Flucht vom BalkanAuch Politiker der Grünen wollen Zuwanderer, die offensichtlich nicht politisch verfolgt sind, nicht mehr in Asylverfahren sehen
Von Norbert Mappes-Niediek und Isabel Guzmán
Stuttgart/Berlin. Am 13. März wird in Baden-Württemberg ein neuer Landtag gewählt. Wer sich dieser Tage in Stuttgart nach dem mutmaßlichen Hauptthema des Wahlkampfs erkundigt, bekommt vieles zu hören - aber unter der Hand nur "drei Dinge": "Flüchtlinge, Flüchtlinge und noch mal Flüchtlinge."
Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Deutschlands einziger grüner
Regierungschef, hat erspürt, dass sich was dreht im Land. Immer mehr
Deutsche fragen, warum die Politik, die genug mit syrischen
Bürgerkriegsflüchtlingen zu tun hat, tatenlos dem gleichzeitigen Zustrom
von Asylbewerbern aus dem westlichen Balkan zusieht. Bei den Menschen
vom Balkan liegt am Ende der monatelangen Asylverfahren die Quote derer,
die als politisch verfolgt anerkannt werden, unter einem Prozent.
Kretschmann ahnt: Wenn er von seinen baden-württembergischen Wählern,
von denen viele sehr konservativ sind, als weltfremder Gutmensch
einsortiert wird, ist er bald nicht mehr im Amt. Andererseits muss er
seine Grünen im Auge behalten, von denen einige seit Langem den Verdacht
haben, "der Kretsch" tendiere allzu weit nach rechts.
Was nun? Gestern war Kretschmann Gastgeber eines bundesweiten Gipfels
zur Flüchtlingspolitik in Stuttgart. Zum Thema Balkan ließ er sich schon
mal vorab etwas einfallen: einen Plan, mit dem er weder naiv erscheint
noch fremdenfeindlich.
Es müsse, sagte Kretschmann der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", etwas
geschehen "zur Minderung des Migrationsdrucks aus den Staaten des
Westbalkans". Man brauche "ein maßgeschneidertes Einwanderungsangebot".
Zum Beispiel könne man "Einwanderungskorridore für die hiesigen
Mangelberufe, etwa für das Pflegepersonal, schaffen". Der Westbalkan
gehöre zu Europa und müsse stabilisiert werden.
Und dann sagte Kretschmann etwas, das man bei den Grünen sonst nicht oft
hört: Man werde die Beratung gezielt verstärken, damit abgelehnte
Asylbewerber freiwillig zurückkehren. "Aber wir werden auch über
Restriktionen reden, wenn abgelehnte Asylbewerber sich der Rückführung
entziehen".
Kretschmann schließt zudem die Deklarierung von Albanien, Montenegro und
dem Kosovo zu sogenannten sicheren Herkunftsstaaten nicht kategorisch
aus. "Für sinnvolle Maßnahmen, für die sich eine Wirkung nachweisen
lässt, bin ich immer offen." Kretschmann war es auch, der der
Bundesregierung geholfen hatte, im Bundesrat die Kategorisierung von
Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien als sichere Herkunftsstaaten
durchzusetzen. Kanzleramtschef Peter Altmaier hatte den Deal mit dem
Grünen aus Stuttgart ausgehandelt - und wurde dafür in der Union als
kluger Schwarz-Grün-Stratege gelobt.
Seit Monaten ringen Bund und Länder um neue Konzepte im Umgang mit den
Asylbewerbern vom Balkan. Fast alle werden zwar abgewiesen. Doch schon
die Anerkennung von einem Prozent der Bewerber macht den generellen
Ausschluss juristisch schwierig. Zudem hält sich die Beschleunigung der
Verfahren bislang in Grenzen: Dauerten die Verfahren bei Bewerbern aus
Albanien, Montenegro und dem Kosovo in 2014 durchschnittlich 7,1 Monate,
so sind es derzeit noch 5,3 Monate. "Der Rückgang ist noch nicht ganz
so deutlich, wie wir uns das vielleicht wünschen", heißt es im
Bundesinnenministerium.
Ressortchef Thomas de Maizière (CDU) will erreichen, dass der Aufenthalt
dieser Flüchtlinge innerhalb von drei Monaten beendet wird - und zwar
direkt aus der Erstaufnahmeeinrichtung heraus. Auch die
Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), zeigte
sich offen dafür, Lager für bestimmte Flüchtlinge einzurichten. Seit
Anfang des Jahres wurden insgesamt 190000 Asylanträge in Deutschland
gestellt, 78000 davon von Menschen aus Albanien, Montenegro und dem
Kosovo.
Rund 200000 Asylanträge wurden 2014 in Deutschland registriert, für 2015
wird mehr als das Doppelte erwartet, rund 450000. Die meisten Menschen
kommen aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Es ist unstrittig, dass sie
schutzbedürftig sind. Im ersten Halbjahr 2015 lagen aber der Kosovo,
Albanien und Serbien auf den Plätzen zwei bis vier der wichtigsten
Herkunftsländer.
Experten sehen die Asylanträge vom Balkan als eine Art Missverständnis.
Es gehe sehr oft um junge Leute, die in Deutschland schlicht einen Job
suchten. Oft hätten sie gute Deutsch- und
EnglischkenntnissesowietechnischeQualifikationen. Allerdings seien sie
mit dem Asylverfahren auf dem falschen Weg.