Die Stunde der Stalinisten

Erstveröffentlicht: 
08.08.2014

Russland verstaatlicht Gulag-Museum Die Stunde der Stalinisten Die Gründer des Museums Perm-36 machten das ehemalige Straflager zum Mahnmal für die sowjetischen Verbrechen. Es sollte die jungen Generationen gegen den totalitären Wahnsinn impfen. Aber Putin will keinen Ort der Erinnerung in dieser Form.

 

Tatjana Kursina war in der Sowjetunion ein glücklicher Mensch. «Ich dachte, ich und meine Kinder lebten in einem wunderbaren Land», erzählt die 64-jährige Historikerin in einem Telefongespräch. Kleine Zweifel gab es zwar. Nikita Chruschtschews Geheimrede über den stalinistischen Terror auf dem 20. Parteitag 1956 war in Bruchstücken durchgesickert. Aber erst die Perestroika entlarvte die Propaganda und stellte das heile Weltbild der gewissenhaften Akademikerin auf den Kopf: «Ich merkte, dass mein bisheriges historisches Wissen nichts wert war.»

 

Exkursion ins Straflager

 

Gorbatschews Politik der Öffnung lockerte die Zungen der Zeitzeugen und löste an den Universitäten kontroverse Diskussionen aus. In Perm – einem über Jahrzehnte abgeschotteten Zentrum der sowjetischen Rüstungsindustrie am westlichen Fusse des Urals – organisierten Professoren und Studenten 1992 eine Exkursion zum ehemaligen Straflager WS-389/36. Auch Kursina reiste mit. Die Geschichtsdozentin wollte das Straflager, das sie zunächst für ein Schauermärchen hielt, mit eigenen Augen sehen. Als sie im Niemandsland gut 100 Kilometer östlich von Perm über das Gelände mit den zerfallenden Baracken lief, wurde ihr klar: «Das Straflager gab's, und zwar ganz nah.» Wie konnten diese Verbrechen passieren? Wozu dienten diese Lager? Wie hätte sich das alles verhindern lassen? Unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf.

 

Das Schweigen der Eltern

 

Fragen, die sie jetzt auch ihren Eltern stellte. Diese hatten ihr gegenüber nie ein Sterbenswörtchen von den Verbrechen des Sowjetstaats gegen die eigene Bevölkerung erwähnt. Nun erst erfuhr Kursina von der Mutter, dass ihr Grossvater – ein relativ wohlhabender Bauer – in den dreissiger Jahren enteignet, deportiert und mit seiner Familie irgendwo in den russischen Weiten ausgesetzt worden war. Der Grossvater fand Stalins Kollektivierung der Landwirtschaft keine gute Idee, dafür musste er bezahlen. Seine Kinder schwiegen das Verbrechen tot. «Zu gross war die Angst. Eine Angst, die vermutlich bis heute in uns weiterlebt», erzählt Kursina.

 

Nach der Beichte der Mutter wollte die Historikerin die Erinnerung an die sowjetischen Verbrechen und ihre bis zu 20 Millionen Todesopfer beleben. Sie half der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, der viele ehemalige Lagerhäftlinge und Dissidenten angehörten, die Baracken, Zellen und Wachtürme von «Perm-36» zu restaurieren und in ein Museum umzuwandeln. In zwanzig Jahren intensiver Arbeit – zunächst als Freiwillige, zuletzt als Direktorin – entstand ein einzigartiges Mahnmal sämtlicher Epochen der sowjetischen Unterdrückung. Viele stalinistische Arbeitslager wurden nach dem Tod des «Generalissimus» 1953 geschlossen und abgebrochen. «Perm-36» indes diente den Sowjets bis 1987 als Gefängnis für «besonders gefährliche Staatsverbrecher und Wiederholungstäter». Das Lager überlebte quasi als letzte Metastase des Archipels Gulag. Aber auch diesen vereinsamten, hartnäckigen Schandfleck mag der Kreml nun nicht mehr sehen.

 

«Liberaler Hexensabbat»

 

Im vergangenen Sommer erfolgte der erste Genickschlag. Das Gulag-Museum musste das Festival «Pilorama» absagen, weil die Gebietsverwaltung kurzfristig ihre finanzielle Unterstützung dafür um die Hälfte gekürzt hatte. Das Festival hatte mit Konzerten und politischen Diskussionsrunden jedes Jahr mehrere tausend Besucher aus dem In- und Ausland angelockt.

 

Nach bester sowjetischer Tradition war kurz zuvor eine Hetzkampagne gegen die Museumsleitung und das Festival losgetreten worden. Die reaktionäre Bewegung «Das Wesen der Zeit» des Politologen Sergei Kurginjan forderte in einem Brief an die Behörden in Perm, das Sommerfestival abzusagen. Die Veranstaltung habe zum Ziel, die politische Situation in Russland zu destabilisieren. Ähnlich wie Wladimir Putin begreift auch Kurginjan den Zerfall der Sowjetunion als persönliche Tragödie. Auf der Website seiner Bewegung wird das Festival des Gulag-Museums als «liberaler Hexensabbat» bezeichnet, dessen Organisatoren einen «fundamentalistischen Antisowjetismus» betrieben.

 

Rückkehr der Henker

 

Seit dem vergangenen Sommer ist die Hetzkampagne nicht mehr abgeklungen. Die Behörden in Perm, aber auch in Moskau würden mit Denunzierungsschreiben überhäuft, klagt Kursina. Bei den Autoren handle es sich meist um ehemalige Mitarbeiter des sowjetischen Unterdrückungsapparats – Gefängnisaufseher, Staatsanwälte, Richter. Ihre Zahl ist heute wesentlich grösser als jene der einstigen politischen Gefangenen. Nach dem Untergang der Sowjetunion hätten sie auf ihren Moment gewartet, und jetzt seien sie erwacht: «Sie wollen auch stolz auf ihr Leben sein.»

 

Die Kreml-Propaganda bietet den früheren Henkern heute gerne eine Plattform. Zwei ehemalige Wächter tauchten kürzlich als Zeitzeugen in einem Dokumentarfilm des staatlich kontrollierten Fernsehsenders NTW über «Perm-36» auf. «Ich war hier, als die letzten elf Gefangenen freigelassen wurden. Alle waren Spione, alle reisten in den Westen aus», erzählt ein ehemaliger Aufseher. Der Film mit dem Titel «Die fünfte Kolonne» verunglimpft die russischen Menschenrechtler als von den USA bezahlte Landesverräter. Der neoimperialistische Politologe Waleri Korowin tritt als Experte für Geopolitik auf und erklärt: «Für solche Leute wie Tatjana Kursina gibt es hier keine Heimat.»

 

Vom Staat ausgesperrt

 

Auch der Kulturminister der Region Perm, Igor Gladnew, empört sich im Film über das Konzept und die amerikanischen Spendengelder des Gulag-Museums. «Plötzlich wird uns aufgezwungen, wie wir historische Ereignisse, Personen und Erscheinungen unseres nationalen Charakters zu bewerten haben.» Sein Ministerium hatte dem Museum bereits zu Beginn des Jahres den Geldhahn vollständig zugedreht. Weder Strom, Wasser noch Gehälter konnten rechtzeitig bezahlt werden. Gleichzeitig gründete die regionale Verwaltung eine staatliche Museumsverwaltung und ernannte dafür eine neue Direktorin. Sie dürfe das Gelände von «Perm-36» nur noch nach Voranmeldung beim Kulturministerium betreten, erzählt Tatjana Kursina. Ihre Angestellten müssten gar ein Eintrittsbillett kaufen: «Sie haben die Schlösser ausgewechselt.»

 

Noch ist unklar, was mit den Ausstellungsgegenständen passieren wird. Sie gehören der privaten Museumsgesellschaft. Kursina und ihre Mitstreiter aber glauben nicht mehr daran, dass sich das Museum als Ort der Aufklärung noch retten lässt. Es ist nicht nur den Regionalbehörden, sondern auch dem Kreml ein Dorn im Auge.

 

Das Ende der Träume

 

Unter dem früheren Gouverneur Oleg Tschirkunow galt Perm in Russland als Hauptstadt der Bürgergesellschaft und letzter Hort der Freiheit. Tschirkunow unterstützte neben dem Gulag-Museum auch eine ganze Reihe von kulturellen Projekten, die international für Schlagzeilen sorgten. Perm sollte europäische Kulturhauptstadt werden. Doch nach seiner Rückkehr ins Präsidentenamt 2012 wechselte Wladimir Putin den Gouverneur in Perm aus. Unter der neuen Führung gerieten etliche Projekte unter die Räder. Der neue Kulturminister Gladnew wollte nichts Provokatives mehr: «Der Steuerzahler hat das Recht, den Künstler zu fragen, was er mit seinem Geld tut», erklärte er in einem Interview trocken.

 

«Perm-36» sollte ein Museum von internationalem Rang werden. Eine Stätte des Unesco-Weltkulturerbes, davon träumte Tatjana Kursina. Von einem Museum, das Antworten auf die Greuel des 20. Jahrhunderts liefert und diese in Seminaren und Schulungen weitergibt. Aber diese Vision muss vorerst ein Traum bleiben. «Das Museum wurde vernichtet», konstatiert Kursina. Ihr historisches Wissen ist Putins Russland nichts wert.

 

Christian Weisflog 8.8.2014