Vor 40 Jahren: Eine Gefangenenbefreiung

Erstveröffentlicht: 
12.05.2010

Der 14. Mai 1970 gilt als Gründungsdatum der Roten Armee Fraktion (RAF). Andreas Baader wurde an diesem Tag aus dem Gefängnis befreit, Ulrike Meinhof ging in die Illegalität.

 

Die Hamburger Journalistin Ulrike Meinhof schrieb 1969 das Drehbuch zu dem Fernsehfilm »Bambule« über die autoritären Methoden der Heimerziehung und die Revolte weiblicher »Fürsorgezöglinge«. Zur gleichen Zeit initiierte die Außerparlamentarische Opposition (APO) eine Heimkampagne. Im Juni 1969 versammelten sich 200 Menschen, darunter auch Gudrun Ensslin und Andreas Baader, vor dem hessischen Jugendheim Staffelberg und prangerten die Zustände in den Heimen an. Daraufhin kam es dort zu Revolten, Insassen flüchteten und fanden Zuflucht in linken Wohngemeinschaften. Ein Jahr später, am 1. Mai 1970, verteidigte Ulrike Meinhof mit anderen ein besetztes Haus im Märkischen Viertel, der Neubau-Siedlung im Norden Westberlins. In dem leerstehenden Gebäude wollten die Besetzer ein Jugendzentrum einrichten. Die Heimkampagne sollte weitergehen.

Am 14. Mai 1970 erwartete Ulrike Meinhof den im Vormonat verhafteten Andreas Baader in der Bibliothek des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen in Berlin-Dahlem. Sie hatten angegeben, gemeinsam ein Buchprojekt über die Organisierung randständiger Jugendlicher zu planen und erfolgreich die Nutzung der Bibliothek beantragt. Tatsächlich sollte Andreas Baader, den wegen einer Kaufhausbrandstiftung in Frankfurt am Main mindestens 34 Monate Haft erwarteten, an diesem Tag befreit werden. Während dieser Aktion erlitt ein Institutsangestellter eine Schussverletzung; allen an der Befreiung Beteiligten, einschließlich Andreas Baader, gelang die Flucht über den Garten. Gegen Ulrike Meinhof wurde eine Großfahndung eingeleitet. Steckbriefe versprachen 10 000 DM Belohnung. Die Befreiungsaktion in Westberlin galt später als Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion (RAF).

 

Befreiung weltweit

Spätestens als ab September 1969 in Brasilien, Guatemala und Uruguay mehrere Botschafter westlicher Staaten von Stadtguerillagruppen entführt und gegen politische Gefangene ausgetauscht wurden, diskutierte auch die radikale Linke in der Bundesrepublik über Gefangenenbefreiung – ebenso wie über den bewaffneten Kampf. Eine weitere Inspiration hierzu stammte ebenfalls aus Lateinamerika: das »Minihandbuch des Stadtguerillera« des Brasilianers Carlos Marighella. Auch in Afrika und Asien kämpften antikoloniale Befreiungsbewegungen gegen die Regime in ihren Ländern und die militärischen Interventionen der USA und westeuropäischer Staaten. In diesem Kontext entstanden auch in Westeuropa Guerillagruppen. Die Metropolenguerilla, erklärte Ulrike Meinhof in einer Prozesserklärung 1974, könne dem Imperialismus dort, von wo aus er seine Truppen, seine Waffen, seine Ausbilder, seine Technologie zur Unterdrückung und Ausbeutung der Dritten Welt exportiere, in den Rücken fallen und damit die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt unterstützen.

Bereits während des Vietnam-Kongresses im Februar 1968 in Westberlin planten Teilnehmer im Rahmen der Kampagne »Zerschlagt die NATO« Waffentransporte und Kriegsschiffe durch Anschläge zu sabotieren. Dies sah Hans-Jürgen Krahl in seiner Kongressrede als eine Voraussetzung, um »vom Protest zum politischen Widerstand« überzugehen. Er ging davon aus, dass sich dafür »informelle Kader und Aktionszellen bilden werden«. Mit ihren bisherigen Protest- und Organisationsformen waren die APO-Aktivisten an Grenzen gestoßen. Ulrike Meinhof zeigte sich im Frühjahr 1970 überzeugt, allein mit Schreiben nichts mehr erreichen zu können.

Aus der weltweiten Aufbruchstimmung – die Weltrevolution schien für viele greifbar nahe – entstand auch in der Bundesrepublik ein dringendes Bedürfnis nach Organisation einer Gegenmacht. Teile der zerfallenden APO versuchten es mit dem Aufbau von Parteistrukturen und gründeten die KPD/AO (Aufbau-Organisation), ein anderer Teil proklamierte: »Die Rote Armee aufbauen«. So war der Brief vom Mai 1970 zur Baader-Befreiung an die Zeitung »agit 883« überschrieben, der als erste Veröffentlichung der RAF gilt. Die Redakteure dieser undogmatischen Zeitung und weitere Teile der radikalen Linken waren von Repression und Gefängnis bedroht. Um politisch handlungsfähig zu bleiben, sollten die »Genossen von 883« ein sicheres, klandestines Vertriebsnetz aufbauen, empfahlen die Briefautoren. Um sich nicht schnappen zu lassen, müsse sich illegal organisiert werden.

Ulrike Meinhof sprach im September 1974 in einer Rede im Prozess zur Baader-Befreiung (siehe Kasten). Sie ging in ihrer Prozesserklärung auch auf Funktionen und Ziele der Stadtguerilla ein, aber auch auf Schwierigkeiten, mit denen die RAF anfangs konfrontiert war. Der Versuch, den weltumspannenden Imperialismus zu zerschlagen und grundlegende Veränderungen herbeizuführen, ist nicht gelungen. Die Parteiorganisationen waren nicht erfolgreicher.

Am 24. Mai 1970, zehn Tage nach der Befreiung von Andreas Baader, sollte zur besten Sendezeit Ulrike Meinhofs »Bambule« gesendet werden. Die ARD wollte jedoch keinen Film einer steckbrieflich Gesuchten ausstrahlen und setzte ihn kurzerhand ab. Erst im Jahr 1994 ist »Bambule« im deutschen Fernsehen ausgestrahlt worden. Zu der Zeit war die RAF fast schon Geschichte. Vier Jahre später, im März 1998, erklärte sie ihre Selbstauflösung.

 

Dokumentiert: Zur Befreiung von Andreas

"Unsere Aktion am 14. Mai 1970 ist und bleibt die exemplarische Aktion des Metropolenguerilla. In ihr sind / waren schon alle Elemente der Strategie des bewaffneten, antiimperialistischen Kampfes enthalten: Es war die Befreiung eines Gefangenen aus dem Griff des Staatsapparats. Es war eine Guerilla-Aktion, war die Aktion einer Gruppe, die zum militärpolitischen Kern wurde, durch den Entschluß, die Aktion zu machen. Es war die Befreiung eines Revolutionärs, eines Kaders, der für den Aufbau der Metropolenguerilla unentbehrlich war und ist, nicht nur wie jeder Revolutionär in den Reihen der Revolution unentbehrlich ist, sondern weil er schon damals alles das, was die Guerilla, die militärpolitische Offensive gegen den imperialistischen Staat erst ermöglicht, schon verkörperte: die Entschlossenheit, den Willen zu handeln, die Fähigkeit, sich selbst nur und ausschließlich über die Ziele zu bestimmen, dabei den kollektiven Lernprozess der Gruppe offenzuhalten, von Anfang an Führung als kollektive Führung zu praktizieren, die Lernprozesse jedes einzelnen kollektiv zu vermitteln.

Die Aktion war exemplarisch, weil es im antiimperialistischen Kampf überhaupt um Gefangenenbefreiung geht, aus dem Gefängnis, das das System für alle ausgebeuteten und unterdrückten Schichten des Volkes schon immer ist und ohne historische Perspektive als Tod, Terror, Faschismus und Barbarei; aus der Gefangenschaft der totalen Entfremdung und Selbstentfremdung, aus dem politischen und existentiellen Ausnahmezustand, in dem das Volk im Griff des Imperialismus, der Konsumkultur, der Medien, der Kontrollapparate der herrschenden Klasse, in Abhängigkeit vom Markt und vom Staatsapparat zu leben gezwungen ist."

Ulrike Meinhof, 13. 9. 1974

Der vollständige Text ist dokumentiert: http://labourhistory.net/raf/read.php?id=0019740913

 

Zum Weiterlesen:

Ditfurth, Jutta: Ulrike Meinhof. Die Biografie. Ullstein, 2007.

SDS Westberlin / INFI (Hg.): Internationaler Vietnam-Kongreß Februar 1968 Westberlin. Verlag Libertäre Assoziation, 1987.

Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. ID-Verlag, 1997.