Kapitalismus am Sterbebett

Erstveröffentlicht: 
14.07.2016

Niedriglöhne, Ausbeuterverträge: Viele Menschen hadern mit dem Wirtschaftssystem. Warum, das zeigt ein Abend mit Sahra Wagenknecht und dem Soziologen Wolfgang Streeck.

 

Von Lenz Jacobsen, Köln

 

Auf den Treppen stehen Ordner in gelben Westen und halten die Kapitalismuskritiker auf, nur gruppenweise werden sie vorgelassen. Der Eintritt ist frei an diesem Abend – und das lässt die Nachfrage steigen. Geschätzte 2.000 Besucher wollen in den Hörsaal der Kölner Universität. Demgegenüber steht das Angebot von ein paar Hundert Sitzplätzen. Kapitalismuskritik, live und prominent, ist ein knappes Gut.

Es gibt gute Gründe für diese Nachfrage, und damit auch gute Gründe, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Dienstag Abend veranstaltete Diskussion mit der Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht und dem Soziologen Wolfgang Streeck zu besuchen. Zwar boomt die Wirtschaft in Deutschland, aber darunter boomt auch etwas anderes: das Unwohlsein an der kapitalistischen Gegenwart.

Dazu gehören Werkverträge, Leiharbeit, Minijobs. Es ist das ganze prekäre Dickicht am unteren Ende des Arbeitsmarktes, in dem viele längst auf Dauer verfangen sind. Die Banken, die nach der Finanzkrise fast ebenso unreguliert spekulieren können wie vorher. Vieles kommt hier zusammen: Wie hilflos eine gewählte nationale griechische Regierung war gegenüber den Auflagen der Troika von Brüsseler Beamten und internationalen Finanzinstitutionen. Die geplante Entmachtung nationaler Rechtsstaatlichkeit durch Freihandelsabkommen wie TTIP. Das weckt in vielen Menschen Zweifel an diesem System und steigert ihre Wut darauf. Der Vorwurf lautet: Die kapitalistische Demokratie liefert nicht das, was sie versprochen hat, eben Aufstiegschancen und soziale Sicherheit und vor allem das Gefühl, wertvoller Teil eines funktionierenden großen Ganzen zu sein. Und eben nicht der Bodensatz einer zersplitterten Gesellschaft.

War also der Kapitalismus tatsächlich so gedacht? Oder ist der längst kaputt?

Wolfgang Streeck, lange Zeit Direktor des Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, setzt sich seit Langem mit der Kapitalismuskritik auseinander. Er formuliert das in Köln mit historischer Nüchternheit: "Alles was einen Anfang hat, hat auch ein Ende." Vor 250 Jahren gestartet, werde der Kapitalismus nun von seinen "drei apokalyptischen Reitern" heimgesucht: sinkendes Wachstum, wachsende Ungleichheit, steigende Schulden. Die drei Dynamiken verstärken sich gegenseitig.

Der Kapitalismus breitet sich aus

Im Bedürfnis, den Laden trotzdem am Laufen zu halten, vereinnahmt der Kapitalismus immer neue Bereiche der Gesellschaft: Gesundheit (private Krankenhäuser), Bildung (Privatschulen und -Unis), Liebe (Dating-Apps). In manchen Bereichen wird er aggressiver, vor allem mit Hilfe der Digitalisierung (die Taxi-App Uber und AirBnB). Dieser Kapitalismus "greift die Gesellschaft an, die er eigentlich braucht", sagt Streeck. Eine Gesellschaft gesunder, freier und sicherer Bürger mit unkapitalisierten Rückzugsräumen. Der Soziologe prognostiziert eine Art Rückfall: Nach der kurzen Phase der Stabilität zwischen 1945 und 1975 werde das "Tier" Kapitalismus "wieder genauso gefährlich, wie es vorher war, weil es aus allen Regelungsregimen rausbricht."

Spannend ist, wer von den beiden den Kapitalismus schon aufgegeben hat und wer ihn noch reformieren will. Die Sozialistin Wagenknecht will an den Eigentumsverhältnissen schrauben, damit der Kapitalismus nicht mehr "so viele Menschen in Schwierigkeiten bringt." Damit nicht mehr einige wenige die Gewinne einstreichen und die Politik bestimmen. Den Reichen das Geld wegnehmen und damit die Staatsschulden bezahlen: Für diese Forderung bekommt Wagenknecht den größten Applaus des Abends.

Coping, doping, hoping, shopping.
Wolfgang Streeck

Streeck dagegen glaubt nicht mehr an solche Renovierungsmaßnahmen. Er prognostiziert der kapitalistischen Gesellschaft den "death of a thousand cuts", den "Tod der tausend Schnitte". Das Leiden werde sich hinziehen, es wird ein Siechen werden und dann ein Verenden. Der Soziologe beschreibt ein kapitalismuskonformes Leben als düsteren Vierklang: coping, doping, hoping, shopping. Sich arrangieren, sich aufputschen, hoffen, einkaufen.

Der Auftritt von Streeck und Wagenknecht ist ein Glücksfall. Nicht, weil man ihnen unbedingt zustimmen muss. Die vermeintlich so verunsicherte Mittelschicht zum Beispiel kann sich heute einen Lebensstandard leisten, von denen frühere Generationen nur träumen konnten. Und Streecks systemische Perspektive führt dazu, dass der Kapitalismus nur als dunkel waltende Macht vorkommt. Dabei kann er ja auch im besten Fall ein Werkzeug zur Gestaltung der Welt sein.

Nein, dieses Treffen der zwei Kapitalismuskritiker ist aus einem einfachen Grund so wertvoll: weil zwei Menschen konzentriert über ein Thema reden, von dem sie etwas verstehen. Sie gehen sich nicht persönlich an, sie interessieren sich noch nicht einmal sehr füreinander, sondern nur für die Sache. Das reicht schon, um sich von ritualisierten Talkshow-Streitereien anzugrenzen. Niemand will hier von Wagenknecht wissen, wie sie eigentlich zu Russlands Präsident Putin steht und was sie neulich meinte als sie vom verwirkten "Gastrecht" von Flüchtlingen sprach. Das tut hier wirklich nichts zur Sache.

"Man wird hier völlig veralbert!"

 

Natürlich hängt irgendwann an diesem Abend die Frage im Raum: Was tun? Was ist die Alternative?

Da zuckt Streeck nur mit den Achseln. Er setzt nicht auf die Kraft der Kapitalismusgegner. So wie die Wirtschaftselite – "die Leute in Davos" – nicht mehr wüsste, wie sie das wilde Tier Kapitalismus noch bändigen könnten, so wären auch "die Leute von Porto Alegre", die Kritiker, nicht wirklich global handlungsfähig. Es bleibt das Bild einer ausgelieferten Welt.

Dieser nüchterne Pessimismus kann lähmend wirken, aber auch befreiend. Weil er ermöglicht, über Veränderungen nachzudenken, ohne gleich eine schlüssige Alternative bieten zu müssen. Auch wenn niemand eine Antwort auf die Frage hat, was nach dem Kapitalismus kommen könnte, sollte man sich trotzdem mit seinem Niedergang beschäftigen.

Es gab eine Zeit, in der man nur 'Europa' sagen musste, und alle sind auf die Knie und in Gebetsstarre verfallen.
Wolfgang Streeck

Ähnliches gilt für die Europäische Union. Niemand kann Nationalstaaten für das bessere Betriebssystem der Globalisierung halten. Das wäre "muffig, altbacken, und auf jeden Fall rechts", sagt Wagenknecht. Aber die konkrete Politik der EU müsse trotzdem kritisierbar sein. "Es gab eine Zeit, in der man nur 'Europa' sagen musste, und alle sind auf die Knie und in Gebetsstarre verfallen", spottet Streeck.

Er verfällt in eine Wutrede auf Jean-Claude Juncker, der lange die Steueroase Luxemburg regiert hat: "Der oberste Steuerhinterziehungsbeihelfer wird EU-Kommissionspräsident! Manchmal hat man das Gefühl, man wird hier völlig veralbert!" Befreiter Applaus brandet auf. Man muss dazu wissen, dass man an der Kölner Universität bis vor wenigen Jahren noch ein Diplomstudium der Volkswirtschaftslehre absolvieren konnte, ohne die mathematischen Modelle und Lehrsätze des Ordoliberalismus verlassen zu müssen.  

 

Was ist das Ergebnis dieses Abends am Krankenbett des Kapitalismus? Eine Therapie zur vollständigen Heilung sicher nicht. Aber die Diagnose zeichnet sicherlich ein differenziertes Krankheitsbild. Jetzt noch zu behaupten, der Patient wäre eigentlich kerngesund, dürfte erheblich schwieriger geworden sein.  

 

Wolfgang Streecks Aufsätze zum Ende des Kapitalismus, erschienen im Frühjahr 2015 in den Blättern für deutsche und internationale Politik: Teil 1 , Teil 2