Flüchtlingskrise in Serbien Bemerkenswerte Hilfsbereitschaft

Erstveröffentlicht: 
04.09.2015

In der serbischen Hauptstadt machen Tausende von Flüchtlingen Rast. Obwohl die Stadt jahrelang kaum Fremde sah, scheint sie ihre gastfreundliche Tradition wiederzuentdecken.

 

Die Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten, die über den Balkan nach Nordwesten reisen, kommen früher oder später fast alle nach Belgrad. Hier ruhen sie sich ein oder zwei Tage aus und organisieren die nächste Etappe ihrer Reise. Nach Schätzungen des Roten Kreuzes halten sich hier permanent vier- bis fünftausend Flüchtlinge auf, die meisten im zentralen Bezirk Savski Venac.

Dort, gleich neben dem Busbahnhof, liegt ein Park, der sich in den vergangenen Monaten in eine kleine Zeltstadt verwandelt hat. Es ist kein schöner Anblick. Der Boden ist mit Abfällen übersät, der Rasen völlig verschwunden. Tagsüber lagern die Flüchtlinge zwischen ihren kleinen Iglu-Zelten. Manche liegen auf Decken, andere sitzen im Kreis und unterhalten sich. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Eine Gruppe junger Syrer bricht auf. Sie legen sich gegenseitig die gelierten Haare in Form und ergreifen die Rucksäcke. Beim hohen Marmorkreuz, in der Mitte des Parks, lässt sich eine neu angekommene afghanische Familie nieder. Die Kinder legen sich erschöpft auf den Boden und schlafen sofort ein.

 

Private reagieren prompt


Wie geht die Stadt mit dem nicht abreissenden Strom von Kurzzeit-Besuchern um? Und wie begegnen die Belgrader diesen Menschen? Anfangs sei die Reaktion der Stadt träge gewesen, sagt Gordan Paunovic. Er ist Organisator einer Helfergruppe, die sich mit dem Ausbruch der Flüchtlingskrise vor ein paar Monaten gründete. Erst nachdem es zu stinken begonnen hatte, stellte die Stadt Toilettenhäuschen auf. Dann folgten Zisternenwagen und Bau-Mulden für den Abfall. Doch die Handvoll Arbeiter, die zweimal am Tag den Abfall einsammelt, verrichtet Sisyphusarbeit. Erstaunlich ist hingegen, wie schnell Private und Firmen reagiert haben. Das Mikser-Kulturhaus, eine private Organisation, stellte seine Sommerbühne in unmittelbarer Nähe zum Park zu Verfügung. Dort steht jetzt ein Verteilzentrum, das Lebensmittel, Hygieneartikel und Kleider an Flüchtlinge verteilt.

Die Freiwilligen, die dort arbeiten, sind eine bunte Gruppe. Junge Aktivisten, Pensionäre, Ehefrauen von Diplomaten und immer wieder Touristen, die für ein paar Tage aushelfen. Punkt zehn Uhr wird das Tor geöffnet. Ein paar Frauen im Hijab stehen scheu davor. Sie werden eingelassen, und bald sieht man sie an einem der improvisierten Wühltische lebhaft diskutieren. Der 33-jährige Elwon aus Jordanien war auf Durchreise und arbeitet jetzt als Dolmetscher. Vor allem bei den ärztlichen Sprechstunden, die etwas abseits stattfinden, sind seine Dienste gefragt. Die junge Ärztin aus einem staatlichen Ambulatorium behandelt vor allem kleinere Verletzungen, Sonnenbrände, Erkältungen und wunde Füsse. Aber es wurden auch schon Kinder im Park zur Welt gebracht. Die Spenden von Privatleuten träfen vor allem am Wochenende ein, erzählt eine junge Frau. Auch Firmen schickten Ware. Nicht nur aus Belgrad, aus dem ganzen Land treffen die Sendungen ein. Kürzlich kam ein grosser Transport mit Nahrungsmitteln aus Bosnien, und auch aus Kroatien hätten sie grosszügige Spenden erhalten. Ein junger Mann gibt am Eingang eine Plastictasche mit Kleidern ab. Seine Grosseltern seien im Krieg aus Sarajevo nach Belgrad geflohen, sagt der 27-jährige Philipp. Da sei es doch normal, jetzt Mitgefühl zu haben.

Aleksandar, der das kleine Parkhaus in der Karadjordjestrasse bewacht, hat keine Probleme mit den Flüchtlingen. «Ordentliche Leute», sagt er. Sorgen machen ihm die jungen Männer, die beim benachbarten Lokal Bier trinken. «Als Muslime sollten sie das nicht tun. Und wenn sie erst herausfinden, dass es in Deutschland keine Jobs gibt . . .» Er lässt den Satz unvollendet.

 

Belgrads Kosmopolitismus

 

Natürlich gibt es auch die Taxifahrer, die hinter der Ankunft der Flüchtlinge den teuflischen Plan vermuten, Krankheiten einzuschleppen. Dahinter stecken je nach Fahrer die Amerikaner oder der Islamische Staat. Aber aufs Ganze gesehen überwiegt eine gelassene und oft einfühlsame Haltung in der Bevölkerung. Viele Belgrader wissen aus direkter Anschauung, was es bedeutet, vertrieben zu werden. Und die Stadt hat sich – trotz dem radikalen Nationalismus der 1990er Jahre – ein Stück ihres kosmopolitischen Geistes erhalten. Der Kontakt mit Fremden und Andersfarbigen hat hier, dank früherer Mitgliedschaft in der sozialistischen Blockfreienbewegung, eine gewisse Tradition.

Entscheidend aber ist, dass die Regierung eine klare Linie vorgegeben hat, wie den Flüchtlingen zu begegnen sei. Ministerpräsident Aleksandar Vucic hat erkannt, dass sich Serbien vorteilhaft von seinen Nachbarn unterscheidet, wenn es die Flüchtlinge mit Anstand behandelt. Und weil die Regierung grossen Einfluss auf die Medien hat, ziehen diese mit. Selbst die sonst hetzerische Boulevardpresse bringt Geschichten über das Los von Flüchtlingskindern. Das beeinflusst die gesellschaftliche Wahrnehmung. Die Anwesenheit der Flüchtlinge wird weniger als Bedrohung gesehen, als zum Anlass genommen, die balkanische Gastfreundschaft unter Beweis zu stellen. Und schliesslich sind die Flüchtlinge auch ein Geschäft – nicht nur für Schlepper. Viele übernachten in Hotels und Pensionen und besuchen die Cafés in der Innenstadt. Der Barbier in der Karadjordjevastrasse und der Schuhputzer gleich nebenan machen zurzeit das Geschäft ihres Lebens. Ein Taxifahrer fährt langsam die Strasse auf und ab und versucht, mit lauter arabischer Musik Gäste anzulocken. Es ist, als ob Belgrad etwas von seiner verschütteten orientalischen Seele wiederentdeckte.

 

Eindrückliche Spontaneität

 

Der Staat ist unterdessen auch aktiver geworden. Die Stadtgemeinde Savski Venac hat ein Informationszentrum eröffnet, das von einer kirchlichen Hilfsorganisation betrieben wird. Flüchtlinge werden über die Asylverfahren in verschiedenen Ländern aufgeklärt. Es gibt Karten, auf denen nützliche Adressen eingezeichnet sind. Stark nachgefragt werde der Dolmetscherdienst, sagt Igor Mandic, der Geschäftsführer. Auch die psychosoziale Unterstützung der Flüchtlinge wolle man verstärken. Aktivitäten für Kinder stünden ganz oben auf der Liste der Prioritäten. Doch bereits jetzt gehen Freiwillige in den Park, spielen, zeichnen und basteln mit den Kindern. Es ist gerade das Spontane, die Improvisation und manchmal sogar die fehlende Koordination, welche die Hilfe der Belgrader so eindrücklich macht.