Vorwürfe gegen Kunden - Tafel in Wattenscheid verliert 300 Mitarbeiter

Erstveröffentlicht: 
13.02.2015

Bochum.  Die Wattenscheider Tafel hat in den letzten sechs Monaten 300 ehrenamtliche Mitarbeiter verloren. Angeblicher Grund: Anfeindungen an Ausgabestellen.

 

Die Wattenscheider Tafel beklagt zunehmende Anfeindungen gegen ihre Helfer bis hin zu gewalttätigen Übergriffen. „Seit Mitte letzten Jahres sind 300 unserer 430 ehrenamtlichen Mitarbeiter ausgeschieden. Sie wollten diese Respektlosigkeiten nicht länger ertragen“, sagt Tafel-Gründer und Leiter Manfred Baasner (71) und kündigt weitere Einschnitte bei der Verteilung an.

 

Seit 1998 versorgt die Tafel bedürftige Menschen in Bochum und Wattenscheid mit Lebensmitteln. Wöchentlich 10.000 Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer erhalten Brot, Gemüse, Obst, Wurst, Milchprodukte und Konserven, gespendet von Handelsketten (neuerdings auch Aldi) und Einzelhändlern. Die Tafel-Kunden müssen ihre Bedürftigkeit nachweisen, in der Regel durch einen Hartz-IV-Bescheid. Pro Ausgabe zahlen sie seit Januar zwei Euro (bisher ein Euro).

 

„Der Großteil der Menschen ist dankbar für unsere Hilfe und zeigt uns das auch“, sagt Manfred Baasner. Seit einem halben Jahr jedoch habe sich die Situation an vielen Ausgabestellen „teils dramatisch“ verändert. „Unsere Helfer werden aufs Übelste beleidigt und angepöbelt. Wir werden beschimpft, weil einige Bananen braune Flecken haben. Es wird gedrängelt, Alte und Kinder werden weggehauen. Da herrscht eine Aggressivität und ein Anspruchsdenken, das mich zur Weißglut bringt.“

 

Erniedrigungen verscheuchen Ehrenamtler

 

Es tue ihm „sehr leid, das zu sagen. Aber es sind fast ausschließlich Aussiedler aus Südosteuropa und zunehmend auch Flüchtlinge, die sich so benehmen.“ Höhepunkt: eine Körperverletzung auf dem Tafel-Hof an der Laubenstraße. „Ich habe einem jungen Zuwanderer drei Äpfel gegeben“, schildert die aus Iran stammende 1-Euro-Kraft Hendrik Ghariebihan (51) im WAZ-Gespräch. „Als ich ihm sagte, dass die anderen Leute auch Äpfel wollen, schlug er mir brutal ins Gesicht.“ Man habe zwar die Polizei gerufen, aber letztlich auf eine Anzeige verzichtet.

 

Laut Baasner sind es „zu 99 Prozent“ die ständigen Erniedrigungen, die die 300 Ehrenamtler veranlasst hätten, ihren Dienst zu quittieren. Die Folgen sind bereits spürbar: Die Tafel hat die Zahl ihrer Ausgabestellen in Bochum und Wattenscheid von 36 auf 20 gesenkt. Mit den verbliebenen 130 Mitarbeitern sei es gleichwohl nicht möglich, die Verteilung auf bisherigem Niveau fortzusetzen. Baasner: „Wir planen, dass junge, arbeitsfähige Bedürftige nur noch alle zwei Monate Anspruch auf Lebensmittel haben.“ Noch in diesem Jahr sei die Existenz der kompletten Tafel gefährdet.

 

Polizei zeigt an Ausgabestellen Präsenz

 

Die Polizei bestätigt die Darstellung von Tafel-Chef Manfred Baasner. „Unser Bezirksdienst hat Erkenntnisse, wonach es zumindest an der Ausgabestelle Laubenstraße in jüngster Zeit zu Beleidigungen und auch Handgreiflichkeiten gekommen ist“, erklärt Sprecher Axel Pütter. Zum Schutz der Tafel-Helfer und Kunden seien die Beamten nun regelmäßig vor Ort.

 

„Erstaunt“ über die Vorwürfe der Wattenscheider Tafel gegen Aussiedler und Flüchtlinge zeigt sich Ayse Balyemez, stellvertretende Vorsitzende des Integrationsrates. Mit einer Wertung wolle sie sich noch zurückhalten: „Dazu sind die Schilderungen von Herrn Baasner für mich und uns noch zu neu und – ehrlich gesagt – auch zu überraschend.“ Im Vorfeld der gestrigen Beiratssitzung wurde gleichwohl beschlossen, das Thema in die Arbeitsgruppe Flüchtlinge zu tragen, in der neben Vertretern u.a. von Wohlfahrtsverbänden, der Verwaltung und Parteien auch der Integrationsrat mitwirkt. „Das sind Entwicklungen, die die ganze Stadt angehen. Das muss in die AG Flüchtlinge“, so Ayse Balyemez, die die Tafel aus ihrer Tätigkeit als Diplom-Sozialpädagogin kennt.

 

Vorwürfe sind ernst zu nehmen

Manfred Baasner ist nicht unumstritten. Der Tafel-Chef gilt (Ex-)Mitarbeitern und Kunden als unbequem, kompromisslos. Eines indes kann Baasner nicht unterstellt werden: ein Ausländerfeind zu sein. Dafür hat er in den letzten fast 20 Jahren zu vielen Menschen ausländischer Herkunft geholfen und Arbeit gegeben. Sein soziales Wirken steht außer Frage. Umso ernster sind die Vorwürfe zu nehmen, die er im WAZ-Gespräch erhebt. Erbärmliche Szenen spielen sich demnach an den Ausgabestellen ab. Zuwanderer und Flüchtlinge sollen unflätig, mitunter gewalttätig Lebensmittel einfordern. Zustände, die die WAZ bei einem Besuch gestern nicht bestätigt fand. Die AG Flüchtlinge ist ein gutes Gremium, in dem Baasner seine Schilderungen belegen kann. In der Praxis bleibt nur: Hausverbot für renitente Kunden! Der Großteil der Bedürftigen darf nicht unter den Unverschämtheiten einiger weniger leiden. Ob Deutsche oder Ausländer, ist dabei völlig egal.

 

Außerhalb Bochums keine Klagen

Wattenscheid scheint ein Einzelfall zu sein: "Ich höre davon zum ersten Mal", sagte der Vorsitzende des Landesverbandes der Tafeln NRW, Wolfgang Weilerswist, unserer Redaktion. 169 Tafeln von Aachen bis Minden gehören zu seinem Verband. "Wenn es ein generelles Problem wäre, dann wüsste ich davon", sagt er.

 

In Duisburg etwa kennt man Aggression und Anspruchshaltung von Einzelfällen, wie Geschäftsführer Günter Spikofski sagt. Ansonsten erlebe er, dass die Arbeit der Tafel wertgeschätzt wird. Die Zahl der Helfer steige leicht. Und Volker Geißler von der Tafel in Dortmund sagt: "Bevor ein Mitarbeiter aufgibt, fliegt der Kunde raus".

 

Fast überall ist zu beobachten, dass die Nachfrage bei den Tafeln wächst - auch wegen des Zuzugs aus dem Ausland. Einige Tafeln hätten durch Flüchtlinge 20 bis 30 Prozent mehr Kunden bekommen, heißt es beim Bundesverband. Genaue Zahlen würden aber gerade erst erhoben. (abe)