Angehörige der NSU-Opfer verklagen Staat

Erstveröffentlicht: 
18.06.2017

Angehörige der Opfer der rassistisch motivierten NSU-Mordserie verklagen den Staat auf Schadenersatz. Ihr Vorwurf: Die untergetauchten Täter hätten festgenommen werden können, wenn Behörden es gewollt hätten.

 

Während sich der NSU-Prozess in München nach vier Jahren langsam dem Ende nähert, wird in Nürnberg ein zweites Verfahren im Zusammenhang mit der rassistisch motivierten Mordserie vorbereitet. Zwei Familien haben den Staat auf Schadenersatz verklagt - Angehörige der beiden NSU-Mordopfer Enver Simsek und Ismail Yasar, die mutmaßlich beide in Nürnberg von den Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen wurden.

 

Einer der Kläger ist Abdulkerim Simsek. Er war noch ein Kind, als sein Vater am 9. September 2000 ermordet wurde. Ein Bild habe sich seitdem in seinem Gedächtnis festgesetzt: „Wie mein Vater schwer verletzt auf der Intensivstation im Krankenhaus lag, mit den Schussverletzungen“, berichtet er. „Wie man uns gesagt hat, dass er sterben wird.“

 

Schon zu Jahresbeginn hat Simsek gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester vor dem Landgericht Nürnberg die Klage gegen den Staat eingereicht, genauer: gegen den Freistaat Bayern, den Freistaat Thüringen und die Bundesrepublik Deutschland. Es geht um 50 000 Euro für jedes Familienmitglied. Dasselbe fordert die Familie Yasar. Das Nürnberger Gericht bestätigt auf Anfrage, dass beide Klagen „anhängig“ sind.

 

„Erst haben Nazis unser Leben zerstört, weil der Staat uns nicht schützen konnte oder wollte“, begründet Simsek seinen Schritt. „Und dann hat uns der Staat noch einmal verraten“, sagt er und meint damit die Polizisten, die seine Familie verdächtigten und seiner Mutter vorgaukelten, sein Vater habe ein Doppelleben mit einer Geliebten geführt - frei erfunden, wie sich herausstellte und inzwischen im Aktenbestand des Münchner NSU-Prozesses nachzulesen ist.

 

Beide Schadenersatzklagen kommen allerdings nur langsam voran. Im Fall Yasar erbitten die drei staatlichen Beklagten „seit mehreren Monaten immer wieder Fristverlängerung für ihre Stellungnahmen“, sagt Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, der beide Familien vertritt. Das sei aber auch verständlich, „weil der Prozessstoff äußerst umfangreich ist“. Im Fall Simsek hat das Gericht die Klage noch nicht zugestellt, weil der Vorschuss für die Gerichtskosten noch nicht vollständig beglichen sei, teilt ein Gerichtssprecher mit.

 

Daimagüler wirft in den Klageschriften staatlichen Stellen vor, sie hätten das untergetauchte NSU-Trio - Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe - im Jahr 1998, spätestens aber 2000 verhaften können. Das hätten die Behörden aber versäumt. Außerdem habe der Staat mehrere Hunderttausend Euro an V-Leute ausbezahlt, die mit dem Geld die Terroristen unterstützt hätten. Nach den Morden wiederum hätten die Ermittler die Opferfamilien oder deren Umfeld verdächtigt. „Unsere Klage stützt sich auf die Erkenntnisse zahlreicher Untersuchungen, etwa von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und natürlich auch aus der Beweisaufnahme im NSU-Prozess“, sagt Daimagüler.

 

Die beiden Klagen der Familien Simsek und Yasar werden voraussichtlich nicht die einzigen bleiben. Auch ein Angehöriger des in Rostock von Mundlos und Böhnhardt ermordeten Mehmet Turgut hat seinen Anwalt, Bernd Behnke, mit einer Klage beauftragt. Behnke sagte, er warte zunächst das Ende des NSU-Prozesses ab. Eine Amtshaftungsklage vor einem deutschen Gericht schätzt er als „sehr schwierig“ ein.

 

„Aber“, so Behnke, „es gibt auch die Möglichkeit, vor ein ausländisches Gericht zu ziehen und dort den deutschen Staat zu verklagen.“ Er denke dabei an ein türkisches Gericht, in Istanbul oder Ankara. Auch Daimagüler plant schon weiter: „Wir werden notfalls alle Instanzen ausschöpfen.“