Der Siegeszug des Kapitals

Erstveröffentlicht: 
05.11.2015
Vier Pfund Eintritt: Karl-Marx-Grab in London ist ein beliebtes Touristenziel, aber die Sozialisten ärgern sich

VON KATRIN PRIBYL

 

Sorgsam legt die Frau den Blumenstrauß auf den Marmor. Die Chinesin geht einen Schritt zurück, faltet die Hände wie zum Gebet und blickt den riesigen Sockel empor, der über dem Grabstein thront. Von dort schaut Karl Marx in Bronze und mit Rauschebart mürrisch herunter, unter ihm stehen in goldener Schrift auf Englisch die Worte „Proletarier aller Länder vereinigt euch“.

 

Auf dem Highgate Cemetery in London sind der 1883 verstorbene deutsche Philosoph ebenso wie seine Frau und Tochter begraben. Die Instandhaltung der historischen Begräbnisstätte, die im Mai 1839 als Folge der steigenden Einwohnerzahl Londons eröffnete, übernimmt seit 1981 der Förderverein „Friends of Highgate Cemetery“ – und rettete so die Nekropole vor dem Verfall.

 

Doch immer wieder brandet von einer Seite Kritik auf. Denn wer die letzte Ruhestätte des Kapitalismus-Kritikers Marx besuchen will, muss Kapital mitbringen. Vier Pfund kostet der Eintritt seit Anfang der neunziger Jahre – ein Umstand, der offenbar die neue Generation der Sozialisten zum Toben bringt. Und die melden sich seit der Wahl des Marx-Bewunderers Jeremy Corbyn zum Chef der oppositionellen Labour-Partei vermehrt zu Wort. „Ich persönlich finde es widerlich“, sagte ein politischer Aktivist. Es gebe hinsichtlich der Ironie oder auch des schlechten Geschmacks keine Grenze, „wie tief Kapitalisten sinken würden, wenn sie denken, Geld machen zu können“, sagte der 24-Jährige dem Wall Street Journal.

 

Der Förderverein betont, alle eingenommenen Eintrittsgelder flössen direkt in die Instandhaltung des Friedhofs, auf dem rund 170 000 Menschen ihre letzte Ruhe finden. Der Großteil der Besucher, sagt einer der freiwilligen Friedhof-Arbeiter, kämen aus China und Russland. „Das Original-Grab von Marx liegt da runter links“, ruft er noch. Etwa 100 Meter vom Bronzekopf entfernt, ein Stein mit Rissen, die Buchstaben vom Wetter zersetzt – die Stätte, noch immer Eigentum der Marx-Familie, passt für viele eher zum Kommunisten als der Granitkubus, unter dem seine Gebeine seit 1956 liegen. Das neue Grabmal wurde von der kommunistischen Partei Großbritanniens gestiftet – um dem Gelehrten eine ihrer Ansicht nach würdigere Ruhestätte zu gewähren.