Hafenmauer flüchten können. Aber da kommen Leute von außen hinzu, helfen denen hoch - und schon kommt der Plan ins Straucheln. Hinterher will dann irgendwer den Eindruck erzeugen, es sei chaotisch gewesen, weil es nicht plangemäß lief. Das sind Leichtmatrosen, die bei ruhigem Seegang sagen, man hätte alles besser machen können.

 

SPIEGEL ONLINE: Zitiert wurden Mitglieder von Hundertschaften, die hier im Einsatz waren.

 

Meyer: Auch bei denen gibt es solche Schlaumeier. Mir sind keine Hamburger Führungskräfte bekannt, die das so empfunden haben.

 

SPIEGEL ONLINE: Sie sprachen die "Welcome to Hell"-Demo an, wo es zu einer ersten Eskalation kam. War es ein Fehler, die Demo an dieser Stelle zu stoppen?

 

Meyer: Taktisch war der Ort richtig gewählt, weil wir festgestellt haben, dass der Veranstalter überhaupt keinen Einfluss auf den zweiten schwarzen Block hatte. Wir haben immer gesagt: Vermummung geht nicht, die Leute maskieren sich, um weitere Straftaten zu begehen. Mit solch einer Militanz durch Wohngebiete zu gehen, würde unkalkulierbare Risiken für die Anwohner bedeuten.

 

SPIEGEL ONLINE: Vorne haben die Leute ihre Tücher abgenommen. Warum lässt man die nicht ziehen?

 

Meyer: Weil die vermummte Gruppe dahinter null Reaktion gezeigt hat.

 

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie mit diesem Vorgehen den kompromisslosen Ton für den Gipfel gesetzt?

 

Meyer: Nein, diese Zuschreibung war doch vorher klar. "Die Polizei verhindert Camps, die Polizei will eine Demo-Verbotszone" - das alles und die Wahl des Einsatzleiters sei eine Provokation. So hatten wir zum Beispiel klare Erkenntnisse darüber, dass diese Protestcamps als Mobilisierungsraum von Militanten genutzt werden sollten. Das hat sich hinterher auch so bestätigt. Uns ging es darum, den vielen friedlichen Teilnehmern die Demonstration zu ermöglichen.

 

SPIEGEL ONLINE: Freitagmorgen zogen Vermummte los und fackelten in Altona ungestört Autos ab. Mehr Kontrollverlust geht nicht.

 

Meyer: Nochmal: Der Freitag war der Tag angekündigter Blockaden des Gipfels in der City. Das bereits auf dem Weg zum Gipfel Gruppen massiv Dinge beschädigen, war eine Überraschung. Das Angreifen in kleinen, schlagfertigen Gruppen, das ständige Wechseln der Camouflage, zwischen Vermummung und harmloser Kleidung, ist für die Polizei ein kaum zu lösendes Problem. Wir müssen überlegen, wie wir künftig mit diesen Tätern umgehen. Man könnte etwa über eine Art Markierung mit künstlicher DNA nachdenken.

 

SPIEGEL ONLINE: Wie soll das funktionieren?

 

Meyer: Etwa, indem man die Gewalttäter mit farbloser Flüssigkeit besprüht. Wenn sie dann später, in anderer Kleidung, an anderer Stelle auftauchen, wären sie für die Polizei zu identifizieren. Ich gehe davon aus, dass die Täter bei G20 mehrfach an verschiedenen Orten zugeschlagen haben, ohne dass man sie zuordnen konnte.

 

SPIEGEL ONLINE: Am Freitagabend war die Sternschanze stundenlang in der Hand von Randalierern. Warum hat die Polizei nicht früher eingegriffen?

 

Meyer: Als die ersten Feuer brannten, hat Einsatzleiter Hartmut Dudde die Einheiten planmäßig aufgefordert, auf das Schulterblatt vorzurücken. Aber es waren verschiedene Einheiten, die gesagt haben: Da besteht Lebensgefahr. Wir hatten Hinweise darauf, dass wir in eine Falle gelockt werden. Wir haben Angriffe von oben mit Zwillen, Molotowcocktails und anderem gesehen, von verschiedenen Dächern herab. Da mussten Spezialeinheiten her, um die Angreifer von den Dächern zu holen.

 

SPIEGEL ONLINE: Ein Unterstützungskommando aus Bayern hat sogar das bayerische Innenministerium eingeschaltet.

 

Meyer: Ja, sie haben mitgeteilt, dass es lebensgefährlich wäre, dort reinzugehen. Der Verfassungsschutz hatte schon am Nachmittag Hinweise gegeben, dass Polizeikräfte mit Molotow Cocktails angegriffen werden. Darum weigerten sich die Einsatzkräfte, vorzurücken.

 

SPIEGEL ONLINE: Klingt nach Meuterei.

 

Meyer: Natürlich ist das ein Konflikt, wenn der Einsatzführer sagt, wir müssen da jetzt rein. Und die Einheiten sagen: Ja, aber nicht wir. Die Gefahren, die dort nicht nur für die Polizeibeamten, sondern für alle Menschen in der Schanze drohten, waren ohne dass die Angreifer von den Dächern geholt werden, nicht zu kalkulieren. Dieses Ausmaß an Gewalt haben wir alle noch nicht erlebt.

 

SPIEGEL: Es gibt mehrere Zugänge in die Sternschanze, warum sind Sie nicht von einer anderen Seite vorgerückt?

 

Meyer: Das haben wir probiert. Es ging nicht, die Einheit wurde massiv, auch von erhöhten Positionen aus, angegriffen und musste sich zurückziehen.

 

SPIEGEL ONLINE: Dann hat es lange gedauert, bis bewaffnete Spezialeinheiten vor Ort waren.

 

Meyer: Sie waren nicht für Demo-Einsätze vorgesehen. Wir mussten sie erst zusammenziehen und hinbringen. Dann mussten die verschiedenen Einheiten sich abstimmen und den Einsatz vorbereiten. Das haben wir so schnell wie möglich getan.

 

SPIEGEL ONLINE: Wir haben einen Hinweis bekommen von einem Polizisten, der sagt, es habe die Anordnung gegeben, wir ziehen uns zurück und lassen die Autonomen in ihrem Wohnzimmer randalieren. Stimmt das?

 

Meyer: Nein!

 

SPIEGEL ONLINE: Halten Sie die kompromisslose Hamburger Linie, nach allem was passiert ist, noch für richtig?

 

Meyer: Es gibt keine kompromisslose Hamburger Linie. Das ist eine Rhetorik derjenigen, die im Nachhinein erklären wollen, dass die Gewalt derer, die sie gerufen oder unterstützt haben, so ausgeufert ist. Man muss sich doch nur mal ansehen, wie viele Demonstrationen es gab, die friedlich und mit wenig Polizei gelaufen sind. Selbst wenn es da teilweise Vermummung gab, ist diese nach Aufforderung entfernt worden und die Demonstration konnte weiter laufen.

 

SPIEGEL ONLINE: War Hamburg aus Ihrer Sicht ein geeigneter Ort für einen derartigen Gipfel?

 

Meyer: Es war eine große Herausforderung. Ich würde nicht sagen: Man darf einen Gipfel nie wieder in so einer Stadt durchführen. Aber man muss daraus lernen. Für mich gab es ganz viel Licht, nicht nur Schatten.