Verantwortung für die Opfer Europas

Erstveröffentlicht: 
10.07.2017

Mit den Flüchtlingen versinken im Mittelmeer die Werte von Humanismus und Menschenrechten. Gefordert sind jetzt die Vereinten Nationen

 

Schon viel zu lange sind wir Zeugen einer der größten humanitären Katastrophen und einer der größten politischen und moralischen Herausforderungen unserer Zeit: des täglichen massenhaften Todes von Flüchtlingen an Europas Grenzen. Nach jeder neuen Tragödie hören wir Sätze von markiger Betroffenheit, auf halbherzige Rettungsaktionen folgen fragwürdige und verantwortungslose Beschlüsse wie die Abschottung der Grenzen durch Zäune, Stacheldraht und Waffengewalt.

 

Das Mittelmeer als Kampfzone einer »bis an die Zähne« bewaffneten Allianz von Staaten gegen wehrlose Menschen auf seeuntauglichen Booten wird zum Symbol der Grausamkeit Europas und des Verlustes seiner menschlichen, angeblich »europäischen« Werte. Folge dieser Politik sind Tausende von Toten und Vermissten.

 

Diese haben, insbesondere nach der Einstellung der italienischen Seenot-Rettungs-Operation Mare Nostrum im Oktober 2014 und neuerlichen fürchterlichen Schiffskatastrophen mit Hunderten von Toten im April 2015, engagierte Bürgerinnen und Bürger der Zivilgesellschaft auf den Plan gerufen. In kurzer Abfolge gründeten sich in Deutschland Vereine wie SOS Mediterranee, Sea-Watch, See-Eye, Jugend Rettet und weitere Initiativen, sie sammelten Geld und Unterstützung und konnten ab dem Frühjahr 2016 die ersten Schiffe zur Rettung Schiffbrüchiger ins Mittelmeer entsenden. Die freiwilligen Helfer haben mit ihren Schiffen in mehreren hundert Einsätzen über 50 000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet oder aus akuter Seenot geborgen und an Bord versorgt.

 

Seit Beginn dieses Jahrhunderts sind mehr als 25 000 Menschen bei dem Versuch gestorben, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, über die Hälfte davon in den letzten dreieinhalb Jahren - 2014: 3000 Tote; 2015: 3600 Tote; 2016: 5000 Tote; bis Mai 2017: 1500 Tote. Ja, Europa entsendet auch Schiffe. Aber nicht, um vorrangig Menschenleben zu retten, sondern um »kriminellen Schleppernetzwerken« den Garaus zu machen. Diese dienen nur als Vorwand, um die Augen vor den realen Ursachen der Flucht von Millionen weiterhin verschließen zu können.

 

Damit nicht genug: Obwohl die zivilen Helfer mit ihren wenigen Booten inzwischen mehr als 4o Prozent aller Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer bewältigen, geraten nun ausgerechnet sie selbst ins Visier der europäischen Abschreckungspolitik. So unterstellt ihnen FRONTEX-Chef Fabrice Leggeri, sie seien der Grund für den Anstieg von Flüchtlingszahlen (und somit auch der Toten) im Mittelmeer. Sie würden Schlepper dadurch unterstützen, dass sie Flüchtlinge bereits in der Nähe der libyschen Hoheitsgewässer aufnähmen.

 

Dabei setzen die NGOs - allerdings mit weniger Kapazitäten - die Arbeit von Mare Nostrum fort und operieren auch nahe den libyschen Gewässern, wo es die meisten Seenotfälle gibt. Hingegen ist die Operation Triton, das europäische Nachfolgeprojekt von Mare Nostrum, auf Grenzkontrollen und Überwachung der Außengrenzen fokussiert und operiert nur nahe der italienischen Hoheitsgewässer.

 

Nach dem Gipfel von Malta am 3. Februar 2017, auf dem die EU-Regierungen politisch den Weg für die Schließung der zentralen Mittelmeerroute und für die »Überstellung« der Flüchtlinge nach Libyen ebneten, soll und muss nun gegen diejenigen »mobil« gemacht werden, die dieses zynische und menschenverachtende Konzept »durchkreuzen«: die zivilen humanitären Helfer mit ihren Rettungsschiffen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass - kaum wurde der Verdacht von FRONTEX öffentlich und in den Medien laut - beflissene Staatsanwaltschaften eilfertig tätig wurden und Ermittlungen wegen des Verdachts der Unterstützung illegaler Einwanderung und der Zusammenarbeit mit Schleppern aufnahmen. Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz setzte noch eins drauf und erklärte die Seenotretter kurzerhand zu »Partnern der Schlepper«, forderte »das Ende des NGO-Wahnsinns« und schlug Auffanglager »nach australischem Vorbild« außerhalb der EU-Staaten, etwa in Libyen, vor. Auch nach diesen demaskierenden Vorschlägen gab es keinen Protest und entschiedenen Widerspruch der europäischen Partner.

 

Auch wenn die Kampagne gegen die zivilen Seenotretter im Untersuchungsausschuss des italienischen Senats juristisch zusammenbrach, kann sie doch für die Seenotrettungs-Organisationen gravierende Folgen haben; denn sie bezweckt, die zivilen Helfer und größere Teile der Öffentlichkeit zu verunsichern und den Spendenfluss einzudämmen. Überdies bestärkt sie populistische, rassistische und auch kriminelle Gegner einer menschlichen Flüchtlingspolitik in ihrem gefährlichen Handeln - in ganz Europa.

 

Am 23. Mai dieses Jahres, als über 1000 Flüchtlinge von SOS Mediterranee und anderen zivilen Organisationen in einem heiklen Einsatz gerettet wurden, kam es zu einem bewaffneten Zwischenfall mit der libyschen Küstenwache, die Flüchtlinge bedrohte und das Leben Hunderter von Menschen in Gefahr brachte. Kurz zuvor hatten Rechtsradikale der sogenannten »Identitären Bewegung« versucht, die »Aquarius« in Sizilien am Auslaufen zu hindern. Nur durch das beherzte Eingreifen der Hafenbehörden von Catania konnte ihre freie Fahrt gesichert werden.

 

Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren und aus maroden Booten zu retten, ist für eine Gesellschaft, die den Menschenrechten und der Menschenwürde verpflichtet ist, eine völkerrechtliche, rechtsstaatliche, humanitäre und moralische Pflicht, die Politik nicht ignorieren darf. Ein Blick auf die heutige, auf über 65 Millionen angewachsene Zahl von Flüchtlingen weltweit und auf die jeweiligen radikalen nationalen und repressiven Abwehrstrategien gegen sie - in Europa, Australien, USA/Mexiko, Südostasien, Australien - verdeutlicht die ganze Dramatik der aktuellen Defizite, aber auch die jetzt dringend notwendigen humanitären und völkerrechtlichen Erfordernisse und Reformen in den Asylpolitiken der Staaten.

 

Angesichts des desaströsen Versagens der EU-Staaten in der größten humanitären Krise Europas nach Ende des Zweiten Weltkrieges sind heute - vor allen anderen - die Vereinten Nationen und ihr Generalsekretär als politische und moralische Führungsinstanz gefordert, sich dieser globalen Herausforderung zu stellen. Anknüpfend an die großen UN-Konferenzen der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts könnten maßgebliche UNO-Organe und ihre wichtigsten Organisationen im Zusammenspiel mit kompetenten, bei ihr assoziierten oder mit Konsultativstatus ausgestatteten NGOs sowie mit einigen, von der humanitären Flüchtlingskrise besonders betroffenen Ländern (Griechenland, Italien, Türkei) und einigen gutwillig bereiten Staaten (Schweden, Deutschland?) einen breiten Dialog initiieren, der seine Wirkung nicht verfehlen würde.

 

Antonio Guterres war schon in seiner Amtszeit als Hochkommissar für Flüchtlinge bemüht, das Mandat des UNHCR an die Notwendigkeiten des 21. Jahrhunderts anzupassen. In der »Nansen-Initiative«, gelang es ihm 2012, mithilfe einer kleinen Gruppe von Staaten einen Konsultationsprozess auf Staatenebene einzuleiten, der nach Lösungen für grenzüberschreitend vertriebene Menschen sucht, die Opfer des Klimawandels geworden sind. Ein erster (gewiss bescheidener) Erfolg stellte sich 2015 ein, als mehr als 100 Staaten eine UN-Resolution unterstützten, durch Naturkatastrophen vertriebene Menschen besser zu schützen.

 

Die UN-Weltkonferenzen der 90er Jahre (Weltklimagipfel, Weltkindergipfel, Menschenrechtskonferenz, Weltfrauenkonferenz u.a.) strebten mit Blick auf das bevorstehende 21. Jahrhundert Zielvorgaben und Lösungen für die drängendsten Probleme der Weltpolitik an. Sie erarbeiteten - bei starker Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Organisationen - Aktionspläne, formulierten Entwicklungsziele und Perspektiven, die noch heute Gültigkeit haben und - bei allen Abstrichen und berechtigter Enttäuschung über die mangelnde »Geschwindigkeit« ihrer Umsetzung - auch gegenwärtig noch die Grundlage und den Maßstab jeder Weiterentwicklung und Neujustierung ihres Agenda-Themas bilden. Durch ein solches »Empowerment« einer stärkeren, auch institutionell verankerten Zusammenarbeit auf UN-Ebene könnte und sollte ein zwischenstaatlicher Prozess zwischen direkt betroffenen Ländern auch im Fall der Mittelmeer-Flüchtlinge eingeleitet werden.

 

Impulse dazu könnten im Vorfeld von einer »UN-Dekade zum Schutz von Flüchtlingen und zur Bekämpfung der sozialen, ökonomischen, ökologischen und politisch-institutionellen Fluchtursachen« ausgehen. Diese von der UN beschlossenen Dekaden dienen vor allem der intensiven Aufklärungs- und Informationsarbeit in allen Ländern. Ein entsprechendes Vorgehen würde auch die engagierten BürgerInnen und die gesamte demokratische Zivilgesellschaft und nicht zuletzt die Seenotrettungshelfer in ihrem Einsatz für Demokratie und Menschenrechte stärken und ermutigen.

 

Im 2o. Jahrhundert, dem »Jahrhundert der Flüchtlinge«, hat die Zivilisation ihre Prüfung nicht bestanden. Im Mittelmeer, an seinen Außengrenzen, am heutigen und künftigen Umgang mit Flüchtlingen wird sich erweisen, ob Europa die Prüfung des 21. Jahrhunderts besteht.