Flüchtlinge im Burgenlandkreis - Wie die NPD mit Hilfe von alten Strukturen mobilisiert

Erstveröffentlicht: 
02.11.2015
Erneut mobilisieren NPD-Kader in Kretzschau zum Anti-Asyl-Protest. Die Rechten nutzen ihre lange gewachsenen Kontakte im Burgenlandkreis, sagen Szene-Experten.

Von Jan Schumann


Halle (Saale). Wieso Tröglitz, wieso Kretzschau? Beide Orte wurden in diesem Jahr zu Brennpunkten des Anti-Asyl-Protests in Sachsen-Anhalt: Erst war es Tröglitz, wo NPD-Kader Seite an Seite mit besorgten Bürgern gegen eine Flüchtlings-Unterkunft protestierten, nun ist es Kretzschau: Am Sonntagabend marschierten erneut rund 200 Asylgegner durch das Dorf, machten ihrer Wut über die neue Flüchtlingsunterkunft in Kretzschau Luft - und dies bereits am achten Sonntag in Folge. In einer Stadt wie Halle (Saale) gab es bisher keine vergleichbaren Protestserien - wieso in Kretzschau?

 

Rechtsextremismus-Experten sagen: Der Ort ist ein Symbol für den gesamten Burgenlandkreis. „Die bürgerliche Strategie der NPD hat im Landkreis seit Anfang der Zweitausender-Jahre sehr gut gegriffen“, sagt Torsten Hahnel vom Verein Miteinander. Mit sozialen Politikthemen habe die Partei die Nähe zum Bürgertum gesucht - und das zum Teil erfolgreich: Familienpolitik, Hartz 4, Renten. „Hier gab es jahrzehntelang sehr wenig Widerstand gegen Rechtsextremismus aus der Mitte der Gesellschaft.“ Deswegen, so Hahnel, sei die NPD hier stärker verankert als in vielen Teilen Sachsen-Anhalts. 

 

Lokaler Wahlkampf


Tatsächlich ist der Burgenlandkreis für die NPD von besonderer Bedeutung. Nur hier hält sie aktuell drei Mandate im Kreistag - mehr als in den restlichen Parlamenten im Land.

 

Und es sind die NPD-Abgeordneten, die es nun nach Kretzschau zieht: Steffen Thiel ist der Anmelder der Anti-Asyldemos in Tröglitz und Kretzschau, sein Parteifreund Hans Püschel gehört seit Wochen zu den Stammrednern. Nach den Kundgebungen sang Püschel mit einem Mikrofon „Deutschland Deutschland über alles“ auf den Straßen von Kretzschau.

 

Zwar bezeichnen sich nicht alle Demonstranten als NPD-Sympathisanten und Thiel meldet die Demos als Privatmann an - doch die Köpfe hinter dem Protest sind Köpfe der Partei.

 

Die NPD macht in Kretzschau lokalen Wahlkampf mit der derzeit brisantesten Politikfrage - so sieht es Bürgermeisterin Anemone Just (CDU). Und zur Mobilisierung bedient sich die Partei seit Wochen der „altgewachsenen Strukturen“ im Burgenlandkreis, sagt Enrico Kabisch vom Simon-Rau-Zentrum in Weißenfels. „Die Infrastruktur und die enge Vernetzung zu den NPD-Sympathisanten im Kreis, die man zum Aufstellen solcher Proteste braucht, besteht im Burgenlandkreis seit Jahrzehnten“, sagt Kabisch. Damit meint er auch die Vernetzung zur Kameradschaftsszene. „Man sieht es an den Protagonisten der aktuellen Bewegung: Es sind ältere Männer, die seit Jahrzehnten in den Organisationsstrukturen stecken.“ 

 

Kein Brennpunkt für rechtsextreme Gewalt


Und sie mobilisierten zum Teil mehr als 200 Menschen in Kretzschau, darunter auch polizeibekannte Neonazis. Dennoch gilt der Burgenlandkreis laut Verfassungsschutz nicht als Brennpunkt für rechtsextreme Gewalt im Land: Das sind laut Behörde der Saalekreis, Dessau-Roßlau und der Kreis Wittenberg. Zur gewaltbereiten Szene im Burgenlandkreis zählt der Verfassungsschutz im Kern rund 50 Personen. „Gleichwohl dürfte das Mobilisierungspotenzial weit höher liegen“, heißt es im Bericht zum Jahr 2014. Auch bei den Demos in Kretzschau seien Personen aus dieser Szene aufgetaucht, teilten die Polizei und Beobachter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus des Vereins Miteinander mit.

 

Ein wichtiger Grund für die relativ festen NPD-Strukturen im Burgenlandkreis sei der fehlende Widerstand aus dem Bürgertum, so Kabisch. „Ein gutes Beispiel dafür ist Steffen Thiel“, sagt Kabisch. „Wenn Wahlkampf ist, plakatiert er in Zeitz ganz offen für die NPD. In anderen Städten machen die Rechten das lieber nachts.“ Er müsse hier keine Anfeindungen fürchten. Und den rechtsextremen Kräften im Kreis stehe kein linkes Gegengewicht gegenüber, etwa kraftvolle Bürger-Bündnisse oder eine Antifa. „Die Kultur der Gleichgültigkeit im Burgenlandkreis macht es Thiel und anderen einfach, hier im Kreis zu agitieren“, sagt Kabisch.

 

Torsten Hahnel geht so weit, dass er sagt: „Der Kampf gegen Rechts im Landkreis ist eine Geschichte des Versagens.“ Mit Landrat Götz Ulrich (CDU) habe erstmals ein Amtsinhaber „sehr deutliche Worte“ gegen rechtsextreme Stimmungsmacher im Kreis gefunden - seine Vorgänger seien „weit weniger aktiv gewesen.“ Ulrich hatte in einem MZ-Interview gesagt, die NPD stifte gezielt Unruhe und arbeite auf „den Zusammenbruch der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ hin. (mz)

 


 

Demonstranten stören Friedensgebet


Rund 180 Teilnehmer der Kretzschauer Anti-Asyl-Proteste haben am Sonntagabend das Friedensgebet in der Kirche gestört. Bei der vorhergehenden Kundgebung der Asylgegner hatte Steffen Thiel (NPD) zum Spaziergang zum Gotteshaus aufgerufen und eine Teilnahme an dem laufenden Gebet angeregt. Pfarrer Christoph Roßdeutscher hatte das Friedensgebet als Gesprächsangebot für die Bürger von Kretzschau ins Leben gerufen - dort sollen Ortsbewohner über ihre Ängste in der Flüchtlingsdebatte reden. Auch Bürgermeisterin Anemone Just (CDU) nimmt an den Gebeten teil.


Als die Demonstranten in der Kirche eintrafen, beendete Pfarrer Roßdeutscher das Gebet, das zu diesem Zeitpunkt 45 Minuten lief. Teilnehmer sagten, dass sie das Eintreffen der Anti-Asyl-Demonstranten als provozierend und bedrohlich empfanden. In den Wochen zuvor waren die Demonstranten an der Kirche entlang durch den Ort gezogen und hatten skandiert: „Wir wollen keine Asylbewerberheime“. Im zuständigen Ordnungsamt wird geprüft, wie bei künftigen Gebeten mit Situationen dieser Art umzugehen ist. Auch eine Routenänderung der Demo war bereits in der Diskussion.