Der Mann, der Merkel beerben könnte

Erstveröffentlicht: 
20.01.2016
Immer stärker wird spekuliert, dass Wolfgang Schäuble zur Kanzlerschaft bereit wäre, wenn Angela Merkel den Flüchtlingsstreit politisch nicht überleben sollte

Von Dieter Wonka

 

Berlin. Ob einer wie Wolfgang Schäuble illoyal sein kann? Eigentlich gilt der Bundesfinanzminister als Musterbeispiel für Loyalität, als einer, auf den sich sein Kanzler oder seine Kanzlerin immer blind verlassen konnte. Trotzdem klang sein neuester Vorschlag, eine europäische Benzinsteuer zur Finanzierung der Flüchtlingskosten einzuführen, irgendwie merkwürdig. Es war eine kleine Stinkbombe in einer Zeit, die für die Union schon aufgeregt genug ist.

 

Gleich dreimal widerspricht der Vorstoß merkelschen Vorgaben. Erstens hatte die Kanzlerin gesagt, mit ihr gebe es keine Steuer­erhöhungen. Zweitens hatte sie sich verbeten, mit merkwürdigen Vorschlägen die Flüchtlingsdebatte weiter anzuheizen. Und drittens hätte ein ausgebuffter Politiker wie Schäuble natürlich wissen müssen, dass man momentan alles Missverständliche vermeiden muss. Trotzdem hat der alte starke Mann der CDU sich öffentlich so geäußert, dass die Kanzlerin Kontra geben musste. Nicht direkt. CDU-Vize ­Julia Klöckner, Merkels Vertraute und Wahlkämpferin in Rheinland-Pfalz, bügelte die Flüchtlingssteuer-Idee ab. Ob ihn das beeindrucken wird? Schäuble ist keiner, der sich von Untergebenen von seinen Ideen abbringen lässt.

 

Der Vorgang lässt die Frage wieder aktuell erscheinen, ob sich Schäuble womöglich bereit hält, selbst Kanzler zu werden – dann beispielsweise, wenn Merkel über die internen Querelen in der Union als Kanzlerin stürzen sollte. Schäuble ist der Unabhängigste in der Berliner Regierungsmannschaft. Außerdem steht er der nächsten Generation nicht im Wege. Denn Schäuble ist alt genug, um keinen Jüngeren auf Dauer zu blockieren. Und zuzutrauen ist ihm auch alles.

 

Der Zufall will es, dass mitten im unionsinternen Wettkampf um die vernünftigste Flüchtlingspolitik heute Abend die beiden mächtigsten CDU-Politiker aufeinandertreffen. Die CDU-Vorsitzende tritt bei der Klausurtagung der CSU-Landtagsabgeordneten in Wildbad Kreuth auf, um für ihre Willkommenskultur zu werben. Anschließend darf Schäuble an gleicher Stelle seine Sicht der Dinge ausbreiten. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die CSU eine eher kalte Liebe für die CDU-Chefin pflegt. Schäuble hingegen wird regelmäßig tiefer Respekt gezollt.

 

Eine Frage wird nun immer energischer gestellt: Wie stark sind Merkel und Schäuble miteinander verbunden? Bekannt ist, dass sich die beiden nicht duzen, sondern das „Sie“ als Ansprache nutzen. Vermutet wird, dass Schäuble auch bereut haben mag, in welcher Nibelungentreue er über viele Jahre treuer Mitarbeiter von Helmut Kohl gewesen war – um dann zu erleben, dass Kohl den Platz nicht räumte und ihm nicht die Chance gab, selbst Kanzler zu werden. Als es vor mehr als einem Jahrzehnt in der CDU darum ging, ob Angela Merkel die richtige Kanzlerkandidatin sein soll, so erinnern sich noch heute Teilnehmer vertraulichster Spitzenrunden, hatte Schäuble für den robusten Hessen Roland Koch geworben. Später hatte die erfolgreiche Angela Merkel den konservativ-liberalen Politiker aus Baden verlässlich an ihrer Seite.

 

Verlöre Angela Merkel heute oder morgen die Kraft, die Macht, oder die Lust darauf, den Kampf um die Richtlinienkompetenz fortzuführen, dann dürfte sich vermutlich eine Mehrheit in der Union an einen überaus leistungsfähigen 72-jährigen Herrn im Rollstuhl klammern. Heute analysiert er komplizierteste Sachverhältnisse mit einer beinahe beängstigenden Ausdauer, oft auch noch weit nach Mitternacht, wenn anderen schon längst die Augen vor Erschöpfung zufallen. Weggefährten meinen, Schäuble brauche die politische Arbeit, um weiterleben zu können. „Für die ganz große Mehrheit wäre Schäuble beim Blick auf Ursula von der Leyen und Thomas de Maizière – und angesichts einer unfertigen Kandidatin wie Julia Klöckner – ganz klar die Nummer eins“, sagt ein langjähriges Mitglied aus dem obersten CDU-Führungszirkel. Er meint zudem, Angela Merkel würde rechtzeitig gehen: „Ein Schicksal wie Helmut Kohl, nämlich die Abwahl durch das Volk, will sie nicht erleiden.“

 

Wolfgang Schäuble kennt die aktuellen Probleme nur zu gut. Ist mit Blick auf die vielen Flüchtlinge das Boot voll? Kann ein Staat seinen Bürgern Schutz und Ordnung garantieren, wenn er nicht mehr in der Lage ist, seine Grenzen zu kontrollieren? Durchdachte Antworten kann er liefern. Vielleicht kann aus dem beliebtesten Ersatzkanzler der Bundesrepublik doch noch mal für eine Zeit des Übergangs die Nummer eins werden. Für Schäuble würde sich damit ein logischer Kreis schließen. Er war Kohls ­Ersatzkanzler, Bundesminister in verschiedenen Ressorts, er war Fraktionsgeschäftsführer, Vorsitzender der Bundestagsfraktion von CDU und CSU. Er musste als Sekundäropfer von Kohls Spendenaffäre den Parteivorsitz abgeben. Er hätte 2004 Bundespräsident werden wollen, aber Angela Merkel hatte damals andere Pläne durchgesetzt.

 

Jüngst hat er einmal gesagt: In seinem Alter habe Konrad Adenauer erst angefangen mit der Politik. Das kann auch wie eine Ankündigung klingen.