Ich bin nicht Charlie - ich bin die Revolte

Erstveröffentlicht: 
12.01.2015

„Europa rückt zusammen“ betitelt die Frankfurter Rundschau am 11.Januar einen Bericht über den Massenauflauf von Millionen Menschen in Paris bei der Gedenkkundgebung nach dem Gemetzel in der Redaktion des Satireblattes „Charlie Hebdo“. Die Französ_innen seien „beseelt, ja berauscht von diesem nur noch sehr seltenen Gefühl nationaler Einheit“. Es wird der nationale Schulterschluss gegen den Terror gesucht. Die nationale Generalmobilmachung steht unter dem Banner der französischen Flagge und der EU-Fahne und wird angeführt von den konservativen Standortmanager_innen des EU-Establishments Merkel, Hollande und Rajoy. Fehlt nur noch, dass am Ende auch Le Pen ins Boot geholt wird, um dem Gruselkabinett eine besondere Horrornote zu geben.

 

Während das Attentat auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ seit Tagen die Schlagzeilen füllt und die Massen in Trauerkundgebungen für die Opfer auf die Strasse treibt, war ein anderes Ereignis den Massenmedien bestenfalls eine Randnotiz wert: das Gemetzel an wahrscheinlich Tausenden Menschen in dem nigerianischen Dorf Baga durch die Jihadisten von Boko Haram. Wenn wir heute alle Charlie sein sollen – warum findet es dann fast niemand wert, für die Angehörigen der Opfer in Baga ein ebenso tief empfundenes Mitgefühl auszudrücken?

 

Ich bin nicht Charlie. Aber ich bin Baga. Ich brauche mich nicht meiner moralischen Verpflichtung auf irgendwelche westlichen Werte zu vergewissern, denn für mich ist es ohnehin selbstverständlich, dass Freiheit immer nur die Freiheit des Andersdenkenden ist (Rosa Luxemburg). Aber jenen, die sich heute vehement „für unsere freiheitlichen Werte“ einsetzen und doch nur meinen, als geistige Brandstifter_innen den Hass und das Ressentiment gegen Muslim_innen in der Gesellschaft schüren zu müssen, sei mit Pierre Proudhon entgegengehalten: „Wer immer die Hand auf mich legt, um über mich zu herrschen, ist ein Usurpator und ein Tyrann. Ich erkläre ihn zu meinem Feinde“. Die Barrikade verläuft nicht zwischen Muslim_in und Nicht-Muslim_in, genauso wenig übrigens wie zwischen Migrant_in und Nicht-Migrant_in, Queer und Nicht-Queer usw., sondern zwischen Herrschenden und Beherrschten. Kein Krieg zwischen den Menschen – kein Friede zwischen den Klassen, no war but class war!

 

Exemplarisch hier ein paar Schlaglichter auf Ereignisse der vergangenen Wochen, die weitgehend unbeachtet von den Massenmedien geblieben sind, jedenfalls aber nicht die Aufmerksamkeit erreicht haben, die sie verdienen: In der Türkei stehen die Carsi-Ultras des Fußballklubs von Besiktas Istanbul wegen angeblichen Umsturzplänen vor Gericht – den Veteranen der Gezi-Proteste von 2013 drohen lebenslängliche Haftstrafen. In Südkorea wird eine Partei mit der Begründung verboten, sie stehe vermeintlich dem autoritären Nachbarn im Norden sehr nahe – begleitende Anklagen wegen Hochverrat dürfen natürlich in diesem Zusammenhang auch nicht fehlen. In Spanien bringt die Regierung eine von Kritiker_innen als „Knebelgesetz“ bezeichnete Initiative durch das Parlament, das hohe Geldstrafen für die Teilnahme und das Organisieren von unerwünschten Demonstrationen vorsieht. Parallel dazu führt die spanische Exekutive „Antiterroroperationen“ gegen die anarchistische Bewegung durch und stürmt – von den Krawallmedien begeistert attestiert – soziale Zentren, Szenelokale und besetzte Häuser, um mehrere Menschen zu verhaften. In Guatemala verzögern die Anwälte des greisen Ex-Diktators, der im vergangenen Jahr wegen Völkermord von einem Gericht für schuldig befunden wurde – das Urteil wurde kurz darauf aus formalen Gründen wieder aufgehoben – das Verfahren durch juristische Tricks und Spitzfindigkeiten, um für ihren Mandanten die Straffreiheit, die ihm seit Jahrzehnten zugesichert wurde, weiterhin zu garantieren und ihn nach dem „Modell Pinochet“ vor einer gerechten Strafe zu bewahren. Es ist noch nicht so lange her, da verabschiedete das guatemaltekische Parlament – in voller Übereinstimmung mit der Linie der Regierung – eine Resolution, in der geleugnet wird, dass es im Land überhaupt jemals einen Völkermord gegeben hat und verhöhnen damit die Hunderttausenden Opfer der Diktatur, die in meist namenlosen Massengräbern verscharrt wurden.

 

Angesichts solcher Nachrichten fragt man sich mit Hausverstand: Geht das Ausüben einer Machtposition im bürgerlichen Staat und in der marktkonformen Demokratie immer mehr mit wahnhaften Tendenzen einher? Und: wer schützt uns davor, dass die Bürokrat_innen der Herrschaft völlig austicken? Selbstverständlich geht hier alles mit rechten Dingen vor sich. Wie üblich wurde längst vorgesorgt und die hier gerade beschriebenen Ereignisse, die nur exemplarisch für die Gewalt und den Terror der Herrschenden bleiben können, werden rechtsstaatlich vermutlich mehr oder weniger gedeckt sein. Irgendein verstaubter Paragraph findet sich doch immer in der Mottenkiste des bürgerlichen Gesetzbuches. Also kein Grund zur Beunruhigung, weil ja alles seinen rechtmäßigen Gang geht?

 

Es hat den Anschein, dass von Politiker_innen in der marktkonformen Demokratie ohnehin meist nur mehr erwartet wird, dass sie das nationale Standortmanagement exekutieren und den sozialen Protest und Widerstand zum Schweigen bringen oder „präventiv“ im Keim ersticken. Ziviler Ungehorsam, kritische Einstellungen zu den herrschenden Verhältnissen und Zivilcourage und allgemein jedes Engagement für die eigenen Rechte und die der anderen sind hingegen lästig und stören nur den kapitalistischen Normalbetrieb.

 

Mit bemerkenswerter Offenheit auf den Punkt gebracht hat es der katalanische Innenminister, Felipe Puig: „Es geht darum, dass die Menschen mehr Angst vor dem System haben.“ Die staatlichen Machtapparate sollen demnach also alle Hebel in Bewegung setzen, um den Menschen Angst einzujagen – übrigens das zentrale Merkmal von Terror, denn dieser zielt immer darauf ab, Angst und Schrecken zu verbreiten. Wer Angst hat, denkt eher weniger daran, aktiv für seine Rechte einzutreten und schon gar nicht sich politisch zu organisieren und die herrschenden Verhältnisse in Frage zu stellen. Angst befördert Gehorsam und Konformität. Angst führt zur Generalmobilmachung für die Herrschenden, dem Schulterschluss zwischen Herrschenden und Beherrschten. Und auf der Grundlage dieses Schulterschlusses werden – das zeigen die üblichen „Debatten“ nach solchen Attentaten wie auf „Charlie Hebdo“ – die Gesetze und Maßnahmen für Repression und Überwachung erweitert und der autoritäre Polizei- und Spitzelstaat wird fröhlich ausgebaut. Manchen Extremist_innen geht sogar das nicht weit genug und sie fordern wie Le Pen die Eskalation der Gewalt durch die Wiedereinführung der Todesstrafe. Dies alles geschieht de facto ohne den verdienten Aufschrei in der Gesellschaft. Die Kritik daran wird den „kleinen radikalen Minderheiten“ und den „üblichen Verdächtigen“ aus der Linken und dem „Gutmenschentun“ überlassen. Aber auf die hört in der Gesellschaft ohnehin kaum wer.

 

Die Frankfurter Rundschau nennt die Trauerkundgebungen für „Charlie Hebdo“ in Paris eine „Revolte gegen den Terror“. Zwar erscheint diese Einschätzung eher zynisch und heuchlerisch angesichts der Beteiligung des EU-Establishments an dieser „Revolte“. So marschierte in Paris auch der konservative spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy ganz vorne weg, dessen Regierung gerade erst das an Zeiten des Diktators Franco erinnernde „Knebelgesetz“ gegen Regierungskritiker_innen beschlossen hat. Trotzdem bemerkenswert ist, dass es tatsächlich eine Revolte gegen den Terror braucht. Auf welcher Seite der Barrikade stehst du?