das neue NPsychKG: Kritische Begleitung einer Anhörung im Ausschuss

Demonstrant*innen vor dem Landtag in Hannover

Am 9. März 2017 fand eine Anhörung zum neuen NPsychKG (=„Niedersächsisches Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke) im Niedersächsischen Landtag (Hannover) statt. Ab Sommer 2017 soll dieses Gesetz in Kraft treten. Die Initiative Zwangbefreit (IZB) begleitete zunächst diese Anhörung kritisch mit einer spontanen Kundgebung vor dem Landtagsgebäude und kam später selbst im Landtag zu Wort (genauer: im Ausschuss des Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Migration). 

 

Da die Anhörung um 9.30 Uhr begann, verteilten die Aktivist*innen der IZB (Initiative Zwangbefreit) bereits ab ca. 9.00 Uhr um den Landtag herum Flyer, hielten eine Rede und machten mit einem Banner mit der Aufschrift „Für Menschenrechte in der Psychiatrie“ auf ihr Anliegen aufmerksam.

 

Als die Aktivist*innen zu den Räumlichkeiten der stattfindenden Anhörung gelangen wollten, ergab sich eine längere Wartezeit für diese. Denn der Sicherheitsdienst wurde hinzugezogen. Die Begründung für diese Maßnahme war die vorangegangene „Demonstration“. Nach mehreren Telefonaten einer*eines Angestellten im Foyer des Landtages mit Sicherheitsmenschen wurden die Aktivist*innen unter der Voraussetzung hineingelassen, Transparent und Megafon abzugeben und wurden vom Sicherheitsdienst zum Anhörungsraum begleitet.

 

Dort angekommen war die Anhörung bereits im Gange. Verschiedene Gruppen äußerten sich zum neuen Gesetzentwurf:

 

Verständlichkeit des neuen Gesetzes

 

Viele Vortragende merkten an, dass der NpsychKG-Entwurf sehr schwer zu verstehen sei. Vor allem die Paragraphen 21 und 22 seien selbst für juristisches Fachpersonal schwierig bis gar nicht nachzuvollziehen. Mit zu komplizierten Formulierungen fällt es natürlich kritisch eingestellten und Betroffenen-Gruppen schwerer Kritik zu üben, da schlecht auf etwas reagiert werden kann, was nicht verstanden wird.

 

Gesetzliche Betreuung durch Zwangs“behandlung“

 

Die Landesgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege kritisierte z.B. Paragraph 21. Denn nach diesem Paragraphen wird/würde es in Zukunft so laufen, dass auch Menschen, die nur kurzfristig in einer Psychiatrie untergebracht sind und dort „behandelt“ (also meistens zwangsmedikamentiert) werden nach wenigen Tagen eine gesetzliche Betreuung aufgezwungen wird. Sie schätzt, dass das „dreiviertel der so untergebrachten Personen mehr“ als bisher betreffen würde. Dabei gab sie auch zu bedenken, dass Betreuungen einfacher „eingerichtet“ als loszuwerden sind.

 

Die IZB gibt an dieser Stelle weiterführend zu bedenken, dass eine Betreuung immer mit Entrechtung einhergeht. Außer dem direkten und oft entwürdigenden Eingriffen in die Privatsphäre bedeutet eine gesetzliche Betreuung in einigen Fällen auch weniger Möglichkeit zur politischen Teilhabe. Den Menschen, die sich in allen „Angelegenheiten“1 in dieser Struktur befinden, wird das Recht zum Wählen gehen und sich selbst zur Wahl aufstellen zu lassen abgesprochen.2

 

Zwangs“behandlung“ mit und ohne zugestandener „Einwilligungsfähigkeit“

 

Kurze Erklärung zum Begriff „Zwangsbehandlung“ oder Zwangs“behandlung“: Das Wort wird in der psychiatrischen Sprache meistens synonym zur Zwangsmedikation (also der Verabreichung von Medikamenten -oder auch psychiatrischen Drogen- unter Zwang) benutzt. Es kann aber auch Operationen und andere Körperliche Eingriffe gegen den Willen bedeuten. In jedem Fall beinhaltet eine Zwangs“behandlung“ eine Körperverletzung. In diesem Artikel setzen wir das Wort „Behandlung“ in Anführungszeichen weil es beschönigend klingt.

 

Ein Kritikpunkt, den z.B. die Niedersächsische Psychiatriekonferenz anmerkte, ist die Zwangs“behandlung“ gegen den Willen Betroffener, denen eine „Einwilligungsfähigkeit“ zugestanden wird (§21 b Absatz (2)). Hiervon distanziert sich also sogar diese Psychiater*innen-nahe Gruppe. Trotzdem positioniert die sich wiederum positiv gegenüber der Zwangs“behandlung“ von Personen, denen eine „Einwilligungsfähigkeit“ abgesprochen wird (also laut psychiatrischer Definition als „einwilligungsUNfähig“ gelten).

 

Juristisch (bisher im Betreuungsgesetz im BGB (Bürgerlichem Gesetzbuch) ab § 18963) wird zwischen dem „natürlichen Willen“ und dem „freien Willen“ ein Unterschied gemacht. Der „freie Wille“ wird nach dieser Kategorisierung so beschrieben: Vorhandensein von „Einsichts-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit“.

Der „natürliche Wille“ beinhalte das Fehlen von einem oder mehreren Kriterien vom „freien Willen“4. Sobald einer Person nur noch ein „natürlicher Wille“ zugestanden wird, wird sie aus psychiatrisch-juristischer Sicht als „einwilligungsUNfähig“ angesehen. Nach neuem NPsychKG-Entwurf wäre es also möglich Betroffene gegen ihren juristischen „freien Willen“ zu „behandeln“ - aber auch eine „Behandlung“ gegen den „natürlichen Willen“ wäre neu. Wenn sich dieser Teil des Gesetzes durchsetzen würde, hätte psychiatrisch legitimierte Macht ein neues Ausmaß erreicht. Tatsächlich hätten Psychiater*innen mit der Durchsetzung dieses Paragraphens die gesetzliche Möglichkeit zur Willkür ohne Grenzen. In der Praxis vielleicht bis jetzt kein großer Unterschied (--nicht legitimiert haben sich viele Psychiatrien ja trotzdem über das Gesetz hinweggesetzt und jahrzehntelang ohne gesetzliche Grundlage Medikamente mit Zwang verabreicht/gespritzt). Die IZB befürchtet aber, dass die Arroganz mancher Psychiater*innen sich mit der Verabschiedung dieses Paragraphens insoweit bestärkt, dass diese sich in Zukunft noch unhinterfragter und mit Rückenstärkung anmaßen könnten ihre eigene subjektive Sicht auf Geschehnisse, ihre Einstellung zum Leben und ihre Ideologie auf Patient*innen mit Druck übertragen zu wollen. Diese Machtstellung könnte dann zu Versuchen einer gesetzlich legitimierten Gleichmachung im Sinne einer gewollten kompromisslosen gesellschaftlichen Anpassung aller „Behandelten“ führen. Wir sehen in diesem Paragraphen ein hohes Gefahrenpotential zum Absprechen jeglicher Individualität.

Denn wenn einer Person zwar zugestanden wird, die Ausmaße ihrer Entscheidungen vollkommen einkalkulieren zu können, ihr aber trotzdem aufgrund der Ansicht der*des Psychiater*in, dass es z.B. „besser“ für Dritte sei, Zwangs“behandlungen“ vorzunehmen, dann handelt diese*r Psychiater*in über das zugestandene Individuum hinweg und ersetzt die Prioritäten ihrer*seiner „Patient*in“ durch ihre*seine eigene. Ein solches Verhalten würde für Betroffene bedeuten: „Das was du denkst und fühlst ist zwar richtig aber egal, da du z.B. sediert/ unter Neuroleptika angepasster/angenehmer bist.“

 

Die Landesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener Niedersachsen e.V. (LPEN e.V.) hingegen äußerte sich der Zwangsmedikation/“-behandlung“ gegenüber überhaupt kritisch und betonte, dass diese unter viel zu weit gefassten Begründungen stattfinde. Desweiteren führte der Verein den Begriff der zu wahrenden „Autonomie“, neben der „Würde“ in den Gesetzesentwurf ein.

Auch wenn die Initiative Zwangbefreit nicht in allen Bereichen mit der Meinung der Landesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V. übereinstimmt, sind wir uns in diesem Punkt mehr als einig: Zwang(s“behandlung“) geht niemals spurlos an Betroffenen vorbei und schafft in vielen Fällen (neue) Traumata!

 

Deshalb und aus Solidarität mit allen Psychiatrie-Erfahrenen wollte es sich die IZB (Initiative Zwangbefreit) nicht nehmen lassen, ebenfalls eine kleine Stellungnahme zu Zwangsmaßnahmen, in Einverständnis mit der LPEN e.V. abzugeben. Nach einer kurzen personenübergreifender Überlegung des Ausschusses, wurde uns das Wort erteilt. Die Rede ist unten angefügt.

 

Obwohl von vielen Redner*innen diskriminierende Äußerungen getan wurden, gibt es einen Gipfel: Matthias Koller (Vorsitzender Richter am Landgericht Göttingen)5 äußerte sich allen freiheitsberaubenden und körperverletzenden Maßnahmen gegenüber gänzlich realitätsfern und unsagbar unkritisch. Er sprach sich unter anderem dafür aus, Zwangsmaßnahmen wie „Zimmergebot“ der Befugnis von Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen und -wissenschaftler*innen zu oblegen. Er begründete das mit einem „Ausdruck der Wertschätzung für diese Berufsgruppen“. Außerdem plädiert er für Zwangs“behandlung“ gegen den „freien Willen“ von Betroffenen. Als er seine Überlegungen über einen Unterbringungsbeschluss auf einer offenen Station zuletzt ausführte, schloss er seine Stellungnahme zu den Zwangsmaßnahmen mit dem Satz: „Ich meine, dass das, so wie es da drin steht, gut ist und überhaupt nicht widersprüchlich sondern sinnvoll und der Behandlung angemessen.“

 

Natürlich sieht die IZB (Initiative Zwangbefreit) jede Art von Zwang gänzlich kritisch und äußert sich gegen Zwangsanwendung insgesamt. Eine Einteilung des Willens in „natürlich“ und „frei“ ist unzulässig. Denn diese Einteilung ist immer von Menschen abhängig. Und kein Mensch kann so objektiv sein, dass er für eine andere Person lebenswichtige Entscheidungen treffen kann (es sei denn die betroffene Person wünscht das). Bei einer Einteilung in „natürlicher Wille“ und „freier Wille“ besteht immer die Gefahr und/oder die Situation, dass eine subjektive Einschätzung durch eine andere subjektive Einschätzung -nämlich die der*des Psychiater*in oder Betreuer*in- ersetzt wird. Dass das gefährlich ist, liegt auf der Hand: Wenn Menschen in ihrer Sichtweise nicht ernst genommen werden und jede eigene Entscheidung in Frage gestellt wird, ist das ein unzulässiger Übergriff in die Individualität menschlichen Daseins.

 

Als die Anhörung zu Ende war, wurden Flyer verteilt (auch an Matthias Koller). Alle anwesenden Personen haben einen oder mehrere mitgenommen, was uns sehr gefreut hat.

Der Sicherheitsdienst holte uns, sehr konsequent, wieder bei den Anhörungs-Räumlichkeiten ab. Um sicherzugehen, dass wir wirklich das Gebäude verlassen, wurden wir auch hier aus dem Gebäude hinausbegleitet.

 

Wir hoffen und wünschen, dass bisherige Zwang(s“behandlungs“)-Befürworter*innen sich in Zukunft gegen Zwang(s“behandlung“) aussprechen! Und wenn dem nicht so ist (und sowieso), bleiben wir (Initiative Zwangbefreit) auf jeden Fall am Ball!

 

Selbstbestimmung statt Zwang(s“behandlung“)!

 

Für eine konsequente Achtung der Menschenwürde!

 

 

Hier der im Ausschuss verlesene Text:

 

Wir wollen eine Psychiatrie, die Menschenrechte achtet und nicht über Köpfe Betroffener hinweg über die medizinische Versorgung entscheidet.

Medikation, Behandlung und Krankheitsdefinition haben allein der Definitions- und Entscheidungsmacht der Menschen zu unterliegen, die am meisten davon betroffen sind. Und das sind nicht Psychiater*innen, Therapeut*innen oder Pfleger*innen, sondern die Betroffenen selbst und Angehörige. Wen Menschen in psychiatrische „Behandlung“ miteinbeziehen, ist ganz allein von Betroffenen abhängig zu machen.

In dem Gesetz, das heute besprochen wird, soll nach den bisher vorgeschlagenen Änderungen eine rechtliche Grundlage für Körperverletzung - nämlich Medikamentengabe unter Zwang - geschaffen werden. Und das ist neu. Denn bisher fehlt eine rechtliche Legitimation für die Zwangsmedikation. Zwar werden bisher in psychiatrischen Einrichtungen, wie den Kliniken Wahrendorff nahe Hannover (bei Sehnde) und dem AWO Psychiatriezentrum in Königslutter Medikamente mit Zwang und Gewalt verabreicht, jedoch fehlt bisher in den manchen Bundesländern die gesetzliche Verankerung dazu. Das bedeutet, dass in psychiatrischen Einrichtungen in z.B. Niedersachsen, wo bisher zwangsbehandelt wird, rechtlich nicht legitimierte Gewalt stattfindet. Nach einer Klage in einer forensischen Psychiatrie, steht diese nicht rechtlich begründete Zwangsmedikation öffentlich unter starker Kritik und ist nicht erlaubt, wird jedoch unter der Hand in vielen Kliniken weiterhin praktiziert. Die Lösung für dieses Problem kann allerdings nicht sein, Zwangsbehandlung einfach zu erlauben, sondern es muss an Maßnahmen gearbeitet werden, die für Betroffene und Angehörige wirklich hilfreich sind und sie nicht (aufs neue) traumatisieren.

Es müssen Räume geschaffen werden, die offen und aufrichtig mit den Persönlichkeiten und Problemen betroffener Menschen umgehen und sie nicht auf Diagnosen reduzieren. Denn das führt immer zu Pauschalisierung, die niemals das ganze Individuum miteinbeziehen kann.

 

Jede Art von Zwang und Gewalt ist abzuschaffen. Denn sobald Gewalt oder Zwang angewendet werden, findet eine Unterdrückung statt und das ist nicht zulässig.

Menschen mit psychiatrischen Diagnosen haben Rechte und die gilt es zu achten und zu schützen.

Einsperren, Fesseln und Spritzen stehen in einem starken Widerspruch zur Menschenwürde und haben deshalb in Psychiatrien und anderswo nichts zu suchen (sagt auch Juan E. Mendez, UN-Sonderberichterstatter der UN-Anti-Folter-Konvention)! Krisen können nur dann erfolgreich überstanden werden, wenn nicht ständig neue schlimme Erfahrungen dazu kommen. Persönlichkeiten und Lebensweisen schützen!

Freiheit für alle!

 

IHRE IZB (Initiative Zwangbefreit)!“

 

 

(Der vorangegangene Text, der im Ausschuss verlesen wurde, wurde auch bei der Demo vorgelesen, nur der folgende Absatz kam dabei noch vorweg:

 

Das neue NPsychKG - eine Farce

 

Heute stehen wir hier, weil in diesem Gebäude, dem Ministerium für Gesundheit, Soziales und Gleichstellung eine Anhörung stattfindet.

In dieser Anhörung wird das neue NPsychKG – also das Niedersächsische Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke – von mehreren Gruppen kommentiert. Unter anderem kommen die Niedersächsiche Ärztekammer, die Niedersächsische Psychiatriekonferenz, der Landesfachbeirat Psychiatrie und viele mehr zu Wort. Die Betroffenen- und Angehörigen sind in dieser Anhörung durch zwei Verbände repräsentiert und damit in der deutlichen Minderheit. Dabei sind diese in diesem Diskurs sehr wichtig, da sie echte Erfahrungswerte zu teilen haben.

Deshalb haben wir – die Initiative Zwangbefreit (IZB) - beschlossen, an diesem Event teilzuhaben und das Geschehen mit einer kleinen Spontankundgebung zu kommentieren. Wir äußern unsere Solidarität mit der Landesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener in Niedersachsen (LPEN e.V.) und hoffen auf offene Ohren bei den Gesetzgeber*innen.

Denn: [...]“)

 

1„Angelegenheiten“ werden Lebensbereiche genannt, in denen Betreuer*innen bei unter Betreuung stehenden Menschen eingreifen. Diese sind: Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Wohnungsangelegenheiten, Vermögenssorge, Vertretung gegenüber Behörden, Postkontrolle. Es können nach Betreuungsgesetz eine bis alle „Angelegenheiten“ von der*dem Betreuer*in „übernommen“ werden.

4Quelle: http://www.lasv.brandenburg.de/media_fast/4055/1_Merker_Wille_und_Wohl_des_Betroffenen_rechtliche_Betreuung_Folien.pdf