Prozess NO TAV

no tav

Wir sind noch da Turin, 28. Februar, 9h, Aula Bunker (Gerichtssaal-Bunker) des Gefängnisses der Vallette. Man wusste, es lag in der Luft, dass es an dem Tag keine ruhige Anhörung im Prozess gegen die 53 NO TAV geben würde. Die Einladung auf den Bewegungsseiten an alle Solidarischen, sich den Angeklagten anzuschliessen um gemeinsam Richtung Baustelle des TAV von Chiomonte zu marschieren, hat, neben den GenossInnen, ein starke Truppe Ordnungskräfte mobilisiert.


Die üblichen Eingangskontrollen beginnen bis alle Plätze vergeben sind. Viele werden draussen warten.

Unterdessen schickt sich das neu gebildete Coordinamento der Angeklagten an, – nach dem sehr guten Ergebnis der Idee des Kampftages am 22.02. (die von der Bewegung aufgenommen wurde) mit der Mobilisierung von über 50 Städten/Ortschaften – ihre Schlacht im Saal zu führen.

Wir müssen lautstark werden. Man muss diesem Verlauf des Prozesses basta sagen, der mit der Staatsanwaltschaft als Regisseurin und einziger Protagonistin einhergeht.

Einer der bedeutendsten Aspekte dieses Kampfes gegen die Bahnlinie Turin-Lyon ist die Einheit der Absichten und der Praxis, die es, jenseits der unterschiedlichen Ideen, Sensibilitäten und politischen Wege, immer gelingt herzustellen. Das ist die grösste Kraft der NO TAV Bewegung. Es gelang ihnen nie uns zu spalten.

Das Coordinamento der Angeklagten macht da keine Ausnahme. Im Gegenteil, gerade die Repression schafft es, die Beziehungen zwischen den Angeklagten noch zu festigen, die sich, unter Überwindung des Politischen, auch immer stärker in freundschaftliche Beziehungen verwandeln.

Folglich leben alle Positionen, mit den entsprechenden Aktionen, in perfekter Harmonie zusammen.

Im inneren Kreis wurde auch die Idee diskutiert alle zusammen, als äusserster Protest, unseren AnwältInnen das Mandat zu entziehen.

Abgesehen davon, dass sich auch die VerteidigerInnen von diesem Prozess nichts erwarten (eigentlich sammeln sie bloss Elemente für die nächsten Instanzen), kam man am Schluss zum Ergebnis, dass ihnen völlig freie Bahn zu lassen und den AnwältInnen sogar die Möglichkeit zu nehmen ihre Einwände zu den Akten zu geben, schlussendlich ein allzu grosses Zugeständnis an die Staatsanwaltschaft wäre.

 

Die Verteidigungsgruppe aus AnwältInnen verschiedener Städte hat bis jetzt einen sehr guten Zusammenhalt und Kampfeswillen bewiesen, mit einer grossen beruflichen Kompetenz, was sie im Saal von Anfang an leidenschaftlich und entschlossen mit einer dauerhaften und intensiven Schlacht gegen die Staatsanwaltschaft umgesetzt haben. Und sicher werden nicht die Angeklagten es sein, die diese gewachsene optimale Beziehung ankratzen werden, die sich bei allen Unterschieden und Besonderheiten der Rollen, zwischen dem legal Team und der NO TAV Bewegung gebildet hat.

Zwei Angeklagte, in Anbetracht, dass ihre Entscheidung nichts kompromittieren werde (schon vorher hatten 4 ihren VertrauensanwältInnen das Mandat entzogen), entscheiden sich jedenfalls zum Mandatenentzug.

Nach dem Namensaufrufen erhebt sich einer von ihnen, verlangt zu sprechen, was gewährt wird:

[...] An diesem Ort glauben wir wirklich, dass es nicht um die Gewalt selbst geht, sondern um die Antwort auf die Gewalt derer, die den TAV (und Folgen) wenn nicht im Guten dann im Bösen aufzwingen wollen […]. Wir betrachten die verschiedenen Formen des Widerstands in bestimmten Phasen als notwendig und glauben, dass die „einseitige“ Verurteilung der Gewalt ein „Betrug“ ist, auch weil man von jenen Tagen nichts kontextualisiert, aber die mehr als 4000 geschossenen CS-Tränengasgranaten und das auch voll „auf den Mann“, die schweren Attacken und Prügeleien gegen die DemonstrantInnen unterstreichen diesen Kontext.

[…] wir stellen fest, dass die Verteidigung praktisch ausgeschaltet, herabgewürdigt, erniedrigt wird und nun fehlen auch die grundlegendsten Prinzipien einer auch nur minimal möglichen Verteidigung.

Folglich, unter erneuter Hochachtung gegenüber unserer AnwältInnen und dem gesamten Verteidigungskollegium, entziehen wir den von uns bei unserer Verhaftung am 26.01.2012 gewählten Verteidigern definitiv (ausser wenn es bei den Parteien und im Gerichtskollegium zu wirklichen Veränderungen kommt) das Mandat. Wie schon vorher von denen gesagt, welche dieselbe Entscheidung getroffen haben: Wenn ihr Pflichtverteidiger einsetzt, erklären wir hier klipp und klar, so werden diese für euch sprechen und niemals für uns.

Jetzt und immer NO TAV! Jetzt und immer Widerstand!“

Während der Vorlesung versuchten die Stawas mehrmals zu unterbrechen, die Angeklagten und das Publikum hiessen sie aber das Maul zu halten.

Der Richter ist ratlos, als ein Verteidiger ihm mitteilt, ein weiterer Angeklagter müsse eine Erklärung machen. Die Stawas begehren wieder auf, aber werden von den Angeklagten und dem Publikum wieder zurecht gewiesen. Die Lesung beginnt.

 

Dieser Prozess hat sich von Anfang an nicht als etwas herausgestellt, wo Tatsachen und eventuelle Verantwortlichkeiten festgestellt werden sollen, sondern als eine Einbahnstrasse, die der Turiner Staatsanwaltschaft, unter totaler Abwesenheit unvoreingenommener Schiedsrichter.

Allein die Wahl dieses Saales – Wahl, die mehrmals durch den Vorwand fehlender Säle für Maxiprozesse gerechtfertigt wurde, was sich schlussendlich als das entschleiert hat, was es ist, nämlich eine bewusste politische Entscheidung – ist Beweis genug. Die schwere Militarisierung des Saales, die penetranten Eingangskontrollen und Leibesvisitationen, die Aufzeichnung (und Duplikation) der Ausweise des anwesenden Publikums sind einzig und allein Mittelchen zur Herstellung eines Klimas der Gemeingefährlichkeit um die NO TAV Bewegung, zur Konditionierung der öffentlichen Meinung über die Legitimität von immer schärferen Massnahmen. Kein Zufall, dass von den üblichen Anklagen wegen Widerstand auf die des Terrorismus übergegangen wurde.

Die Zulassung als Zivilkläger von sage und schreibe drei Ministerien – Inneres, Verteidigung und Wirtschaft – was es bisher nie gegeben hat bei einfachen Vergehen wie Widerstand und einfache Körperverletzung, ist der Beweis wie dieses Klima, das von der Turiner Staatsanwaltschaft künstlich hergestellt und aufgebauscht wird, vom Gericht legitimiert und von den verschiedenen TAV-Regierungen abgesegnet wird. Hingegen ist die Nichtzulassung, als Zeugen der Verteidigung, der NO TAV Techniker der x-te Beleg für die Absicht den Prozess auf schon festgelegte Bahnen zu führen und die Geschehnisse des 27. Juni und des 3. Juli 2011 so darzustellen, dass sie völlig ausserhalb des realen Zusammenhangs stehen, ohne den geringsten Versuch, die Motivationen und Gründe der Angeklagten zu verstehen.

Allein wie die Rechte der Verteidigung geregelt und beschränkt wurden – die wiederholte Ablehnung jeglicher Einwände, die Unmöglichkeit, die Namen der Anführer der Ordnungskräfte in jenen Tagen, wegen denen wir angeklagt sind, zu kennen (die man folglich nicht zitieren kann), die Unmöglichkeit zur Gegenbefragung der Zeugen der Anklage über Argumente, zu denen sie von den Stawas nicht schon befragt wurden, die Unmöglichkeit, die Zuverlässigkeit der Zeugen im Falle von Beamten zu prüfen, die verschiedene Dienstrapporte unter Verwendung der genau gleichen Sätze geschrieben haben – belegen uns wie weitgehend schon alles entschieden wurde und der Prozess nur noch eine notwendige Formalität darstellt.

Auch die Hast, mit der man zum Urteil kommen möchte, der vom Gericht erzwungene Rhythmus – mit äusserst anstrengenden Anhörungen, die etliche Stunden dauern, mit bloss kurzen Mittagspausen, die erst nach dem einstimmigen Protest der VerteidigerInnen wöchentlich stattfinden, die sich weigerten 2mal wöchentlich zu akzeptieren - stellt eine schwerwiegende Behinderung der Ausübung unseres Rechts, der Verteidigung dar. Das wiederholte Verbot des Gerichts zur Anhörung der Angeklagten unter Befehl an die Carabinieri sie rauszuwerfen – sind der offene Beweis, wie sehr die Angeklagten nicht als Mitakteure des Prozesses sondern bloss als Komparsen betrachtet werden, unverzichtbar zwar aber rechtlos und nur zur Weiterführung der Vorstellung nützlich.

Aus diesen Gründen sind wir zu dem Schluss gekommen, das alle noch so vorbildlichen Anstrengungen unserer VerteidigerInnen jedenfalls und immer vom feindseligen Klima, das man in diesem Saal atmet, annulliert werden.

Wir dachten, dass die Methode, mit der die Turiner Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen gegen die NO TAV Bewegung betreibt, durch unsere AnwältInnen im Prozess frei in Frage gestellt werden könne.

Wir dachten, wir würden wegen angeblichen Verbrechen prozessiert, aber – im Verlauf des Prozesses – haben wir gemerkt, dass uns nicht dafür der Prozess gemacht wird, was wir vielleicht getan haben, sondern für das was wir sind.

Wir erwarteten einen normalen Prozess vor einem normalen Gericht, aber erscheint uns – als NO TAV -, dass wir einem Verfahren unterzogen werden, das sich immer mehr als Sonderverfahren entpuppt.“

 

Die Stawas protestieren beharrlich und der Richter entsendet die Carabinieri um die Lesung zu stoppen. Die Angeklagten drängen sich dicht zusammen um den lesenden Genossen und auch die Carabinieri wissen nun überhaupt nicht mehr was sie tun oder lassen sollen. Der Saal ist voller JournalistInnen und sie können ihrer üblichen „Zuvorkommenheit“ nicht freien Lauf lassen. Der Abschluss wird von den Angeklagten im Chor gelesen:

Aus diesen Gründen haben wir entschieden diesen Prozess heute zu desertieren.

Wir verlassen diesen Saal und lassen euch freie Bahn um die neuen Methoden zu testen, gegen die NO TAV Bewegung vorzugehen und gehen in die Val Clarea, symbolischer Ort unseres Widerstandes gegen die Zerstörung der Val Susa, um einmal mehr unsere Entschlossenheit und Hingabe in diesem Kampf zu bezeugen“.

 

Wir gehen nach draussen und schreien mit dem Publikum „Hände weg von der Val Susa“, „Chiara Claudio Niccoló Mattia liberi“ und „Terrorist ist der Staat“.

Dann gehen alle Richtung Tal bzw. Gaglione, Treff um 12h, wo wir uns mit weiteren Solidarischen vereinen um dann im Umzug Richtung Baustelle zu laufen.

Wir sind etwa 300. Der Arbeitstag und die knappe Aufrufzeit um die Initiative öffentlich zu machen, erlauben uns nicht mehr zu sein. Wir erwarteten auch keine Riesenteilnahme. Die Demo war nicht angesagt sondern nur ein Protest gegen das Gericht von Turin.

Bei der Brücke der Clarea sind schon Unmengen an Antiriotbullen aufgestellt. Die erste Reihe mit dem Transparent, das die Befreiung der 4 wegen Terrorismus angeklagten GenossInnen fordert, kommt mit den Schildern in Kontakt. Die Parolen beginnen. Die Spannung ist mit Händen zu greifen. Man wird ihnen gesagt haben, es kämen die bösesten No TAV, die prozessiert werden, weil sie 200 Beamte verletzt hätten. Ein Junge bringt einen Aufkleber auf ein Schild an und sofort hagelt es Knüppelhiebe. Wir sind alle weder vermummt noch mit Selbstverteidigungsmitteln ausgerüstet. Trotzdem hält die erste Reihe dem Angriff stand und der Umzug weicht nicht zurück. Zwei Genossen und zwei Genossinnen werden leicht verletzt. Wir gehen nach einer halben Stunden, aber „wir entscheiden wann“.

So endet ein Kampftag intensiver Bedeutung.

 

Wir werden die Repression nicht wie Lämmer erleiden, die zum Schlachthof geführt werden, sondern werden den Kopf auch in den Gerichtsälen erheben.

Die Tagesschauen und die Turiner Zeitungen berichten gross über dieses Ereignis. „Repubblica“ (ein komplett den TAV-Lobbies unterworfenes Blatt) berichtet, dass die von der Staatsanwaltschaft mit Verfahren überhäufte oder angezeigte NO TAV nun schon tausend seien. Beunruhigend, da es gemäss der Daten des Coordinamento der Angeklagten heute um etwa 600 Angeklagte in verschiedenen Prozessen geht (bzw. etwa 400 Menschen, da einige in verschiedenen Verfahren gleichzeitig auftauchen).

In diesen Tagen werden die Anklagen wegen der Strassenblockaden nach dem Fall Lucas vom Strommasten erwartet. Offensichtlich wollen sie die Zahl um 400 weitere Angeklagte erhöhen.

Das Duo der entzürnten Stawa-Bluthunde Padalino und Rainaudo, die Erben von Caselli, arbeitet Vollzeit gegen die Bewegung. Die kürzliche Anklage des Schriftstellers Erri De Luca wegen Anstiftung zum Verbrechen , weil er öffentlich erklärt hat, die Bewegung habe das Recht auch mit Sabotage Widerstand zu leisten, ist nicht nur ganz klar ein Angriff auf die Meinungsfreiheit (wogegen alle nicht regimetreuen Kulturschaffenden rebellieren sollten) sondern auch Beleg, wie man die Bewegung isolieren möchte, indem auch SchriftstellerInnen und KünstlerInnen terrorisiert werden, die ihr wohlgesonnen sind.

Die in Turin laufende Partie, mit den Anklagen wegen Terrorismus, geht nun weit über den Kampf gegen die Hochgeschwindigkeit hinaus. Was die Staatsanwaltschaft Turin im Begriff ist zu testen („experimentelle Magistratur“, wie sie derselbe De Luca definiert hat), ist, jede Form von Dissens als terroristisch zu kriminalisieren. Was nun auf dem Spiel steht, ist die Freiheit aller.

Auf das der Aufschrei des Protestes auf allen Strassen Italiens des 22.02. immer lauter werde, bis er sie begräbt.

Padalino & Rainaudo, 600 Angeklagte und wir sind immer noch da.“


Tobias


Aus der italienischen A-Zeitung „Umanitá Nova“, 9.März 2014