Europäisches Sozialforum in Istanbul

Innenhof des Universitätsgebäudes in Istanbul

Das alle zwei Jahre stattfindende Europäische Sozialforum (ESF) ist quasi die Regionalausgabe des Weltsozialforums. Ins Leben gerufen wurde die Großveranstaltung von Globalisierungskritikern, die für globale Gerechtigkeit, die Rechte der Lohnabhängigen und für nachhaltiges Wirtschaften eintreten. 2002 fand das erste ESF im italienischen Florenz statt, damals waren waren rund 40.000 Menschen angereist. Es folgten Sozialforen in Paris, London, Athen und Malmö. Bisher musste kein ESF mit so wenig Geld auskommen wie das sechste Europäische Sozialforum in Istanbul, das am 1.Juli begann und am 4.Juli endete.

 

In mehr als 300 Veranstaltungen, Seminaren und Workshops diskutierten rund 7000 Menschen aus aus 39 Ländern über Perspektiven des Widerstands gegen Sozialabbau in der EU,  Bildung, Arbeitskämpfe, Schuldenkrise u.v.m..


Vier Tage lang wurde in Istanbuls Technischer Universität über Gewerkschaftsrechte und die Lage im türkischen Teil Kurdistans diskutiert, über die Kriege in Afghanistan, im Irak und in Tschetschenien, über europäische Tarifpolitik, linke Medien, Bildungspolitik, Wasserprivatisierung, die Verteidigung der öffentlichen Dienstleistungen und nicht zuletzt über die Lage in Palästina. Gleich auf sechs Veranstaltungen verurteilten Vertreter der Kommunistischen Partei des Libanons, der Volksfront zur Befreiung Palästinas sowie anderer linken Organisationen zusammen mit türkischen Solidaritätsgruppen die Politik Israels und der USA. Auf der Demonstration zum Abschluss des Forums wehten viele palästinensischen Fahnen neben den roten diverser kommunistischer Organisationen und den schwarz-türkisen Bannern eines ansehnlichen Blocks türkischer Anarchisten.


Gleich zwei Seminare beschäftigten sich mit den Schwarzen Listen und so beschlossen die VeranstalterInnen, die Peoples Front und das Network for Political und Social Rights, kuzerhand die Seminare zusammenzulegen. Remzi Ucucu von der Peoples Front betonte, dass zwei Drittel der Gesamtbevölkerung heutzutage unter dem ausbeuterischen Bedingungen des Imperialismus leiden. Er nannte die tausenden Toten des USA Krieges gegen die irakische Bevölkerung. Schon 1992 hatten die USA die ersten Schwarzen Listen veröffentlicht. "Für diejenigen, die das eigentliche Wesen des bürgerlichen Rechtsverständnisses nicht durchschauten, war es eine verwirrende Situation. Wie auch immer,  der Imperialismus musste Schritte unternehmen, um die Profite zu sichern und dafür eine legale  Basis herstellen" so  Remzi Ucucu. Die größte Gefahr für die Interessen der USA seien die linken Revolutionäre in aller Welt. Also befinden sich an der Spitze der Schwarzen Listen die revolutionären Linken.


Wie die Konsequenzen in Europa aussehen, beschrieben Iratraxe Urizar aus dem Baskenland, Loukia Kotronaki aus Griechenland und ein Mitglied des europäischen Tayad. Das baskische Gefangenen - Kollektiv umfasst ca. 750 politische Gefangene der baskischen Befreiungsbewegung. Der inzwischen 51-jährige baskische politische Gefangene Jose Mari Sagardui, genannt Gatza, hat mehr Zeit seines Lebens im Gefängnis verbracht als in Freiheit. Heute sind es 30 Jahre. Er ist damit der am längsten inhaftierte politische Gefangene Europas. Seit 30 Jahren fordern die Bürgerinnen und Bürger in Zornotza, seinem baskischen Heimatort und an anderen Orten des Baskenlands in Kundgebungen, Aktionen und Resolutionen seine Freilassung.


Und so berichtete Iratraxe Urizar:  Baskische Anwältinnen und Anwälte sehen in einem internen Dokument der spanischen Guardia Civil einen weiteren Beweis für illegale Verhöre und für die Existenz spezieller Verhör-Einheiten für die berüchtigte Incommunicado-Haft, in der sich eine verhaftete Person über Tage hinweg in völliger Isolation und schutzlos in den Händen der Polizei befindet. Aus ihrer Erfahrung der Verteidigung hunderter Opfer der Incommunicado-Haft erklären die baskischen Anwältinnen und Anwälte, dass sie nicht daran glauben, dass es sich bei diesem Polizeidokument um einen Einzelfall handelt. 


Das jüngste Beispiel ist die Verurteilung dreier junger Basken, Igor Portu, Mattin Sarasola und Mikel San Sebastian, Anfang Mai 2010 zu 1040 Jahren Gefängnis. Sie sollen es gewesen sein, die im Januar 2006 den Anschlag der ETA auf den Flughafen Barajas in Madrid durchführten.


Igor Portu  wurde zusammen mit Mattin Sarasola im Januar 2008 im Baskenland verhaftet und in Incommunicado-Haft genommen. Einen Tag nach seiner Verhaftung wurde er mit schwersten Verletzungen auf die Intensivstation des Krankenhauses in Donostia (span: San Sebastian) eingeliefert. Die Guardia Civil behauptete, die schweren Verletzungen seien nicht die Folge von Misshandlungen, sondern hätten sich vielmehr durch den Widerstand während der Verhaftung ergeben. Die vielen Stunden, die zwischen Verhaftung und Einlieferung ins Krankenhaus vergangen waren, konnte die Polizei nicht erklären.


Loukia Kotronaki aus Griechenland nannte Beispiele von Verhaftungen griechischer AnarchistInnen in Athen  unter dem Vorwurf des “Terrorismus”. Erst Ende September des letzten Jahres wurde ein Repressionschlag durchgeführt gegen vermeintliche MitgliederInnen der Stadtguerilla “Conspiracy of Cells of Fire”, wo noch drei Personen in Untersuchungshaft sitzen und mit weiteren, die unter Auflagen entlassen wurden, auf den Prozess warten. Anfang März diesen Jahres wurde der Anarchist Lambros Foundas in Athen von Bullen auf der Strasse erschossen, als er angeblich ein Auto klauen wollte.


Tayad Europa schilderte die Situation in Deutschland. Seit 11. März 2010 läuft vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf ein Prozess gegen die linken Aktivisten Nurhan Erdem, Cengiz Oban und Ahmet Istanbullu - sie befinden sich seit fast 20 Monaten in Isolationshaft und werden mit einer rechtlich umstrittenen Anklage verfolgt. Ihnen werden vermeintliche Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) vorgeworfen, im Zusammenhang mit vermeintlicher Mitgliedschaft in einer auf der schwarzen Liste der EU gelisteten Organisation (§ 129b StGB). Nurhan Erdem, Cengiz Oban und Ahmet Istanbulu stehen im Prinzip vor dem 6. Staatsschutzsenat von Richter Breidling, weil sie sich gegen die Benachteiligung der türkischsprachigen Migrantinnen und Migranten in Deutschland eingesetzt und die Machenschaften des parlamentarisch-demokratischen Folterstaats Türkei publik gemacht haben. Im Vorfeld der Verhaftung überwachte das BKA Nurhan Erdem rund um die Uhr und dokumentierte alle Einzelheiten ihres Lebens, die ihr nun zur Last gelegt werden. Im Gerichtssaal verlesen werden erspitzelte Informationen über Aktivitäten wie das Vorbereiten großer Konzerte in Berlin, Hamburg und weiteren Städten. Dazu gehörten das Abhalten von Pressekonferenzen, Drucken von Karten und Poster für die Konzerte, Organisieren der Unterkünfte für die Künstler etc. Außerdem gibt es in den "Beweismitteln" des BKA E-Mails, Schriftverkehr und aufgezeichnete Telefonate von Nurhan Erdem. Alles und jede(r) ist erfasst. Gesondert vermerkt ist beispielsweise in dem Protokoll zu einem Konzert, dass ein Lied der italienischen Widerstandsbewegung gegen den Faschismus gesungen wurde,  "Bella ciao". Andere Protokolle schildern, wie Nurhan, Cengiz und Ahmet die Versorgung bei Konzerten mit Döner sicher stellten.


Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat Anfang letzter Woche entschieden, dass die Mehrzahl der strafrechtlich relevanten Vorwürfe hinfällig sind. Das OLG Düsseldorf lehnt dennoch weiterhin eine sofortige Entlassung von Nurhan Erdem, Cengiz Oban und Ahmet Istanbullu ab.


Der Prozess gegen Faruk Ereren in Düsseldorf: Seit drei Jahren dauert der Prozess gegen Faruk Ereren an. Da seine Ankläger weder Zeugen noch Beweise für ihre Beschuldigungen vorweisen können, bot man Faruk Ereren vor einigen Monaten die Freilassung unter Berücksichtigung seiner bis dahin in Haft verbrachten Zeit an. Im Gegenzug sollte er ein Schuldeingeständnis liefern. Faruk Ereren aber lehnte den Deal ab, mit der Begründung, dass der Kampf gegen den Faschismus keine Straftat darstellt und nicht verurteilt werden kann. Das Gericht bedroht ihn nunmehr mit der Auslieferung an die Türkei.


Der Stammheim-Prozess nähert sich dem Ende: In diesem Gerichtsverfahren werden zwei Demokraten aus der Türkei angeklagt. Hauptfigur dieses Prozesses ist ein Spitzel des türkischen Geheimdienstes MIT, der erwiesenermaßen mit einem türkischen Konsulat zusammenarbeitet und auch von den deutschen Sicherheitsbehörden als Spion benutzt wird. Der letzte Aspekt führt dazu, dass die Aussagen des psychologisch gestörten Spitzels vor Gericht verwendet werden können.


In einem weiteren Seminar erzählte der Anwalt Behic Asci vom Kampf der türkischen Gefangenen gegen die Isolationsfolter. "Die Isolationspolitik ist ein Angriff, mit dem Ziel, die gesellschaftliche Opposition einzuschüchtern und zu schwächen. Sie beinhaltet die Drohung: Wenn du dich gegen mich auflehnst, dann werde ich dich in den F-Typ Gefängnissen schmoren lassen. Wir wollten diese Drohung unwirksam machen und die gesellschaftliche Opposition stärken. Dies konnten wir erreichen, indem wir uns gegen die Isolation stellten."  Anwalt Behic Asci von Tayad nahm selbst aktiv am Kampf gegen die Isolation teil, indem er sich dem Todesfasten-Widerstand anschloss.


Er stellte fest, Gefängnisse seien immer ein Indikator wie es in einem Land um Menschenrechte und Demokratie stehe. Wenn die politische Macht der Türkei Stillschweigen über Folter bewahre, könne nicht davon die Rede sein, dass diese politsche Macht im Land die Menschenrechte respektiere. Mit Absicht werde versucht, die Revolutionäre und ihre politische Identität zu zerstören. Er erinnerte an die Massaker in 20 türkischen Gefängnissen, die am 19 Dezember 2000 um 5 Uhr morgens begannen und bei denen die türkischen Sicherheitskräfte 20 000 Bomben auf wehrlose eingesperrte Gefangene warfen. Wehrlose Gefangene verbrannten bei lebendigem Leib.


Anwalt Behic Asci hält Widerstand gegen den Imperialismus dennoch für möglich und erinnerte an zahlreiche Beispiele aus der Geschichte.


Viele Hoffnungen ruhen dabei auf dem 29. September, für den zahlreiche Gewerkschaften zu europaweiten Protesten aufgerufen haben. In seiner Abschlusserklärung schloss sich das Sozialforum diesem Aufruf der Gewerkschaften an.